NATALIE BÖHLER

MELODIAS (FRANÇOIS BOVY)

SELECTION CINEMA

Frühmorgens auf der Terrasse wird Jorge von seiner Grossmutter gerügt, weil er schon das erste Bier des Tages kippt. «Es ist das letzte, Oma», versucht er sie zu besänftigen; da dieser Versöhnungsversuch fehlschlägt, geht er zum nächsten über: Eine feine goldene Halskette stimmt die alte Frau gleich milder. Die Frage, wie denn ihr Enkel zu dem teuren Geschenk gekommen sei, muss sie sich sichtlich verkneifen.

Jorge ist einer von drei Personen, die in Melodias porträtiert werden. Der junge Mann lädt heute Lastwagen ab, früher war er Auftragsmörder. Dario, der Taxichauffeur, erzählt von den täglichen Begegnungen mit kleinkriminellen Fahrgästen. Edwin schliesslich ist Polizist, wie sein Vater, der während eines Einsatzes umgebracht wurde. Rechtskonflikte, Gefahr und Gewalt sind überall und an der Tagesordnung im kolumbianischen Medellin. François Bovy ist nun keineswegs daran gelegen, die Menschen in Opfer und Täter einzuteilen. Vielmehr wechseln sich bei jedem Porträtierten diese Rollen ab und durchdringen sich, lösen einander aus. Die Figurenklischees – der Bulle, der Mörder, der Taxifahrer – und die Schemata von Recht und Unrecht, die auf der Hand liegen würden, werden mehrfach gebrochen. Stattdessen zeichnet der Film Gewalt als ein komplexes System voller Grauzonen.

Diese dokumentarischen Porträts werden immer wieder von inszenierten Szenen unterbrochen: Ein Sängertrio trällert Volkslieder, die oft von Schuld und Sühne handeln; wie ein antiker Chor kommentiert es das Geschehen. Der Blick der Sänger hält Abstand zu den drei Männern, sie sind nicht eingebunden in die Kreisläufe von Gewalt und Gegengewalt, Verzweiflung und Angst. Dies gibt ihnen die Gelassenheit, die Lebensgeschichten der anderen nicht wertend oder analytisch zu betrachten, sondern Lieder zu singen, die die Geschichten ergänzen. Als Ganzes entsteht ein Epos über die Verstrickungen menschlichen Lebens in Fragen von Gut und Böse.

Natalie Böhler
Filmwissenschaftlerin, lebt in Zürich. Mitglied der CINEMA- Redaktion 2002–2007. Promotion zu Nationalismus im zeit- genössischen thailändischen Film. Interessenschwerpunkte: World Cinema, Südostasiatischer Film, Geister im Film.
(Stand: 2021)
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