THOMAS CHRISTEN

SAFETY LAST — BAUSTEINE ZU EINEM KONZEPT DER NARRATIVEN UNSICHERHEIT

ESSAY

Ein Modefotograf (David Hemmings) schiesst in einem Park eine Serie von Schnappschüssen – darunter auch einige von einem Liebespaar. Die betroffene Frau (Vanessa Redgrave) reagiert äusserst heftig auf diesen Übergriff, was die Neugierde des Fotografen nur anstachelt. In seinem Labor entwickelt er die Aufnahmen und vergrössert sie immer stärker, bis er sich schliesslich einer Kriminalgeschichte auf der Spur wähnt. Zunächst glaubt er, einen Mord verhindert zu haben, doch dann «entdeckt» er in einer später gemachten Fotografie auch eine Leiche. Die Überprüfung im nächtlichen Park bestätigt seine Vermutung, doch als er in sein Atelier zurückkehrt, sind die kompromittierenden Fotos verschwunden. Und am nächsten Tag fehlt auch die Leiche im Park. Stattdessen spielt eine Gruppe Jugendlicher einen Tennis-Match mit einem imaginären Ball. Nach anfänglichem Zögern spielt der Fotograf dieses Spiel mit.

Selbst diese grobe Zusammenfassung von Michelangelo Antonionis Blow-Up (GB 1966) macht deutlich, dass der Film am Ende eines nicht liefert: erzählerische Sicherheit. Obwohl Blow-Up keineswegs unrealistische oder deutlich subjektive Passagen enthält, können wir letztlich nicht mit Sicherheit sagen, was im idyllischen Park wirklich geschehen ist. Einerseits verweigert der Film dem Zuschauer das, was bei vielen anderen Filmen, die sich an konventionellen narrativen Mustern orientieren, am Ende feststeht: Die grossen Lücken werden geschlossen, die erzählerische Logik, falls sie temporär verletzt wurde, ist garantiert, ganz allgemein wird ein grosses Mass an Sicherheit und Geschlossenheit angestrebt. Anders verhält es sich mit Blow-Up. Zwar fällt es nicht schwer, die Handlung zu skizzieren, doch die einzelnen Teile ergeben kein schlüssiges, abgerundetes Ganzes, konkurrenzierende Versionen bleiben nebeneinander bestehen. Andererseits rückt Blow-Up andere als erzählerische Elemente derart in den Vordergrund, dass man sich als Zuschauer zu fragen beginnt, ob das Erzählen einer schlüssigen Geschichte das Hauptanliegen des Films ist oder ob dieses eher in der Thematisierung der eigenen Künstlichkeit, der Gemacht- und Konstruiertheit, im Kunsterleben selbst liegt, wie das etwa jene Szenen sicht- und hörbar machen, in denen Bild- und Tonebene subtil auseinanderlaufen.

Erzählerische Unsicherheit, sofern partiell und temporär, stellt durchaus auch ein beliebtes Mittel des konventionellen Kinos dar, um Spannung zu erzeugen, den Zuschauer zu fesseln oder auch um innerhalb von Genrekonventionen eine Weiterentwicklung oder Revision zu signalisieren. Auch eine narrative «Lüge» muss das System von Kausalität und Geschlossenheit, wie es das Mainstream-Kino prägt, keineswegs erschüttern, sondern kann als Machtdemonstration der filmischen Erzählinstanz verstanden werden, den Zuschauer auf eine falsche Fährte zu lenken. Erschüttert wird das System allerdings dann, wenn wir am Ende nicht mehr in der Lage sind zu sagen, welche Version jetzt eigentlich die wahre, wirkliche ist, wenn wir keine Kohärenz mehr herstellen können oder wenn bedeutende Lücken nicht geschlossen, essenzielle Rätsel nicht gelöst, Geheimnisse nicht gelüftet werden. In einem früheren Film von Antonioni, L’avventura (I 1961), gibt es am Ende nicht mehrere Handlungsversionen, sondern das Geheimnis, das fast für den ganzen Film Handlungsmotor war, wird nicht aufgelöst: das Verschwinden von Anna (Lea Massari) während eines Ausflugs zu den Liparischen Inseln. In diesem wie in den anderen Fällen, die ich in meine Überlegungen einbeziehen will, wird die erzählerische Unsicherheit am Ende nicht aufgehoben, sie bleibt bestehen und wird somit zum prägenden Merkmal für diese Art von Filmen und deren Narration.

In einem ersten Schritt werde ich die erzählerische Unsicherheit etwas genauer umschreiben, um sie nicht zuletzt vom Begriff des «unzuverlässigen Erzählens», wie er vor allem in der Literaturwissenschaft seit einiger Zeit diskutiert wird, abzugrenzen. In einem zweiten Schritt werde ich versuchen, Antworten auf jene Fragen zu finden, die sich aus der Feststellung und Theoretisierung des Phänomens «narrative Unsicherheit» unweigerlich ergeben: Weshalb setzen Filmemacher dieses Mittel ein, was erhoffen sie sich davon? Und fast noch wichtiger: Weshalb setzen wir Zuschauer uns solchen Filmen aus? Wie gehen wir mit der erzählerischen Unsicherheit produktiv um? Eröffnen sich damit Interpretations- und Zugangsebenen, die uns konventionelle Formen nicht anbieten können?

Unzuverlässiges und unsicheres Erzählen

In der Literaturtheorie existiert das Konzept des «unzuverlässigen Erzählens» (unreliable narration), das von Wayne Booth 1961 in The Rhetoric of Fiction entwickelt wurde. Mittlerweile gibt es auch Versuche, diese Betrachtungsweise auf das Medium Film zu übertragen. Allerdings stellen sich dabei einige Probleme. Booth geht von einem Erzähler aus, der unzuverlässig sein kann, indem er seine Geschichte subjektiv gefärbt erzählt oder über bestimmte Sachverhalte nicht informiert ist; indem er lügt, um beispielsweise eigene Verstrickungen zu kaschieren oder indem er geistig verwirrt, psychisch krank ist. Was immer auch die Motivation sein mag, wichtig ist festzuhalten, dass diese Betrachtungsweise von einem Erzähler, einer speziellen inhaltlichen Disposition (Widersprüche) und einem ebenso speziellen Verhältnis zwischen Erzähler und Leser1 ausgeht. Es eröffnet sich ein Spannungsfeld, da der Leser dem Erzähler nicht vollumfänglich trauen kann. Eine Übertragung dieses Konzepts auf den Film ist nun insofern schwierig, als es im Film den Erzähler so klar umrissen oft nicht gibt. Vielmehr ist es meist angebracht, von einer Erzählinstanz zu sprechen, die weniger personifizierte und fassbare Züge trägt als in der Literatur. Zudem besitzt der Film als audiovisuelles Medium neben dem eigentlichen Erzählen auch die Möglichkeit des Zeigens und ist so in der Lage, gleichzeitig mehr als eine Erzählinstanz einzusetzen. Jörg Schweinitz2 identifiziert in diesem Umstand (Kopräsenz narrativer Instanzen) und in der Möglichkeit der doppelten Fokalisierung (Gleichzeitigkeit verschiedener «Sichtweisen») die beiden primären Mittel, durch die unzuverlässiges Erzählen entsteht.

Ansgar Nünning, der Booths Konzept einer Revision unterzog und es in einen weiteren narratologischen Zusammenhang stellte, beschreibt die Unzuverlässigkeit als Widerspruch zwischen dem Wertesystem des Textes und dem des Rezipienten. Auch wenn sich diese Erweiterung problemlos auf den Film übertragen liesse, bleibt immer noch das Problem bestehen, dass von einem Werte- und Normensystem ausgegangen wird, das durch die Unzuverlässigkeit verletzt wird. Damit operiert das Konzept mit einer Grösse, die einerseits schwer zu fassen und andererseits (zumindest auf der Seite des Rezipienten) Wandlungen und Veränderungen unterworfen sein kann.

Ich möchte deshalb in der Folge mit dem Begriff «Unsicherheit» operieren, der mir weniger normativ erscheint und sich auch weniger an einem «Erzähler» orientiert. Zudem scheint es mir wichtig, nur jene Fälle zu betrachten, in denen die erzählerische Unsicherheit am Ende des Films nicht aufgehoben wird, sondern weiter besteht. Dies bedeutet, narrative Unsicherheit als dominantes Gestaltungsprinzip zu begreifen, das sich gerade dadurch kennzeichnet, dass sie sich nicht auflösen lässt: Erzählerische Sicherheit ist also nicht herstellbar, auch nicht nach mehrmaliger Sichtung. Diese Einschränkung deutet an, dass vorübergehende narrative Unsicherheit (wie auch Unzuverlässigkeit) durchaus «normal» ist und sich potenziell in jedem Film finden lässt. Die Verknüpfung mit dem Ende des Films und das Insistieren auf der Permanenz lässt dann die Zahl der Beispiele drastisch schrumpfen.

Die Unsicherheit kann auch erst am Ende des Films3 entstehen, wie etwa das Beispiel Swimming Pool (F 2003) von François Ozon zeigt. Die Autorin Sarah (Charlotte Rampling) zieht auf Anraten ihres Verlegers in sein Sommerhaus in der Provence, um ihren Kriminalroman zu beenden. Dort begegnet sie dessen Tochter Julie (Ludivine Sagnier), deren ausschweifenden Lebensstil sie als Modell für ihre schriftstellerische Produktion benutzt. Der Film bewegt sich zunächst in «normalen» und gewohnten Bahnen. Zwar wird das Verhältnis zwischen der jungen, bewusst freizügig lebenden und der älteren, altmodischen und eher verschlossenen Frau bald zu einem Powerplay, zudem zeigt sich eine starke Ebene der Selbstreflexivität, doch erst mit dem Auftauchen einer zweiten Julie am Ende des Films, die sich so ganz anders präsentiert, gerät der Status des vorangegangenen Teils radikal ins Wanken. Wäre es möglich, dass die erste Julie nur eine literarische Erfindung von Sarah und auch die Mordgeschichte nur eine Fiktion in der Fiktion gewesen ist? Was aber geschah dann eigentlich in der Provence? Der Film vermeidet bewusst klare Markierungen, sodass solche Fragen auch im Nachhinein kaum beantwortet werden können. Die letzten Minuten, nur so viel ist klar, stellen den Ablauf des vorangehenden (überwiegenden) Teils des Films in Frage. Einer der ersten Sätze, die Sarah im Film spricht («I’m not the person you think I am»), erhält rückblickend eine Doppeldeutung: «I’m not the film you think I am» könnte man in Bezug auf Ozons Swimming Pool ableiten. The Usual Supects (USA 1995) von Bryan Singer arbeitet ebenfalls nach diesem Muster.

Da die Kollision mit der «unverträglichen» Version erst sehr spät erfolgt und demnach nicht weiter ausgeführt wird, erhält der Zuschauer kaum die Möglichkeit einer genaueren Überprüfung und Analyse. Doch gerade dies dürfte auch nicht die Intention der Regisseure sein. Es geht weniger um die Frage «Was stimmt denn jetzt?» als vielmehr um «Was ist überhaupt geschehen?» und um die Einsicht, dass genau diese Frage nicht beantwortet werden kann und die Widersprüchlichkeit bestehen bleibt.

In einem solchen Zusammenhang muss auch betont werden, dass Filme, die mit dem Prinzip der narrativen Unsicherheit arbeiten, sich dem Erzählen einer Geschichte nicht völlig verweigern dürfen. Filme, in denen nichts oder kaum etwas geschieht, in denen sich keine Handlung entwickelt, sind nicht in der Lage, eine narrative Unsicherheit zu entwickeln. Ansätze von Handlungen, Ansätze von Kausalitäten, Ansätze von Entwicklungen müssen vorhanden sein. Das Beispiel von Blow-Up zeigt dies besonders deutlich, da der Film leicht als Plot eines Krimis denkbar wäre: Ein Fotograf hält, ohne es zunächst zu wissen, Szenen eines Verbrechens mit seiner Kamera fest und löst damit den Mordfall. Allerdings wird bei einem solchen Denkspiel auch deutlich, welche Bedeutungsebenen damit verloren gehen. Narrative Unsicherheit führt in der Regel auch zu einer offenen Struktur, wobei allerdings nicht jede offene Struktur auf die erzählerische Unsicherheit zurückzuführen ist.

Möglichkeiten und Funktion der erzählerischen Unsicherheit

Welches Potenzial enthält die narrative Unsicherheit für den Filmemacher? Ein Motiv dürfte sicher im bewussten Durchbrechen von Konventionen, in der Abweichung von Normen und Schemata liegen. Anstelle von Logik, Widerspruchsfreiheit, Kohärenz und Abgeschlossenheit hinterlässt der Film zunächst eine gewisse Ratlosigkeit, vielleicht auch Frustration oder Ärger über die fehlende oder nicht realisierbare erzählerische Sicherheit. Hierin liegt aus der Sicht des Filmemachers eine grosse Chance: Der Film endet nicht mit dem Ende des Films, sondern «begleitet» den Zuschauer in seinen Alltag. Er beschäftigt ihn weiter und gleicht damit, obwohl solche Konstruktionen auf den ersten Blick «unrealistischer» erscheinen, eher unseren Alltagserfahrungen.

Eine weitere Möglichkeit habe ich im Zusammenhang mit Swimming Pool bereits gestreift, sie ist eine primäre «Nebenwirkung» der erzählerischen Unsicherheit: die Selbstreflexivität. Das Fehlen der Sicherheit behindert nicht nur ein Abschliessen, sondern macht aufmerksam auf die Konstruiertheit von Geschichten, von Filmen überhaupt. Dies führt zu einer Distanzierung: Die Konventionen und Konstruktionspläne werden zumindest teilweise sichtbar gemacht und es entwickelt sich eine zusätzliche Bedeutungs- und Interpretationsebene, die über die einzelne Geschichte hinaus auf abstraktere, grundsätzlichere Felder der Sinngebung verweist.

Überhaupt lässt sich das scheinbare Manko fehlender Kohärenz leicht in die Möglichkeit umwandeln, auch «Unerzählbares» ins Bild zu rücken und damit in Zonen menschlicher Existenz vorzudringen, in denen Logik und Widerspruchsfreiheit nicht unbedingt die vorherrschenden Prinzipien sind: Träume, Vorstellungen, Fantasien, Rauschzustände – das weite Spektrum subjektiver Wahrnehmung. Diese sind natürlich auch in Filmen ohne narrative Unsicherheit darstellbar. In solchen Fällen dürfen eindeutige Markierungen (wie etwa besondere Kameraperspektiven, Überblendungen und Mehrfachbelichtungen oder Verzerrungen) nicht fehlen. Subjektivität wird als solche gekennzeichnet und kann in der Regel auch einer bestimmten Person zugeordnet werden. In Filmen mit narrativer Unsicherheit fehlen nicht nur diese Markierungen, oft schieben sich auch unterschiedliche Bewusstseinszustände, verschiedene Perspektiven und zeitlich und/oder räumlich verschiedene Zuordnungen ineinander, ohne dass eine Kennzeichnung, geschweige denn Erklärung erfolgen würde. Im Gegenteil – das Verwischen oder Aufheben der Grenzen ermöglicht Freiheiten; die Unsicherheit entbindet von der Pflicht der eindeutigen Entscheidung und lässt die Türe zu Ambivalenz und Ambiguität offen. Die Grenzen, welche die erzählerische Logik einfordern kann, werden zugunsten sich eher am Zufallsprinzip orientierender Verfahren gesprengt.

Erzählerische Unsicherheit mindert die Bedeutung, den Stellenwert des Narrativen selbst. Der Fokus rückt vom Inhaltlichen (Wer macht was?) in andere Gebiete, die etwa mit Begriffen wie Form, Stil (Wie ist es erzählt?) oder mit Kunsterleben an sich umschrieben werden können. Es sind dies Bereiche, die weniger stark auf Logik, das Schaffen einer Ordnung und die Rekonstruktion einer Story zielen. Das Erzählen der Geschichte wird nebensächlich. Die Filme von David Lynch, beispielsweise Lost Highway (USA/F 1997) und vor allem Mulholland Drive (USA 2001), enthalten zwar Geschichten, allerdings sind diese inkohärent. Es lässt sich kein Bezugspunkt mehr herstellen, der als «Realität» innerhalb der Fiktion dienen könnte. Manche Autoren verneinen daher die Frage, ob es sich bei Lynchs Filmen um unzuverlässiges Erzählen handelt, weil sich nichts Zuverlässiges ausmachen lässt, von dem das Erzählen abweichen könne. Doch narrative Unsicherheit bleibt selbst in diesen Filmen bestehen. In Mulholland Drive entwickelt sie einen eigentlichen Bildersog, weil der Film ganz unterschiedliche Wahrnehmungsebenen (der grösste Teil ist wahrscheinlich ein Albtraum der sterbenden Diane4, die in Hollywood ihr Glück sucht und dabei scheitert) und «Textsorten» nebeneinandersetzt, teilweise sogar ineinander schiebt. Die Vorsprechszene ungefähr in der Mitte des Films ist wohl als Schlüssel und Scharnier zu betrachten, wird in ihr doch klar, wie ein an sich belangloser Stoff durch Schauspielkunst und filmische Mittel in eine emotional anrührende Szene transformiert werden kann – eine Emotionalität, die sich anschliessend wieder als «hergestellt» erweist. Auch Lost Highway spielt mit unmarkierten Wechseln zwischen verschiedenen Bewusstseins- und Wahrnehmungsebenen und dem Nebeneinander oder der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Textsorten, weist aber darüber hinaus auf den Umstand einer «schizophrenen» Narration hin, die auch David Finchers Fight Club (USA 1999) kennzeichnet, dessen Hauptperson in zwei scheinbar autonome Figuren aufgespaltet wird, die sogar interagieren können.

Unsicherer Inhalt = narrative Sicherheit?

Es stellt sich die Frage, ob Filme, die inhaltlich von handfesten Verunsicherungen erzählen, auf das Mittel der narrativen Unsicherheit zurückgreifen – im Sinne einer Entsprechung von Inhalt und Form – oder im Gegenteil auf ein sicheres, zuverlässiges Erzählen angewiesen sind. Genres, deren erzählte Welt bisweilen in ihren Grundfesten erschüttert wird, stellen beispielsweise der Horrorfilm, der fantastische Film, der Katastrophenfilm oder auch der Thriller dar. In ihnen wird dem Zuschauer manchmal der (sichere) Boden unter den Füssen weggezogen. Wie verhält es sich jedoch mit der Endsetzung, die für die narrative Unsicherheit von überragender Bedeutung ist? Bleiben wesentliche Lücken unerklärt, ergeben sich mehrere Erklärungsversionen, die sich unter Umständen widersprechen. Verweigern Filme solcher Genres die Geschlossenheit und damit den Endzustand der Sicherheit?

Grundsätzlich kann behauptet werden, dass Filme, die sich inhaltlich auf eine massive Verunsicherung einlassen, wohl dazu tendieren, eine narrative Unsicherheit zu vermeiden. Sie steuern auf eine Beseitigung der Verunsicherung zu und erreichen diese nicht nur inhaltlich durch Geschlossenheit, wie etwa durch den Sieg über das «Böse», sondern auch durch eine Form, die nicht die sichere Endsetzung unterläuft. Der klassische Horrorfilm endet mit der Beseitigung des Monsters, mit der Wiederherstellung «normaler» Zustände, der Katastrophenfilm mit der Überwindung der Bedrohung, auch wenn auf diesem Weg Opfer unvermeidlich sind. Auch im Thriller, in dem vielfach ein Einzelner unschuldig in einen furchtbaren Verdacht gerät oder gar um sein Leben bangen muss, wird am Ende oft die Welt wieder ins Lot gerückt, der Albtraum, der uns während des Films in höchste Spannung versetzt hat, beendet und für Gerechtigkeit gesorgt. Aber es gibt bemerkenswerte Ausnahmen, die sich einer solchen doppelten Sicherheit verweigern, Genrekonventionen brechen und deshalb ungemein verstörend wirken können.

Vor allem neue Vertreter von Filmen aus den erwähnten Genres, die auch als Revision oder Infragestellung von Konventionen verstanden werden können und nicht zur Periode der klassischen Narration gehören, wagen den Schritt zur unsicheren Erzählweise. Dabei stehen der moderne Horrorfilm und der so genannte Paranoia-Thriller im Zentrum solcher Abweichungen und damit zwei unterschiedliche Strategien respektive Intentionen für die Abkehr vom bewährten Muster, das beim Filmende Geschlossenheit und Sicherheit favorisiert.

Beim Horrorfilm zeigt sich ganz am Ende, dass das Bedrohliche nur scheinbar besiegt ist. Exemplarisch kann in diesem Zusammenhang Halloween (USA 1978) von John Carpenter erwähnt werden. Nach einem endlosen Kampf scheint es dem Teenager Laurie (Jamie Lee Curtis) mithilfe des Psychiaters Loomis (Donald Pleasance), aus dessen Obhut der Psychopath entwichen ist, endlich gelungen zu sein, den Serienmörder Michael Myers zu erschiessen. Doch als nach der Leiche gesucht wird, ist diese bereits wieder verschwunden. In den letzten Sekunden des Films wird die sichere Lösung wieder aufgehoben. Mit dieser Kehrtwendung endet der Film, scheinbar öffnet die Narration den Film wieder, obwohl der Endtitel erscheint. Eine Fortsetzung ist im Moment nicht möglich, wohl aber im nächsten Film. Als Beispiele für eine solche Konstellation können neben Halloween die Mehrteiler Friday the 13th (USA 1980, Regie des ersten Teils: Sean S. Cunningham) oder I Know What You Did Last Summer (USA 1997, Regie des ersten Teils: Jim Gillespie) genannt werden.

Der Paranoia-Thriller schielt dagegen nicht auf eine mögliche Fortsetzung, wenn er die narrative Unsicherheit als Mittel einsetzt, sondern verleiht seinem Thema damit eine gewisse Ernsthaftigkeit. Es entbehrt nicht einer konsequenten Haltung, wenn Paranoia-Thriller am Ende des Films die Verschwörung nicht auflösen. Was in den Filmen während der Zeit des Kalten Krieges noch unmöglich erscheint, wird in Zeiten grosser politischer Veränderungen in den Sechziger- und Siebzigerjahren etwa in Filmen des New Hollywood zum verstörenden Schlusspunkt. Der Albtraum, in den die Protagonisten geraten, findet kein Ende, sondern führt zur physischen oder psychischen Vernichtung der Hauptfiguren. Als Beispiele können Alan J. Pakulas The Parallax View (USA 1974) oder der im gleichen Jahr entstandene The Conversation von Francis Ford Coppola genannt werden. The Conversation lässt sich als Hommage an Antonionis Blow-Up verstehen, er stellt einen professionellen Abhörspezialisten in den Mittelpunkt, der für verschiedene Auftraggeber Leute überwacht und deren Gespräche aufzeichnet. Als er über den Sinn seines Tuns nachzudenken beginnt, richtet sich seine Tätigkeit gegen ihn selbst. Am Ende erscheint er hilflos in einem imaginären Gefängnis eingeschlossen, aus dem es kein Entrinnen gibt. In The Parallax View geht ein Journalist dem Verdacht nach, eine Verschwörung könnte hinter der Ermordung eines Politiker stecken. Zwar findet er immer mehr Beweise, doch bezahlt er am Ende seine Neugierde mit seinem Leben, ohne der Öffentlichkeit von seinen Recherchen umfassend berichten zu können.

Da der Thriller sich in der Regel an der Erzählperspektive und am Wissensstand des Protagonisten orientiert, der in diesem Subgenre hilflos in die Verstrickungen verschwörerischer Aktivitäten von Politik, Wirtschaft oder Militär (bisweilen auch im Verbund) gerät, zappeln wir als Zuschauer mit in diesem Netz. Fehlt am Schluss das erlösende Moment, «springen» paranoide Gefühle und Ahnungen gleichsam auf den Zuschauer über und begleiten ihn auf seinem Weg aus dem Kino, zurück in seinen Alltag.

Jenseits von Erzähllogik und -kohärenz – Zuschaueraspekte

Weshalb setzt sich der Zuschauer Filmen mit narrativer Unsicherheit aus oder wie kann er sie, falls er damit nicht freiwillig, sondern eher zufällig konfrontiert wird, nutzen? Was bietet ein Film an, dessen Story verwirrend, konfus, widersprüchlich ist und sich nicht abschliessen lässt? Welche anderen Werte kann ein Film haben, bei dem sich nicht eindeutig sagen lässt, welches seine Handlung ist, und der sich so einer eindeutigen erzählerischen Schlussfolgerung entzieht? Die möglichen Antworten berühren zum Teil Punkte, die im vorigen Abschnitt als mögliche Motive der Filmemacher angeführt wurden. Filme mit erzählerischer Unsicherheit verlängern ihre Wirkung in den Alltag des Zuschauers hinein. Indem sie rätselhaft, irritierend, ohne Abschluss sind, lassen sie uns nicht in Ruhe und verleiten uns vielleicht auch zur Suche nach Alternativen: Traumwelten, Fantasien, Subjektivität, Gleichzeitigkeit von Vergangenem und Gegenwärtigem, Assoziation statt Kausalität. Hier bietet sich für den Zuschauer die Möglichkeit, das Spektrum dessen, was Film zur Darstellung bringt, beträchtlich zu erweitern.

Filme mit narrativer Unsicherheit wirken auf den ersten Blick «unfertig», «unnatürlich», «unkonventionell». Der selbstreflexive Effekt, der damit entsteht und der auf den Umstand des Konstruierten, Gemachten verweist, führt eine zusätzliche Sinnebene ein. Vordergründig paradox erscheint der Umstand, dass solche Filme einerseits weniger «realistisch» (d.h. weniger unauffällig und packend) erscheinen, zugleich aber dem Alltagserleben des Zuschauers wesentlich näher sind. Mit seinem endlosen, fragmentierten Strom an Geschichten gleicht unser Leben weniger einem Film und läuft selten so überschaubar und zielgerichtet ab wie das Geschehen auf der Leinwand.

Nun könnte man einwenden, dass wir im Kino nicht unbedingt das Gleiche wie im Alltag sehen wollen. Das trifft zwar zu, aber Filme mit narrativer Unsicherheit sind ja nicht einfach Abbilder unserer ausserfilmischen Realität, sondern immer noch hoch verdichtete Kunstprodukte, die nicht das Kriterium der Abgeschlossenheit, Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit erfüllen. Oft wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es eben darum gehe, nicht nur die äusserliche, «realistische» Welt in die Fiktion einzubringen (worauf sich tatsächlich viele Filme beschränken), sondern auch Aspekte der «inneren» Welt darzustellen. Diesen Aspekt erweitern Filme mit narrativer Unsicherheit. Zudem führt die Auflösung des Zwangs zum Narrativen zu einer Aktivierung, ja Betonung des spielerischen Zugangs, die Lust und Vergnügen trotz oder gerade wegen ihrer Absurdität erzeugt. Luis Buñuels Filme stellen vor dem Hintergrund surrealistischer Denkweisen gewohnte Erzählschemata gleichsam auf den Kopf. Am auffälligsten wird dies in seinem Spätwerk, wenn beispielsweise in Le charme discret de la bourgeoisie (F 1972) die Haupthandlung (das Zusamentreffen von Mitgliedern der Bourgeoisie zum gemeinsamen Essen) immer wieder gestört und verunmöglicht wird. Die Handlung «franst aus» und führt zu den unwahrscheinlichsten Entwicklungen, die keinen Sinn mehr ergeben. In Le fantôme de la liberté (F 1974) geht der Regisseur noch einen Schritt weiter, indem er Handlungsstränge nur bis zu dem Punkt verfolgt, an dem sich eine dramatische Zuspitzung andeutet. Diese wird aber nicht weiter ausgeführt, sondern der Film setzt sich dort fort, wo der Zuschauer es am wenigsten erwartet. Eine Sinngebung fällt immer wieder in sich zusammen.

Am Ende sei ein letzter Aspekt des unsicheren Erzählens erwähnt, weil er auf den ersten Blick paradox erscheint, das Verhältnis zwischen narrativer Sicher- und Unsicherheit in einem neuen Licht präsentiert und vielleicht auch ansatzweise zu erklären vermag, weshalb der Zuschauer eine solche Konstellation durchaus nicht nur als verwirrend, irritierend, frustrierend oder gar bedrohlich erleben muss. Die narrative Unsicherheit findet in einem äusseren Rahmen statt, der sicher ist: in der Disposition des Kinoerlebnisses. In ihr lässt sich auch Schwindelerregendes ohne Schaden geniessen, denn fester, «sicherer» Boden führt am Ende der Vorstellung aus dem Kinosaal.

Für Anregungen und kritische Durchsicht danke ich Eva Küttel.

Das ursprüngliche Konzept bezieht den Leser eigentlich gar nicht ein, sondern spricht von einer Diskrepanz zwischen Erzähler und implizitem Autor. Diese zweite Komponente wird in der heutigen Diskussion in der Regel weggelassen respektive durch die des Lesers ersetzt.

Jörg Schweinitz, «Die Ambivalenz des Augenscheins am Ende einer Affäre. Über Unzuverlässiges Erzählen, Doppelte Fokalisierung und die Kopräsenz narrativer Instanzen im Film», in: Fabienne Liptay / Yvonne Wolf (Hg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München 2005, S. 89–106.

Im Englischen gibt es für diesen Umstand die schöne Bezeichnung Twist Ending, wobei dieses in Normalfall nicht zu der von mir definierten erzählerischen Unzuverlässigkeit führt, sondern meistens zu einer unerwarteten (vom Zuschauer aber doch erhofften) Lösung in letzter Minute.

Der Aspekt des Post-mortem-Kinos eröffnet in Bezug auf die Narration aufschlussreiche Perspektiven, wie sie etwa Thomas Elsaesser in seinem Aufsatz «Was wäre, wenn du schon tot bist» (in: Christine Rüffert et al. [Hg.], Zeitsprünge. Wie Filme Geschichte[n] erzählen, Berlin 2004, S. 115–125) diskutiert.

Thomas Christen
Geb. 1954. Studium der Germanistik, Publizistikwissenschaft, Psychologie und Filmwissenschaft. Dissertation über Das Ende im Spielfilm: vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen (Schüren 2002).

Seit 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Art Cinema, europäischer Film, Filmgeschichte, Narratologie, Selbstreflexivität. Forschungsprojekt über «Formen des filmischen Exzesses» (Habilitation), «Martin Schlappner, die Neue Zürcher Zeitung und der neue Schweizerfilm» sowie Projekt der Herausgabe einer mehrbändigen Einführung in die Filmgeschichte.
(Stand: 2021)
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