SONJA EISL

LA LISTE DE CARLA (MARCEL SCHÜPBACH)

SELECTION CINEMA

«Einen Schritt nach vorn und einen zurück», so kommentiert die ehemalige Schweizer Bundesanwältin Carla Del Ponte den zwiespältigen Erfolg ihrer Arbeit beim International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia. Als Chefanklägerin versucht Del Ponte seit 1995 eine Reihe von mutmasslichen Kriegsverbrechern und Drahtziehern der Gräueltaten des Bosnienkriegs vor den Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen. Ein Wettlauf gegen die Zeit. Einige wurden bereits zur Verantwortung gezogen, doch die «big fishes» auf der Liste (etwa der kroatische General Ante Gotovina, der bosnisch-serbische General Ratko Mladiƒ und dessen Vorgesetzter, Ex-Präsident Radovan Karadžƒ) sind weiterhin flüchtig, untergetaucht – gedeckt und geschützt von Verbündeten.

Mit dem investigativen Dokumentarfilm La liste de Carla erhält die Öffentlichkeit erstmals einen hautnahen Einblick in die schwierige, oft zermürbende Ermittlungsarbeit von Del Ponte und ihrem Team. Nach ähnlichem Muster wie zuvor in B comme Béjart (CH/B/F 2002) heftet sich der Lausanner Filmemacher Marcel Schüpbach fünf Monate lang an die Fersen eines Menschen, dessen Wesen ganz und gar von seiner Mission durchdrungen scheint. So begleiten wir die zuweilen fast übermotiviert wirkende Juristin auf ihren Reisen (im geliehenen Bundesratsjet) zwischen Belgrad, Lugano und New York. Wir sehen zu, wie sie zwischen Büro- und Lifttür von den Mitstreitern für bevorstehende Meetings gebrieft oder mit viel Sirenengeheul und schwarzlimousinigem Trara – angeblich ist sie eine der bestbewachten Frauen der Welt – von A nach B gefahren wird. Wir sind dabei, wenn sie im intimen Kreis in sarkastischem Ton über die theatralen Strategien verschiedener involvierter Machthaber witzelt und hören zu, als sie ihre schonungslose Rede vor den in corpore versteinerten Gesichtern des UN-Sicherheitsrats hält. An Pressekonferenzen und in Interviewsequenzen gibt sie sich betont zäh und kampfgeistig, doch schnell wird klar: Del Ponte legt die Fäden zwar aus, aber es sind andere, die sie in Händen halten.

Das «Drehbuch» zu La liste de Carla hat grösstenteils der Zufall geschrieben. So ist es im Wesentlichen dem Schnitt zu verdanken, dass – neben einigen ereignishaften Momenten – auch das weniger spektakuläre Filmmaterial nun eine eindrückliche Story erzählt, die nur manchmal etwas spannender sein möchte, als sie es ist: Stellenweise gleitet der Film – durch den reisserischen Kommentar oder die dramatische Musik – etwas ins Crime-Doku-Genre nach amerikanischem Vorbild ab, was er gar nicht nötig hätte. Ein wahrer Kontrast dazu sind die Aufnahmen der hinterbliebenen Frauen des Massakers von Srebrenica. Mit viel Feingefühl eingeflochten, bilden sie den zweiten Handlungsstrang und zeugen von einer ohmächtigen Stille. 2005, zehn Jahre danach, werden die Opfer in einer Zeremonie zu Grabe getragen, die meisten unidentifizierbar. Die Männer und Söhne, die sie einmal gewesen waren, bleiben für ihre Frauen und Mütter für immer verschollen und bis zum heutigen Tag ungesühnt. Mit diesen Bildern wird deutlich, dass es bei Del Pontes Arbeit, aber auch bei La liste de Carla um weit mehr als eine (leinwandtaugliche) Verbrecherjagd geht. Mit Argusaugen beobachten die Witwen jede Geste Del Pontes: «Es ist gut, dass ein Frau die Anklage vertritt», meint Zumra Sehomerovic von Mothers of Srebrenica, einer Selbsthilfeorganisation der hinterbliebenen Mütter und Witwen, «Frauen fühlen mehr und verstehen die Dinge besser.»

Sonja Eisl
*1976, Studium der Theaterwissen­schaft, Film­­wissenschaft und der Neusten Geschich- te in Bern und Zürich. Sie arbeitet im Theater Tuch­laube (Aarau) im Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Dramaturgie und lebt in Bern.
(Stand: 2010)
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