DORIS SENN

RACHEL (FRÉDÉRIC MERMOUD)

SELECTION CINEMA

Rachel – eine junge Studentin – verdient sich ihr Taschengeld als Babysitterin des kleinen Hugo. Weil sie die Nacht über bleiben muss, vereinbart sie mit ihrer Freundin Christine, dass diese ihr Gesellschaft leistet, sobald Hugos Vater aus dem Haus ist. Christine trudelt ein, erkundet forsch die Wohnung, die beiden sprechen über sich, über ihre Freunde Boris und Antoine, die wenig später dazukommen.

So das Exposé für Frédéric Mermouds Kurzfilm Rachel, der – unter demselben Namen und mit derselben Hauptdarstellerin (Nina Meurisse) – die Geschichte seines vorhergehenden Kurzfilms L’escalier (2002) fortsetzt. Wie dort geht es auch in Rachel um die liebe Not mit dem «ersten Mal» – das in L’escalier angepeilt, aber «verpasst» wurde –, um dieses Mittendrin zwischen Jung und Erwachsen, um das Zaudern zwischen Begehren, Anziehung und Verführung. Mit Handkamera und Jump Cuts skizziert Mermoud mit wenigen Strichen seine Geschichte: wie die vier sich ungeniert in der schicken Wohnung fläzen – trinken, rauchen, tanzen. Wie Christine mit ihrem Boris rumschmust und sich ins Schlafzimmer absetzt, während Rachel mit Antoine einzig den Joint und verlegene Blicke austauscht. In dieses Knistern platzt der Vater des kleinen Hugo, der früher als geplant zurückkommt. Die Jugendlichen verziehen sich, mit Ausnahme von Rachel, die noch bleibt, um aufzuräumen. Und da passiert’s – wie von selbst und als kleine Implosion aus Beschämtheit und erotischer Spannung: Rachel landet in den Armen von Hugos Vater – ohne Wenn und Aber. «Ich denke, es ist besser, wenn ich nicht mehr komme», meint Rachel anschliessend und verabschiedet sich. Im Spiegel des Lifts schaut sie sich dann in die Augen: verschmitzt lächelnd, ihr Gesicht noch von der Glut des leidenschaftlichen Flashs gezeichnet. Die Hürde ist geschafft – wenn auch mit einer etwas anderen Besetzung als geplant. Unten wartet Antoine. Mit ihm fährt sie davon, in die Nacht ...

Die überzeugenden Darsteller und Darstellerinnen, die Dialoge, die aus dem Moment zu entstehen scheinen, und die dynamische Inszenierung machen Rachel zu einem dichten kleinen Erzählfragment, das die Gefühlsregungen dieser jungen Erwachsenen ausgesprochen authentisch zu umreissen vermag.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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