DORIS SENN

ACCORDION TRIBE (STEFAN SCHWIETERT)

SELECTION CINEMA

Sein Klang beinhaltet das Glimmern finnischer Eislandschaft und die grünen Hügel Sloweniens. Er evoziert die Schneegischt, die über die verschneiten Felder Uppsalas streicht, und die nüchterne Skyline New Yorks. Er steht für die Melancholie des Nordens und die Lebensfreude des Südens. Das Akkordeon hat viele Klangfacetten. Vor allem in der Hand der fünf Musikerpersönlichkeiten, die als Accordion Tribe auftreten. Dieser ungewöhnlichen Band widmet Stefan Schwietert, der sich bereits einen Namen als Musikfilmer gemacht hat (A Tickle in the Heart, 1996; El acordeón del diablo, 2000; Das Alphorn, 2003), sein jüngstes Werk.

Die Idee, fünf Akkordeons zusammenspielen zu lassen, hatte Guy Klucevsek. Er stammt aus Pennsylvania, hat slowenische Wurzeln und lebt in New York. Am Ursprung der Idee steht eine Kindheitserinnerung: die grossen Akkordeon-Schulorchester, die Beethovens Fünfte oder sonst ein Meisterwerk spielten. Diesen mitunter schrillen Klang wollte Klucevsek neu kreieren und suchte dafür die geeigneten Mitspieler: Er fand vier Solisten-Komponisten aus je unterschiedlichen Sparten – Jazz, Folklore, Avantgarde oder Klassik – und Ländern. Allen ist eigen, dass sie die Musik des als «volkstümlich» verpönten Instruments gegen den Strich bürsten – auch wenn für alle die Volksmusik der musikalische Nährboden bleibt.

Konzertmitschnitte, Tourneesequenzen und Bilder von der heimatlichen Landschaft der Bandmitglieder fliessen nahtlos ineinander. Eine unprätentiöse Kamera (Wolfgang Lehner), die bei den Konzerten vor allem auf Nahund Grossaufnahmen setzt und bei atmosphärischen Aufnahmen immer wieder mit schönen Lichteffekten überrascht, überlässt die filmische Bühne der Musik und den Musikern. Das sind der Schwede Lars Hollmer, der von sich sagt, ein «romantic bastard» zu sein; Guy Klucevsek, der den Minimalismus mit slowenischer Tanzmusik verbindet; Maria Kalaniemi, die – ganz Finnin – nicht nur über den Balg ihres Akkordeons atmet, sondern auch über das Instrument ihren Gefühlshaushalt in Balance hält – sowie der slowenische Bratko Bibic, der die andern mit seiner Übungsmanie auch schon mal nervt, und als feinsinniger «Beobachter» und pointierter Kommentator der Wiener Otto Lechner. Er ist ein virtuoser Jazzer und hält dem in dieser Sparte ungewöhnlichen Instrument zugute, dass es «selbst die schrägsten Sachen herzlich und zahm macht». Für Otto, der blind ist, bedeutet die Bühne das Zuhause und der Alltag das Abenteuer. Umso mehr schätzt er das kreative Zusammenspiel der Accordion Tribe, das der Liveperformance wieder etwas «Dschungelatmosphäre» verleiht.

Es sind charismatische Figuren, die sich für dieses Klangexperiment zusammengefunden haben und die im Film auch auf eine aussergewöhnlich persönliche Weise rüberkommen. Lange Einstellungen und ein kalibrierter Schnitt (Stephan Krumbiegel) bieten der Musik genug Raum, um sich zu entfalten und uns als ZuhörerInnen nicht nur das Zusammenspiel, sondern auch die jeweiligen individuellen Stile würdigen zu lassen – ein Genuss, der Lust auf mehr macht.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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