MARTINA HUBER

SIEBEN MULDEN UND EINE LEICHE (THOMAS HAEMMERLI)

SELECTION CINEMA

Als ihre Mutter Bruna Haemmerli, geb. Brünhilde Hortense Meurer von Infeld, stirbt, erben Thomas und Erik Haemmerli Schulden und einen Berg von Material: Haushaltsgegenstände, Bücher, Kleider, Tontöpfe und ganz viel Papier. Die Frau lag einige Tage tot in der Wohnung, und der Leichengeruch verwandelte den Grossteil der Dinge in einen Haufen Abfall, den es nun in einer einmonatigen Aufräumaktion wegzuräumen gilt.

Zum Vorschein kommt ein reicher Fundus an Super-8-Filmen, Fotos, Gerichtsakten, Briefen und Zeitungsausschnitten – und die Biografie einer Frau, für die sich die Söhne zuletzt wenig interessiert hatten. Das Verhältnis zur Mutter war seit Jahren ein distanziertes, und der Regisseur nimmt die Kamera zur Hand, um weiterhin Abstand zu wahren. Dabei rückt er zwei Erzählstränge in den Vordergrund: einerseits eine Geschichte über das Aufräumen und die Wiederherstellung von Ordnung, andererseits das Ausgraben einer verwirrenden, zunehmend chaotischen Familiengeschichte. Haemmerli propagiert seinen Film als eine spöttische, ironische Komödie über das Phänomen «Messie», mit der Absicht, das Bild einer scheinbar makellosen Familie zu demontieren. Er bringt unangenehme Familienangelegenheiten zur Sprache und kennt keine Tabus, wenn es um verstorbene Familienmitglieder geht.

Sieben Mulden und eine Leiche kann nicht nur als eine Geschichte über Aufbewahrungszwänge und Schädlingsbekämpfungsfirmen gelesen werden, denn die Biografie der Mutter ist historisch ebenso interessant wie die Reaktion der Söhne zeitgeschichtlich aufschlussreich. Erzählt wird die Lebensgeschichte einer privilegierten, schönen und intelligenten Frau im

20. Jahrhundert. Sie wurde in den 1960er-Jahren den Erwartungen ihres vermögenden Ehemannes – als Hausfrau und Mutter eine innere und äussere Gemütlichkeit zu schaffen – nicht gerecht, wurde betrogen, in ihrer körperlichen Integrität verletzt und schliesslich geschieden. Ein solches Leben führt nicht zwangsläufig zu Verwahrlosung und zur Adoption zahlloser Katzen, aber es erstaunt dann doch, dass der intellektuelle Filmemacher verständnisresistent weder Zusammenhänge herstellt noch Geschlechterrollen reflektiert. Der Wille zur Komödie verhindert eine empathische Spurensuche. Das Ergebnis ist ein öffentliches Verhandeln einer privaten Tragödie, sodass die im Film fehlende Reflexionsebene anlässlich der Veröffentlichung des Filmes mit Erklärungs- und Rechtfertigungsarbeit nachgeliefert werden musste.

Ebenfalls interessant ist, wie der in der Zürcher 80er-Bewegung aktive Sohn heute noch gegen das bürgerliche Elternhaus ankämpft und sich dabei unter Künstlerfreunden seiner Unspiessigkeit versichert. Weil Verdrängung zum Konzept gehört, dürfte der Film auch für ein psychoanalytisch geschultes Publikum aufschlussreich sein, denn die Frage bleibt, warum Haemmerli nach dem Tod der Mutter den Wunsch verspürt, sich öffentlich über sie lustig zu machen. Der Film ist eine Fundgrube mit vielfältigem Deutungsangebot und nicht zuletzt deshalb reizvoll, weil er kontrovers diskutiert werden kann.

Martina Huber
*1971, Studium der Allgemeinen Geschichte und Filmwissenschaft auf dem zweiten Bildungsweg an der Universität Zürich. Lebt in Zürich.
(Stand: 2011)
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