DANIEL DÄUBER

TERRA INCOGNITA (PETER VOLKART)

SELECTION CINEMA

Der Kurzfilm mit dem programmatischen Titel Terra incognita ist die Geschichte von Igor Leschenko aus Siebenbürgen, der dort Anfang des 20. Jahrhunderts in einem physikalischen Institut arbeitet und versucht, das Gesetz der Schwerkraft zu überlisten. In Wissenschaftskreisen als Scharlatan verschrien und von der Akademie der Pataphysiker ausgeschlossen, kann Leschenko seinen ruinierten Ruf nur wiederherstellen, indem er den sagenhaften Antigravitätspunkt jenseits des 75. Breitengrades findet. Eine fantastische Reise zur Insel Nanopol beginnt, auf der er unter anderem dem Miederwarenfabrikant Fischbein begegnet und sich durch Gebiete bewegt, die zuvor kein Mensch je gesehen hat.

Wie die Hauptfigur in Terra incognita fremdes Terrain betritt, bekommt auch das Publikum etwas Ungewohntes geboten. Läuft man im ersten Moment Gefahr, diese aus Zeitdokumenten heraufbeschworene Vita Leschenkos ernst zu nehmen, entpuppt sich das Ganze bald schon als geschickt getarnte Fiktion mit einer spielerischen Freude an skurrilen Verrenkungen und manch augenzwinkerndem Zitat. Forgotten Silver (NZ 1995) von Peter Jackson oder Woody Allens Zelig (USA 1983) kommen einem unweigerlich in den Sinn.

In akribischer Kleinarbeit hat der Künstler Peter Volkart alte Fotos, Filmdokumente, Landkarten usw. aufgespürt und der fiktiven Persönlichkeit des irren Wissenschafters zu eigen gemacht. Leschenko taucht auf dem Foto mit seiner Fussballmannschaft auf oder kurbelt in Afrika während historischer Aufnahmen an einer Filmkamera. Auch andere Filmschnipsel werden für Leschenkos fantastische Welt instrumentalisiert und haben sich durch Volkarts Hand zu einem Ganzen zusammengefügt, als würden sie tatsächlich zusammengehören und mit einem koketten Augenaufschlag die Richtigkeit ihrer Angaben bezeugen.

Der in bäuerlichen Verhältnissen aufgewachsene Peter Volkart entwickelte während eines New-York-Aufenthalts seine persönliche Technik: Fundstücke von Flohmärkten, Brockenhäusern, Kellern und Estrichen ordnete er (fiktiven) Biografien zu und stellte diese «archäologischen Zeugnisse» auch in Museen und Galerien aus. Einen unbestrittenen Geistesverwandten hat Volkart in Raymond Roussel (1877–1933), dem er Terra incognita auch gewidmet hat. Roussel war ein exzentrischer französischer Schriftsteller, «der grösste Magnetisör der Moderne» (André Breton), der sich die Welt seiner Geschichten ebenso imaginierte wie Volkart und damit grossen Einfluss auf die Surrealisten und andere Dichter der Avantgarde ausübte.

Daniel Däuber
*1966, hat in Zürich Filmwissenschaft studiert, unter anderem für die Schweizer Filmzeitschreiften Zoom und Film geschrieben und arbeitet zurzeit als Filmredaktor beim Schweizer Fernsehen.
(Stand: 2011)
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