AMER HLEHEL

FILMBRIEF AUS DEM NAHEN OSTEN — DAS PALÄSTINENSISCHE KINO: EINE FRAGE VON LEBEN UND TOD

FILMBRIEF

Stell dir vor, du bist Schauspieler und spielst eine Rolle in einem Film. Nachdem die Dreharbeiten abgeschlossen sind und du nach Hause zurückgekehrt bist, wirst du vom Nachrichtendienst zum Verhör vorgeladen – weil du bei einem Film mitgemacht hast, der seiner Ideologie nicht entspricht und überdies an einem gefährlichen Ort gedreht worden ist. Zudem werden Mitglieder deiner Familie vom Geheimdienst gesucht ... Merkwürdig, nicht wahr? Wäre es nicht viel natürlicher, dass du nach der Mitarbeit an einem Film zu einer Pressekonferenz eingeladen wirst oder in eine Fernsehshow, die dein Werk feiert?

Solche Schikanen gehören zu den mildesten, mit denen Filmemacher in Palästina heute konfrontiert sind. Daneben gibt es die ganz realen Gefahren und Mühen, die sie beim Drehen in den besetzten Gebieten erleben. Ganz zu schweigen vom täglichen Leiden der Bevölkerung. Du machst einen Film, während einige Meter von dir entfernt geschossen und getötet wird. Die Ausgangssperre verhindert die Fortsetzung der Dreharbeiten, was zu einem riesigen finanziellen Verlust führt. Menschen werden getötet, ins Gefängnis geworfen und ihrer täglichen Nahrung beraubt, werden gequält und verachtet. Und du, der Regisseur, drehst egoistisch einen Film.

Ein Filmemacher akzeptiert, dass seine Freiheit während der Ausübung seiner Tätigkeit eingeschränkt ist. Was bleibt ihm auch anderes übrig, wenn er zum Beispiel mehrere Tage Gefangener seines Hotels ist, weil es ihm nicht gestattet wird, dieses zu verlassen. Irgendein Offizier hat dies aus einem unbekannten Grund angeordnet – womöglich, um den Filmschaffenden zur Verletzung des Befehls zu reizen und ihn dann verhaften zu können? So ergeht es vielen Künstlern und Leuten, die sich mit dem täglichen Leben der Menschen im besetzten Palästina beschäftigen. Ich glaube, dass die Mehrheit derer, die in der Welt des Kinos tätig sind, ein Arbeiten unter solchen Umständen ablehnen würde.

Es ist doch nicht logisch, dass ein Filmemacher seine Dreharbeiten fortsetzt im Wissen, dass sein Leben und das der anderen nicht sicher ist. Warum beharrt man in Palästina dennoch darauf, Filme zu machen?

Entwicklung und Überleben des palästinensischen Kinos

Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zunächst einen Überblick über die Geschichte des palästinensischen Kinos gewinnen. Seine Anfänge reichen in die Mitte der Dreissigerjahre des letzten Jahrhunderts zurück, und bis in die späten Sechzigerjahre, vor allem aber nach der Niederlage von 1967, wurden vorwiegend Dokumentarfilme produziert. In den Siebzigerjahren nahm die Zahl der Dokumentarfilme noch stärker zu, da die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO begann, das Kino für ihre politische Informationsarbeit zu entdecken. Erst 1987 wurde mit Urs al-jalil (Wedding in Galilee, Michel Khleifi, PAL/F/B) der erste Spielfilm in Palästina produziert. Zwar waren bereits zuvor einige Spielfilme über die Probleme der Palästinenser entstanden, aber sie waren nicht in Palästina, sondern in den umliegenden arabischen Ländern gedreht worden. In den Neunzigerjahren konsolidierte sich das palästinensische Kino und wurde von der Welt entdeckt: Anzahl und Vielfalt der Filmproduktion nahmen in dieser Zeit zu, ausserdem entwickelte sich Letztere sowohl auf künstlerischer als auch auf professioneller Ebene. Dieser Entwicklungsschub erfolgte, nachdem der Westen sich für die palästinensische Geschichte zu interessieren begann. Besonders Europa unterstützte das palästinensische Kino, dessen Eigenfinanzierung und somit Selbständigkeit minim ist, und wurde zu einem seiner Hauptsponsoren.

Dass die Palästinenser ihr Kino lebendig halten, liegt jedoch hauptsächlich und paradoxerweise am langen palästinensischen Leiden, das seit sechs Jahrzehnten andauert und dessen Ende nicht abzusehen ist. Die Palästinenser haben sich mit diesem Leiden arrangiert und glauben nicht an eine rasche Lösung ihrer Probleme. Im Gegenteil: Sie sehen die Situation von Tag zu Tag komplexer werden. Doch ihr Leben zu unterbrechen und auf eine Lösung zu warten, ist keine Option. Sie müssen am Leben festhalten, weiter arbeiten und weiter Filme produzieren.

Selbständigkeit trotz fremder Produktionsgelder?

Aus jüngsten Statistiken geht hervor, dass 46 Prozent der palästinensischen Filmproduktion – Fernsehfilme, Dokumentarfilme, Kurzfilme, Spielfilme, Unterrichtsfilme usw. – durch ausländische Gelder finanziert werden.1 Vor allem lange Spiel- und Dokumentarfilme werden hauptsächlich durch das (europäische) Ausland finanziert, und selbst Israel hat sich an der Produktion einiger Filme beteiligt, um sich vor der Weltöffentlichkeit in ein besseres Licht zu rücken.

Manche sagen, die Finanzierung sei eines der grössten Probleme des palästinensischen Films. Auch andere Filmindustrien kennen dieses Problem, aber sie können immerhin von ihrem jeweiligen Staat Unterstützung erlangen. Wo aber kein Staat vorhanden ist, wie im Fall von Palästina, geht die Hauptfinanzierungsquelle verloren. Ich glaube, das Problem des palästinensischen Kinos, der palästinensischen Kunst oder von irgendetwas anderem Palästinensischen kann nicht gelöst werden, solange das palästinensische Problem nicht gelöst ist.

Auch wenn ich die finanzielle Unterstützung sehr schätze, die uns die Welt zuteil werden lässt, so halte ich sie dennoch für eine kurzfristige Lösung. Zudem bringen es ausländische Gelder mit sich, dass die Geldgeber oft das Thema des Films bestimmen, wodurch der palästinensische Filmemacher seine Freiheiten verliert. Nehmen wir zum Beispiel die Produktion eines Films über die rassistische Mauer, die Israel in den seit 1967 besetzten Gebieten errichtet. Diese Mauer zerstückelt die Westbank und trennt den palästinensischen Bauern von seinen Ländereien, den Schüler von seiner Schule, den Arbeiter von seinem Arbeitgeber und die Menschen von ihren Nächsten. Vom Filmemacher wird jedoch verlangt, in seinem Film «die israelische Seite» zu zeigen, das heisst die Vorwände Israels für den Mauerbau wie beispielsweise das Sicherheitsargument, demgemäss die Mauer palästinensische Selbstmordattentate innerhalb Israels verhindert. Oder der Geldgeber will, dass der Film «politisch ausgewogen» ist, damit nicht der Eindruck entsteht, er ergreife Partei für die palästinensische Seite. Der Regisseur hat also folgende Wahl: Entweder er verzichtet darauf, den Film zu drehen – und darauf, die Geschichte jener zu erzählen, die durch die Mauer geschädigt wurden –, oder er verzichtet auf seine persönliche Einstellung, indem er die israelischen Rechtfertigungen des Mauerbaus akzeptiert und in seinen Film einfügt, um dessen Finanzierung sicherzustellen.

Dieser Umstand wirft Fragen auf: Wie gross ist die Freiheit des palästinensischen Kinos in Bezug auf die Themenwahl, wie gross seine Selbständigkeit? Ist dieses Kino ein «rein palästinensisches» Kino oder eines des Regisseurs oder eines der Financiers? Die Antworten auf diese Fragen gehen auseinander. Manche meinen, die ausländische Finanzierung schade dem eigentlichen Ziel des palästinensischen Kinos, das eine wesentliche Rolle bei der Lösung des palästinensischen Problems spiele, indem es in unabhängiger Weise über die palästinensische Geschichte berichte. Daher sei eine ausschliesslich «nationale» Finanzierung eindeutig zu bevorzugen.

Doch ein solches Modell würde die Kinoproduktion einschränken: Lange Spiel- und Dokumentarfilme kosten viel Geld, und weder palästinensische Institutionen noch die Autonomiebehörde verfügen über die Mittel, um solche Filme produzieren zu können, sind sie doch nicht einmal imstande, den öffentlichen Angestellten regelmässig Löhne auszuzahlen. Wie könnten sie unter solchen Umständen Filme finanzieren, die manchmal Millionen von Dollars kosten? Ausserdem haben das Kino und die Kunst überhaupt einen sehr geringen Stellenwert für die palästinensische Autonomiebehörde.

Andere wiederum sind der Meinung, es sei zu früh, von der Selbstständigkeit des palästinensischen Films zu sprechen, solange es keinen palästinensischen Staat gibt. Dank der ausländischen Finanzierung könne sich der palästinensische Film international profilieren, und auch wenn dies auf Kosten seiner Unabhängigkeit geschehe, so ermögliche ihm das immerhin, wenigstens einen Teil der palästinensischen Geschichte zu erzählen, was doch besser sei als die Isolation und die Verweigerung des Dialogs mit der Welt.

Eine Unterstützung aus dem Ausland ist also nicht von vornherein schlecht, und einige sehen besonders in der Hilfe des Westens den Versuch, das Unrecht, das den Palästinensern angetan wurde, wieder gutzumachen. Und schliesslich führt das ausländische Geld nicht zuletzt zu einem höheren technischen und künstlerischen Niveau des palästinensischen Films, der inzwischen grosses Ansehen in der Region geniesst.

Themen und Inhalte: Probleme über Probleme

Auf formaler Ebene unterscheidet sich der palästinensische Film nicht von demjenigen der restlichen Welt und im Unterschied zu anderen bin ich der Meinung, dass er dem Kino nichts Neues brachte – mit Ausnahme der Filme von Elia Suleiman, Hani Aub Asad und Taufiq Abu Waël. Verglichen mit der inhaltlichen Vielfalt des internationalen Films wird allerdings deutlich, wie sehr sich der palästinensische Film auf ein einziges Thema beschränkt: auf die Situation und das Leiden des palästinensischen Volkes. Die Gründe dafür liegen sowohl in Palästina als auch im Ausland. Für die Palästinenser ist es notwendig, der Welt ihre Geschichte zu erzählen, ihre Probleme einem grossen Publikum zu vermitteln und damit die Aufmerksamkeit des internationalen Bewusstseins auf sie zu lenken. Ein Regisseur ist daher in seiner Themenwahl limitiert; da das Kino immer im Dienst der palästinensischen Sache steht, kann er keinen Film um des Films willen drehen. Umgekehrt ist die Situation der Palästinenser das, was die Welt am palästinensischen Kino reizt. Wer im Ausland will schon einen palästinensischen Liebesfilm sehen, der nichts mit dem palästinensischen Problem zu tun hat?

Könnte der palästinensische Film weiterhin auf der internationalen Bühne bestehen, falls das palästinensische Problem gelöst und die israelische Besatzung beendet würde? Diese Frage zu beantworten, ist schwierig. Hoffnung weckt der Ansatz von Taufiq Abu Waël, der mit Atash (Thirst, PAL 2004) versucht, die filmische Auseinandersetzung mit dem palästinensischen Problem zu vermeiden und einen unpolitischen Film zu drehen. Sein Versuch ist ein Glück für das palästinensische Kino und weckt Zuversicht.

Doch weil das palästinensische Problem eines der wichtigste der Welt ist – und damit von weltweitem Interesse –, sind die Verbreitung und der Verkauf palästinensischer Filme Gewinn bringend. Ich bin davon überzeugt, dass sich Geldgeber vor allem deshalb für das palästinensische Kino als einem «Kino des Problems» einsetzen. Das führt dazu, dass das Kino des palästinensischen Problems immer stärker von einem internationalen Publikum wahrgenommen wird (so nahmen palästinensische Filme in den letzten Jahren an zahlreichen internationalen Filmfestivals teil). Das führt aber auch dazu, dass die Geldgeber darauf verzichten, Filme zu unterstützen, die nichts mit dem palästinensischen Problem zu tun haben. Weshalb sollten sie auch, zieht doch das Kino des Problems ein grosses Publikum an und verspricht Publizität und Preise an den internationalen Filmfestivals?

Arbeitsumstände

Die Entwicklung eines freien und selbständigen palästinensischen Kinos wird durch einen weiteren Umstand gehemmt. Die Mehrheit der im Filmbereich Tätigen sind keine Palästinenser, denn die Film-Crew kommt in der Regel aus dem Finanzierungsland. Gerade zentrale Bereiche wie Kameraführung, Beleuchtung, Ausstattung und Montage werden in Spielfilmen noch immer von ausländischen Fachleuten ausgeführt. Soweit ich weiss, wurde noch nie ein Spielfilm von einem palästinensischen Cutter geschnitten. Nur 0,7 Prozent der Palästinenser, die im palästinensischen Film beschäftigt sind, arbeiten als Kameraleute, ebenso wenige als Beleuchter, nur zwei Prozent arbeiten im Bereich der Filmmusik und nur 4,1 Prozent in der Produktion. Diese Zahlen zeugen deutlich von der Abhängigkeit des palästinensischen Kinos.

Die Hauptgründe dafür, dass kein palästinensisches Team für eine Filmproduktion bereitgestellt wird, liegen nicht an einem Mangel an Palästinensern, die gerne im Filmbereich arbeiten würden. Im Gegenteil, es fehlt in Palästina nicht an jungen Leuten, die Film und Kameraführung studiert haben. Aber sie können ihren Beruf nicht ausüben, weil die Finanzierungsländer das Produktionsland zwingen, ein Team mit Filmschaffenden aus den Finanzierungsländern zu bilden. Auch wird der grösste Teil des gewährten Geldes im Finanzierungsland selbst ausgegeben. Wenn also zum Beispiel ein französischer Geldgeber in eine palästinensische Produktion investiert, dann geschieht dies unter der Bedingung, dass fünfzig Prozent des investierten Geldes in Frankreich oder für Franzosen ausgegeben wird.

Wohin diese Praxis, die von allen Finanzierungsländern angewendet wird, führt, ist klar: Auf den palästinensischen Regisseur kann ein ausländischer Produzent nicht verzichten, denn laut einer internationalen Vereinbarung gilt ein Film nur dann als palästinensisch, wenn der Regisseur und die Geschichte des Films palästinensisch sind. Auch die Schauspieler müssen palästinensisch sein, sofern sie Palästinenser verkörpern. Alle anderen am Film Beteiligten, insbesondere Kameramann, Beleuchter, Cutter und Regieassistent, sind typischerweise nicht Palästinenser, sondern stammen gemäss den oben erwähnten Investitionsbedingungen aus dem Finanzierungsland. Palästinenser können höchstens nebensächliche Aufgaben und Funktionen übernehmen.

Zwar hat man in Palästina inzwischen begonnen, Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen, sodass palästinensische Technikerteams bereitgestellt und ausgerüstet werden können. Offen bleibt aber, wo diese Teams arbeiten werden, solange die Mehrheit der Geldgeber aus dem Ausland stammt und die Finanzierungsbedingungen festlegt. Auch wenn es inzwischen qualifizierte palästinensische Fachkräfte gibt, so konnten sie bis jetzt nicht angestellt werden, weil sie Palästinenser sind und die Gelder vom Ausland kommen.

Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass die ausländischen Teams, die im palästinensischen Kino tätig sind, das technische Niveau des palästinensischen Films heben, da die Erfahrung dieser Leute die Erfahrung der Palästinenser übertrifft. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass der palästinensische Film ins qualitative Zentrum des arabischen Kinos gerückt ist, und ich glaube, das ist auch der Grund dafür, dass Palästina als erstes arabisches Land mit einer Oscar-Nominierung – für al-Janna alaan (Paradise Now, Hani Abu Asad, PAL/F/ D/NL/IL 2005) – geehrt wurde. Dass die Arbeit der ausländischen Teams die Entwicklung des palästinensischen Films begünstigt und eine wesentliche Rolle bei dessen Entfaltung spielt, kann also nicht abgestritten werden.

Nablus: ein persönliches Experiment

Das grösste Problem des palästinensischen Films sind die schwierigen Arbeitsbedingungen. Viele Tücken des Alltags, die für die Palästinenser zur Gewohnheit und damit fast nebensächlich geworden sind, stellen die Filmemacher vor grosse Herausforderungen. Einen Film unter der Besatzung zu drehen ist kein einfaches Unterfangen. Palästinensische Filme entstehen inmitten von Schüssen, im Schatten der Mauer, die die Westbank zerteilt, während der Zerstörung von Häusern, vor Sperren und in Abwesenheit von Sicherheit und Ordnung, im Schatten des Todes und des Tötens, bei Ruinen und Checkpoints, unter der unmittelbaren Gefahr, verhaftet zu werden, und vor dem Hintergrund einer zerstörten Wirtschaft.

Jeder Filmemacher weiss, dass ein Drehtag nur unter zwingenden Umständen annulliert wird. Solche Umstände gibt es in Palästina nahezu täglich, und sie können sich jeden Augenblick ereignen, da das Auftreten des Militärs am Drehort unvorhersehbar ist. So unvorhersehbar wie der Schuss einer Rakete auf ein Auto, das nicht weit vom Drehort entfernt ist, so unvorhersehbar wie die Konfrontation zwischen dem israelischen Militär und palästinensischen Aufständischen oder so unvorhersehbar wie das Ausgangsverbot, das uns die Möglichkeit nimmt, uns von einem Ort zum anderen zu bewegen. Es kommt oft vor, dass wir uns zum Drehen verabreden, uns aber nicht treffen können, weil eine Ausgangssperre verhängt wurde oder weil die Stadt um ihre Jungen trauert, die durch die Besatzungsmacht getötet wurden.

Als wir in Nablus al-Janna alaan (Paradise Now) drehten, fuhren wir nachts nach dem Drehtag im Panzerauto der Presseagentur nach Hause, um uns vor den Gewehrkugeln zu schützen. Alleine konnten wir nicht durch die Stadt gehen aus Angst vor dem Tod, der an allen Ecken lauert. Mit Tausenden von Menschen betraten wir die Stadt durch die Sperre, die von der Besatzungsmacht errichtet worden war. Die Gewehre der Soldaten waren auf uns gerichtet, und die Soldaten waren jederzeit bereit, auf jemanden zu schiessen, sollten sie eine ungewöhnliche Bewegung unter den Wartenden wahrnehmen.

Ich erinnere mich an einen Tag, an dem wir stundenlang vor einem Checkpoint warteten, der nach Nablus führt, aber geschlossen war, weil einige Siedler sich dazu entschlossen hatten, am Rand von Nablus eine neue Siedlung zu errichten. Die Besatzungsmacht schützte sie, indem sie die Bevölkerung von Nablus und die Palästinenser, die im Gebiet wohnten, wo die Siedlung errichtet werden sollte, mit einem Ausgangsverbot belegten.

Eines Nachts schliefen zwei Kollegen und ich unter dem Bett aus Angst vor dem Kugelregen und den Bomben des Besatzungsmilitärs, das ein Gebäude belagerte. Die Soldaten trieben die Bewohner ins Freie und liessen sie stundenlang dort warten. Sie bombardierten das Gebäude und richteten ihre Waffen auf seine Bewohner. Das Haus wurde belagert, weil einer seiner Bewohner gesucht wurde, und als die Soldaten es durchkämmten, benutzten sie den Bruder des Gesuchten als Schutzschild. Den Gesuchten selbst fanden die Soldaten nicht – weil er nicht dort wohnte.

Ich erinnere mich an eine Mutter, die zu uns kam, um eine kleine Rolle in unserem Film zu spielen. Sie hatte unter der Besatzung ihren Mann und zwei Söhne verloren. Zwei weitere Söhne sind ihr geblieben: Der eine sitzt lebenslänglich in einem israelischen Gefängnis, der andere ist, von der Kugel eines israelischen Soldaten getroffen, behindert und bettlägerig. Die Mutter aber beharrt auf dem Leben. Sie war sehr bewegt von ihrer Aufgabe im Film und spielte wie ein kleiner Star, der in einem grossen Film die Rolle seines Lebens spielt.

Ich erinnere mich, wie ich gefragt wurde (und noch heute frage ich mich selbst): Warum beharren die Palästinenser auf dem Leben? Warum beharren sie auf dem Kino und der Kunst, während sie der Grundlagen ihres Lebens beraubt sind und werden?

Aus dem Arabischen von Sarah El Bulbeisi.

Amer Hlehel
geb. 1979 in Jish, Palästina. Schauspielstudium am Department of Theatre der University of Haifa. Als Schauspieler und Regisseur in den Bereichen Theater, Kino und Fernsehen tätig. Arbeitet an einem Projekt über die Möglichkeiten zur Integration von Theater in sozialer und politischer Arbeit im Spannungsfeld von Identität und religiöser Zugehörigkeit. E-mail: amerhlehel@gmail.com
(Stand: 2007)
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