SIMONA FISCHER

HERR GOLDSTEIN (MICHA LEWINSKY)

SELECTION CINEMA

Micha Lewinsky hat bis jetzt vor allem als Drehbuchautor auf sich aufmerksam gemacht. Für Langfilm hat er Sternenberg geschrieben, den erfolgreichsten Schweizer Spielfilm des Jahres 2004. Ausserdem hat er das Drehbuch für die TV-Produktion Weihnachten (2002) verfasst und als Ko-Autor an Little Girl Blue (2004) und Lago Mio (2005), der mit dem Drehbuchpreis der SSA ausgezeichnet wurde, mitgewirkt. Mit dem Kurzspielfilm Herr Goldstein schuf er nun eine bemerkenswerte Debütarbeit in Eigenregie.

Herr Goldstein (Lukas Ammann), ein 93-jähriger, beinahe blinder Mann, verbringt seine letzten Tage im Altersheim. Er ist stark auf fremde Hilfe angewiesen, was ihm sichtlich widerstrebt. Seine Pflegerin Vera (Johanna Bantzer) bringt ihm die Unterstützung denn auch mit der gleichgültigen Geduld entgegen, die man für alte Menschen übrig hat, die nichts mehr vom Leben zu erwarten haben. Eines Tages erreicht ihn eine Nachricht aus Deutschland. Als Vera ihm den Brief vorliest, scheint die Zeit plötzlich zurückgedreht zu werden. Emmi, seine grosse Jugendliebe und Verfasserin des unerwarteten Schreibens, vermag damit den grauen Alltag dieses Mannes unverhofft und heftig zu durchbrechen. Dennoch kann der Aufgewühlte sich nicht entschliessen zurückzuschreiben. Erst ein Gesangsauftritt Veras am Altersheimfest kann den einstigen Musiker umstimmen. Es vergehen allerdings Wochen, ehe die Antwort eintrifft. Als Vera den Brief öffnet, um ihn dem alten Herrn vorzulesen, versagen ihr die Worte: Statt der lang ersehnten Zeilen Emmis kommt ihre Todesanzeige zum Vorschein. Vera weigert sich kurz entschlossen, Botin der traurigen Nachricht zu sein, und beginnt stattdessen, einen fiktiven Antwortbrief vorzutragen: «Lieber Abi ...».

Überaus sensibel und ebenso humorvoll wird in 17 Minuten die Lebensgeschichte eines alten Mannes beleuchtet, die beinahe ein Jahrhundert überspannt. Augenfällig dabei ist, dass die Geschichte ohne jegliche Rückblenden oder überstrapazierte Dialoge auskommt. Im Gegenteil, die Gespräche zwischen den beiden Figuren beschränken sich auf den nötigen Informationsaustausch, ohne je verknappt zu sein. Vielmehr wird damit die scheue und respektvolle Annäherung zwischen den Figuren augenscheinlich. Die relativ distanziert wirkende Kamera tut ihr Übriges. Die in der Kameraarbeit durch Point-of-View-Shots dennoch eingeführte subjektive Perspektive setzt sich auf der Tonebene fort, wenn Jazzsongs die Vergangenheit des alten Herrn in die Gegenwart holen.

Auffällig in Micha Lewinskys Porträt ist der Erzähltempus: Wenn anfänglich der Alltag von Herrn Goldstein in langsamer Schnittfrequenz erzählt und damit die zähflüssig vergehende Zeit symbolisiert wird, so wechselt die Dramaturgie nach Eintreffen des unvorhergesehenen Briefes in einen stark rhythmisierenden Erzähltempus.

Ein Kleinod von einer Liebesgeschichte – ohne Altersgrenzen und mit bestechender Schauspielleistung!

Simona Fischer
geb. 1972. Studium der Germanistik, Publizistik und der Filmwissenschaft. Arbeitet für das Literaturhaus Zürich und als freie Journalistin in Zürich.
(Stand: 2006)
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