THOMAS HUNZIKER

RETOUR À GORÉE (PIERRE-IVES BORGEAUD)

SELECTION CINEMA

Vor der Küste von Senegal liegt die kleine Insel Gorée. Während 350 Jahren diente sie als Zentrum des Sklavenhandels. Von hier aus wurden bis zur Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1848 Millionen von Afrikanern in Ketten nach Nord- und Südamerika verschifft. 1978 wurde die Insel zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt. Sie dient heute als Gedenkstätte gegen den Sklavenhandel.

Youssou N’Dour, Sänger und Komponist aus Senegal, der 1994 mit der Single 7 Seconds zu Weltruhm gelangte, macht sich in Retour à Gorée auf die Spuren seiner entführten Vorfahren. N’Dour stammt aus einer Familie von Griot-Musikern und sieht seine Lebensaufgabe ganz in der Tradition der Griots darin, das Wissen seiner Kultur in Liedern zu vermitteln. Retour à Gorée handelt von der Diaspora der Afrikaner und ihrer Musik. Durch den Sklavenhandel sind nämlich nicht nur Arbeitskräfte verschleppt worden, auch die Musik aus Afrika erreichte die Neue Welt.

N’Dour setzt sich zum Ziel, auf seiner Reise von Gorée nach Nordamerika, Europa und zurück nach Gorée die afrikanischen Einflüsse auf die Musik – vom Jazz über den Blues, vom Gospel bis zum Latin – aufzuspüren und diese Klänge wieder an ihren Ursprungsort zurückzubringen. Am Ende soll ein Konzert auf der ehemaligen Sklaveninsel die Kulturen zusammenführen und verschmelzen.

Die erste Station führt N’Dour nach Atlanta, wo er sich mit dem blinden Pianisten Moncef Genoud aus Genf trifft, der ihn auf seiner Reise durch die USA und Europa begleiten wird. Dort treffen die beiden Musiker auch den Gospelchor Harmony Harmoneers. In New Orleans begegnen sie dem Drummer Idris Muhammad und dem Bassisten James Cammack, in New York der Vokalistin Pyeng Threadgill und dem Mundharmonikaspieler Grégoire Maret, in Luxemburg schliesslich noch zwei europäischen Musikern, dem Gitarristen Ernie Hammes und dem Trompeter Wolfgang Muthspiel. Durch das Aufeinandertreffen der verschiedenen Musiktraditionen verändern sich die Lieder aller Beteiligten, sie werden von Jazz, Gospel und anderen Stilen durchdrungen.

Die musikalischen Begegnungen und die Proben in den Tonstudios stehen im Zentrum des Dokumentarfilms des Westschweizer Regisseurs Pierre-Yves Borgeaud, der 2003 in Locarno zusammen mit Stéphane Blok für den Spielfilm iXième, Journal d’un prisonnier mit dem Goldenen Leoparden im Internationalen Videowettbewerb ausgezeichnet worden ist. Dreh- und Angelpunkt ist Projektleiter Youssou N’Dour. Gefühlvoll tasten sich die Musiker an die unterschiedlichen Musikverständnisse heran. Nur das Schlusskonzert, in dem diese vielen Stimmen zueinander finden sollen, wird viel zu früh abgebrochen.

Für Borgeaud war offensichtlich der Weg das Ziel, dabei hätte eine straffere Inszenierung dem Film gut getan. Zwischendurch verliert er sich in kleinen Episoden, die vom eigentlichen Projekt ablenken – etwa wenn N’Dour und Genoud hinter der Bühne auf ihren Auftritt warten oder wenn Threadgill von einer Sängerin aus Senegal in ein belangloses Gespräch verwickelt wird. Diese Szenen verleihen dem Film zweifellos viel Lokalkolorit, machen daraus aber in erster Linie ein Tagebuch eines Musikers auf Weltreise.

Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)
www.schueren-verlag.de
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