RENÉ MÜLLER

JOHLE UND WERCHE (THOMAS LÜCHINGER)

SELECTION CINEMA

Prachtvoll geschmückt hängen die wuchtigen Schellen den Kühen um den Hals. Ohne sie begehen die Wiederkäuer keinen Alpaufzug. Der stete Klang der massiven Glocken läutet den Sommer ein. Das Handwerk des Schellenschmiedens wurde im Toggenburg über Generationen hinweg weitergegeben – heute kennt die Geheimnisse der Schellenproduktion jedoch fast niemand mehr. Wie viele bäuerliche Traditionen ist sie vom Aussterben bedroht.

Erkundete der Filmemacher Thomas Lüchinger in seinem letzten Film Schritte der Achtsamkeit (CH 1998) die fremde Welt des Buddhismus, mutet das Thema seines aktuellen Dokumentarfilms nicht minder exotisch an: Lüchinger ist in Johle und Werche dem toggenburgischen Naturjodel auf der Spur. Es ist kein Zufall, dass sich die aufwändige Herstellung einer Schelle als dramaturgischer Faden durch den Musikdokumentarfilm zieht. Ihr Klang gilt als Inspirationsquelle für den Naturjodel, der ohne Worte, nur mit Silben unterlegt, gesungen wird. Zudem bildet der rustikale Herstellungsprozess ein treffliches Sinnbild für den Einklang von Arbeit, Natur und Musik. Der Schellenschmied Emil Mattle ist einer der Wenigen, der die Geheimnisse seines Faches noch pflegt. Lüchinger beobachtet ihn unaufdringlich bei der archaisch anmutenden Arbeit. Gesprochen wird wenig in diesem Film, der wesentlich von der Stimmung des Naturjodels getragen wird. Einzig der Komponist und Musiker Peter Roth kommt ausführlicher zu Wort. Mit seinem Chor engagiert sich Roth für die Bewahrung des Naturjodels. Diese Berufung erweist sich insofern als besonders anspruchsvoll, als es sich um eine «orale Musik» handelt, die primär übers Hören erlernt und überliefert wird. Umtriebig setzt sich Roth denn auch mit Kursen und Konzerten für die Erhaltung dieser Tradition ein. Brauchtum pflegen bedeutet keinen rückwärtsgerichteten Stillstand – was bei einer derart flüchtigen Kunstform sowieso nur bedingt möglich wäre. Lüchingers singende Protagonisten demonstrieren auf überzeugende Weise, dass es möglich ist, Traditionen herauszufordern, sie lebendig und authentisch zu halten. Fernab von Kommerz und Kitsch wirkt ihr selbstbewusstes Juchzen erfrischend.

Thomas Lüchinger hat zwei Jahre an Johle und Werche gearbeitet. Immer wieder ist er ins Toggenburg gefahren, hat Proben und Konzerte mitverfolgt, die Landschaft erkundet und sogar auf einer Alp mitgearbeitet – und dabei über 120 Stunden Rohmaterial gefilmt. Lüchinger weiss seine filmischen Mittel im Sinne der These des Films, die den Naturjodel im produktiven Einklang von Arbeit und Natur verortet, souverän und effektvoll einzusetzen. Im sparsamen Gebrauch von Sprache erinnert Johle und Werche an die Filme von Erich Langjahr. Doch wo Langjahrs Kino sperrig ruhig und auf intuitive Weise erzählt und dabei spielend gewitzte und kritische Töne anschlägt, bleibt Lüchinger konventionell. Seine Bilder scheren trotz der behutsamen Auswahl nur selten aus dem Rahmen ihrer illustrierenden Funktion aus – und vermögen so auch kaum zu überraschen. Dessen ungeachtet ist Johle und Werche ein Musikdokumentarfilm, dem man für seinen engagierten und undogmatischen Umgang mit einem spannenden Aspekt der Schweizer Folklore Nachklang wünscht.

René Müller
*1977, Studium der Filmwissenschaft, Publizistik und Neueren Deutschen Literatur in Zürich und Paris. Er ist beim Migros Museum für Gegenwartskunst für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Von 2007 bis 2012 Redaktionsmitglied von CINEMA.
(Stand: 2014)
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