RALF SCHLATTER

DIE GESCHICHTE MIT DEN MALTESERS

ESSAY

Die Geschichte mit den Maltesers. Also streng genommen mit dem Malteser, also mit einem einzigen dieser Maltesers, oder heisst es das Malteser, oder der/die MalteserIn, egal, eines dieser Maltesers auf jeden Fall, die kennen Sie sicher, diese wahnsinnig leichten Schokoladekügelchen, die in der Werbung in Zeitlupe durch die Luft nach oben fliegen, sozusagen schwerelos, und sehen Sie, genau das wurde mir zum Verhängnis. Wobei das eigentliche Verhängnis ja der Entscheid war, im Studiokino diesen Dogma-Film schauen zu gehen, es war eine Nachmittagsvorstellung an einem Dienstag, und aus Angst vor einem Hungerast kaufte ich mir an der Studiokinokasse eine Packung Maltesers und ich bin sicher, wäre ich in einen dieser Multiplexschuppen gegangen, wäre es nicht passiert, da hätte ich in aller Ruhe während der Werbung den Maltesers zugeschaut, wie sie senkrecht in die Luft hinauffliegen, dann hätte ich die Maltesers gegessen, mir anschliessend von den Vorfilmen die eine Hälfte des Gehirns und vom Hauptfilm die andere Hälfte rausblasen lassen und wäre zufrieden und mit einem Hirn so schwerelos wie ein Malteser nach Hause gegangen, aber eben. Erstens kommen im Studiokino ja immer diese Diawerbungen, und ein Malteser kann nun einmal in einer Diawerbung nicht senkrecht nach oben fliegen, und zweitens sind ja in den Studiokinos die Vorfilme immer dermassen kompliziert und ohne Worte und mit tschetschenischen Untertiteln und am Schluss immer mit jeder Menge Preisen von jeder Menge Filmfestivals, von denen man noch nie gehört hat, dass man dermassen aufpassen muss, dass man gar nicht dazu kommt, auch nur ein einziges Malteser in den Mund zu stecken, da lob ich mir schon diese Vorfilme in den Multiplexschuppen, da kommt diese amerikanische Vorfilmstimme, und wenn ich oben gesagt habe, die blasen einem das Hirn raus, dann häng ich hier noch den Darm dran, dermassen dröhnt diese Vorfilmstimme mit Dolby-Surround durch den Magen, ich hab diesen Mann übrigens schon mal gesehen im Fernsehen, den Mann, dem diese Vorfilmstimme gehört, der sieht eigentlich ganz normal aus, heisst Don La- Fontaine, ist ein bisschen beleibt und hat ein Doppelkinn, aber sobald er den Mund aufmacht, da bläst es dir die Innereien raus und ich frage mich, wie das zum Beispiel die Bäckereiverkäuferin macht in dem Ort, wo Don LaFontaine wohnt, stellen Sie sich vor, jeden Morgen kommt er in die Bäckerei und bestellt beispielsweise ein dunkles Pfünderli, das klingt jetzt so lieblich, sagen Sie, aber ich bin sicher, die Bäckereiverkäuferin packt das Brot immer schon ein, bevor Don LaFontaine in den Laden kommt, und sobald er den Laden dann betritt, sagt sie «Guten Morgen, Herr LaFontaine, hier haben Sie Ihr dunkles Pfünderli und dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag und Sie brauchen nicht einmal danke gleichfalls zu sagen», und vielleicht geniesst Don LaFontaine diese Art der Bedienung, vielleicht wäre es ihm ohnehin unangenehm, jeden Morgen das Gleiche zu sagen oder vielleicht ist es ihm unangenehm, überhaupt etwas zu sagen, weil die Leute dann immer meinen, jetzt fange dann gleich der Vorfilm an und jetzt müssten dann gleich diese Vorfilmworte kommen, «In a world where ...», und ich habe gehört, Don LaFontaine arbeite seit neustem nur noch von zuhause aus, per Internet, während er früher mit einer Limousine umherchauffiert wurde, um keinen Parkplatz suchen zu müssen, um noch mehr Tonaufnahmen pro Tag machen zu können, aber das hat er mittlerweile nicht mehr nötig, weil er mit seiner Stimme schon längst zum Millionär geworden ist, und ich stelle mir vor, wie Don LaFontaine zuhause vor seinem Computermikrofon sitzt und jeden Tag ein Dutzend Mal «In a world where ...» sagt und vielleicht ist Don LaFontaine im Grunde genommen ein einsamer Mann, weil das Leben in Gottes Namen selten so wahnwitzig zusammengeschnitten ist wie ein Filmtrailer, ebenso wenig, wie Maltesers senkrecht in Zeitlupe aufwärts durch die Luft fliegen können und à propos Gott, man sagt zu Don La- Fontaines Stimme auch «The voice of God», und wer weiss, vielleicht hat Gott seine Schöpfung ja auch mit einem Trailer begonnen und hat mit einer ganz tiefen Stimme «In a world where ...» gebrummt und dann kam das Licht, doch das wäre dann wieder eine andere Geschichte, das heisst ein anderer Film, ich setzte mich also in die neunte Reihe und dann ging das Licht aus, weder mit Don LaFontaines noch Gottes Stimme, dafür mit einem Dia von einem alternativen Reisebüro und einem tschetschenischen Vorfilm ohne Worte.

Und als dann der Vorhang links und rechts von der Leinwand noch ein bisschen mehr zur Seite ging und das Licht noch ein wenig dunkler wurde, da wollte ich in aller Ruhe meine Packung Maltesers aufmachen, da fängt dieser Dogma-Film an, aber dermassen unvermittelt, wie nur ein Dogma-Film anfangen kann, mit diesem Wahnsinnsschwenk, da können diese Hollywoodheissluftballonproduktionen ja nur träumen davon, die dürfen ja erst ab Minute fünfzehn ein lautes Wort einbauen, weil dann erst alle Leute im Multiplex ihren Platz gefunden haben, und weil die Leute, die schon von Anfang an drin sassen so oder so etwa eine Viertelstunde brauchen, um sich von den fünf Don-LaFontaine-Vorfilmen zu erholen, aber eben, Dogma-Film los und dieser Wahnsinnsschwenk aus dem Handgelenk und hopp, mein erstes Malteser fliegt in die Luft, und ich schwöre Ihnen, es flog wie an einer Schnur gezogen senkrecht in die Luft, meine Hand flog reflexartig hinterher, und in diesen Malteser-Werbespots, da fliegt ja auch immer noch Milch so zeitlupenmässig mit nach oben, um zu zeigen, dass es erstens ganz viel wertvolle Milch in den Maltesers drin hat und dass die Milch zweitens nicht dick macht, sondern im Gegenteil so leicht, dass man zusammen mit den Maltesers senkrecht nach oben fliegen kann, nur hatte mein Sitznachbar leider nicht Milch in dem Pappbecher, sondern astreines Coca-Cola, und leider ist an meinem Arm nicht nur eine Hand dran, sondern auch ein Ellbogen, und so kam es, dass das Coca-Cola des Sitznachbarn auch ziemlich senkrecht nach oben flog und dann die Hand und der Arm des Sitznachbarn hinter dem Coca-Cola her und dann ich und der Sitznachbar über die nächste Sitzreihe drüber und los gings, und ich kann Ihnen sagen, hätte Lars von Trier seine Kamera da hineingehalten, Goldene Palme mindestens, und zusammen mit Don LaFontaines Stimme noch ein zwei Oscars dazu, «In a cinema where Maltesers can fly and Coca-Cola too ...», zugegeben, klassisches Product-Placement, aber bitte, die ganze Welt ist doch mittlerweile ein einziges Product-Placement, gerade eben, ich sitze zuhause am Tisch und schreibe diese Geschichte auf, da rief mich eine Frau an und machte mit mir eine Umfrage über Zahnpflegeprodukte und spielte mir am Telefon einen Radiospot vor über eine Mundwasserspülung, leider ohne Don LaFontaines Stimme, «In a mouth where ...» und ich hätte dem Spot zehn von zehn Punkten gegeben, aber so gabs nur zwei, und vielleicht hätte ich der Dame noch ganz vertraulich mitteilen sollen, dass sie bei mir ohnehin am Falschen sei von wegen Zahnpflegeprodukte, denn das Malteser im Kino sei das Letzte gewesen, was ich mit meinen eigenen Zähnen gegessen hätte, sprich habe essen wollen, denn, was ich noch vergessen habe zu erwähnen, auch am Arm vom Sitznachbarn war nebst der Hand ein Ellbogen dran und ich schwöre Ihnen, ich sah meine Zähne in Zeitlupe senkrecht nach oben fliegen, aber vielleicht war das mehr schon eine Vision, vielleicht war ich da schon nicht mehr bei Sinnen, auf jeden Fall erinnere ich mich noch an eine ganz tiefe Stimme, die mein Leben als wahnwitzig zusammengeschnittenen Filmtrailer kommentierte, und ich erinnere mich noch, dass ich mir vornahm, gelegentlich diesen Film schauen zu gehen, der Trailer begann mit den Worten «In a world where teeth can fly...» und ich weiss noch, dass ich mich wunderte, dass der Trailer einen Kommentar hatte und nicht nur unverständliche Untertitel und dass dieser Film offenbar im Multiplex lief und nicht in irgendeinem Studiokino, und als Nächstes sah ich mich im Multiplex sitzen, und das Licht ging langsam aus, und ich wollte gerade eine Packung Maltesers aufmachen, da gingen meine Augen auf und über mir stand, und da staune ich ehrlich gesagt heute noch, ein Retter vom Malteser-Orden und leistete mir Erste Hilfe, und eigentlich wollte ich ihm sagen, wie stimmig ich das fände, mit dem Malteser, und was wohl gewesen wäre, wenn ich zum Beispiel eine Packung M&Ms gekauft hätte, ob dann vielleicht der M&M-Orden gekommen wäre, da merkte ich, dass ich Mühe hatte mit Sprechen und dass das Klebrige in meinem Mund nicht das Coca-Cola des Sitznachbarn war, sondern mein eigenes Blut, der Retter vom Malteser-Orden half mir auf und setzte mich in den Kinostuhl, ich lächelte ihm zahnlos zu und dann schwanden mir erneut die Sinne.

Plötzlich, und es ist das Nächste, was ich weiss, ging das Licht an, der Dogma-Film war so unvermittelt zu Ende gegangen, wie er angefangen hatte, auf der Leinwand stand «Bitte benützen Sie die Seitenausgänge», die haben gut reden, dachte ich, ich hatte keine Ahnung mehr, wie ich ins Kino hereingekommen war, geschweige denn, wie ich hinausfinden sollte, mein Sitznachbar hingegen hatte offenbar kein Problem damit, er nahm den leeren Pappbecher, erhob sich und benützte den Seitenausgang, ich schaute ihm verwundert nach, in der Hand hielt ich eine Packung Maltesers und ich schwöre Ihnen, sie war ungeöffnet, und als ich taumelnd, dem Lichtschein folgend das Kino verliess, war von einem Malteser-Orden weit und breit nichts zu sehen und die Leute gingen davon, als wäre überhaupt nichts passiert und da erst wurde mir bewusst, dass ich einen Mordshungerast hatte und dass es immer noch hell war draussen und ein Dienstag und ich setzte mich vor dem Kino auf einen Treppenabsatz und öffnete die Packung Maltesers und stopfte mir eine Handvoll in den Mund und zerkaute sie mit meinen ureigenen Zähnen, dass es nur so krachte und von weit her, ich schwöre Ihnen, da klang im selben Augenblick eine ganz tiefe Stimme durch die Stadt, aber vielleicht, ich gebe es zu, war es auch nur ein entferntes Donnergrollen, und dann wurde es langsam, ganz langsam und allmählich dunkel.

Ralf Schlatter
geb. 1971, lebt als Autor und Kabarettist in Zürich. Mehrfach ausgezeichnete Romane Federseel und Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor, daneben Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher. Mit Anna-Katharina Rickert im Kabarettduo «schön & gut», Preisträger «Salzburger Stier» 2004, zurzeit auf Tournee mit dem neuen Programm «Das Kamel im Kreisel».
(Stand: 2007)
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