JULIA MARX

GROS MOTS, PETITS SABOTS (FRÉDÉRIC GONSETH, CATHERINE AZAD)

SELECTION CINEMA

Der Lausanner Filmemacher Frédéric Gonseth hat in seinem in Indien entstandenen Dokumentarfilm La cité animale (2000) der Koexistenz von Mensch und Tier nachgespürt sowie ganze Porträtreihen gedreht, deren Protagonisten auf Wanderwegen unterwegs waren. Für Gros mots, petits sabots hat er vier Jugendliche aus einem Erziehungsheim dazu animiert, eine Woche lang mit Pferden durchs Emmental zu wandern und sich dabei von seiner Steadicam filmen zu lassen.

Der Film wurde zum pädagogischen Experiment – einem mühsamen für die Teilnehmer: Die grossen Tiere ziehen die Burschen öfter mit, als sie sich brav am Halfter führen lassen, oder bleiben einfach stehen. Am zweiten Tag begegnet die Gruppe Jean-Marc Mayor, einem echten «Pferdeflüsterer» mit Cowboyhut. Seine Pferdefarm «Cheval mon ami» war schon Gegenstand einer gleichnamigen Dokumentation der Koregisseurin Catherine Azad; nun sollen die Jungen bei ihm die Kommunikation mit Pferden lernen. Die Aufgabe, die Mayor ihnen stellt, scheint schier unlösbar: ein Pferd, ohne es zu berühren, im Kreis traben zu lassen, viermal in die eine, viermal in die andere Richtung. Da helfen weder gute Worte noch ein hingehaltenes Grasbüschel - die Mähre bleibt ungerührt. Umso verblüffender wirkt die scheinbare Leichtigkeit, mit der Mayor die Tiere mittels weniger Gesten zur Kooperation bewegt. Das Gezeigte nachzuahmen, gelingt dann einigen gut, anderen weniger. Besonders schlecht schneidet einer der beiden begleitenden Pädagogen ab. Der bekommt von einem stämmigen Ross einen Tritt versetzt.

Es ist ein Experiment, bei dem die Widerspenstigen sich gegenseitig zähmen sollen. Denn zwischen den Jugendlichen und den Pferden werden deutliche Parallelen gezogen: Beide sind sie aggressiv und schwer erziehbar, bei beiden wird dies auf schlechte Erfahrungen mit Menschen respektive Erwachsenen und Vertrauensverlust zurückgeführt. Es stört allerdings, dass die Interviewerin versucht, den Jungen die Erkenntnis dieser Gemeinsamkeiten und die Schlussfolgerung «Man kann sich auch ohne Gewalt durchsetzen» praktisch in den Mund zu legen. Aussagekräftiger – weil spontaner – ist da die Einstellung auf die vier verstummten und nachdenklich dreinschauenden Burschen, denen Mayor gerade erzählt hat, dass die ungebärdigen Tiere schon fürs Schlachthaus bestimmt gewesen waren.

Mit den häufigen Ansichten von Menschen und Tieren, wie sie durch die Landschaft stapfen (leider mit aufdringlichen, kitschigen Flötenklängen und Chorälen untermalt), kontrastieren die gelegentlich dazwischengestreuten Videoaufnahmen eines Betreuers. Der richtet seine Kamera mit Vorliebe auf einen fünfzehnjährigen Albaner, der dabei stets ausfällig wird. Während der achtzehnjährige Rap- und Baudelaire-Fan aus dem Kosovo und die beiden jüngeren Schweizer nicht weiter auffallen, muss dieser Junge am vierten Tag nach Hause.

«Man darf sich nicht auf das schlimmste Kind konzentrieren», meint einer der Betreuer einmal. Aber im Film gelten andere Regeln als in der Erziehung, und so verlieren wir mit ihm die heimliche Hauptfigur.

Julia Marx
geb. 1974 in München, studierte Filmwissenschaft, Publizistikwissenschaft und Germanistik in Zürich. Doktorandin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und seit 1998 Filmkritikerin für den «Tages-Anzeiger».
(Stand: 2007)
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