SONJA EISL

O MEIN PAPA (FELICE ZENONI)

SELECTION CINEMA

Es begann mit vier aufeinanderfolgenden Noten in derselben Tonhöhe. Was folgte, war der sogenannte Durchbruch im internationalen Musikgeschäft. «O mein Papa» tönte es bald polyglott rund um den Globus; ein Nummer- eins-Hit in den amerikanischen Billboard-Charts, der Dean Martins «That’s Amore» deklassierte! Der Beginn eines Erfolgsmärchens à la Hollywood hätte das werden können. Stattdessen entwuchs daraus eine durch und durch schweizerische (Lebens-)Geschichte, die von Fleiss und Pflichtbewusstsein, von Heimatverbundenheit und Volkstümlichkeit handelt – und von den dahinter steckenden Sehnsüchten und Träumen, dem Weltschmerz und der Trauer um die vielen verpassten Chancen. Es ist die Geschichte von Paul Burkhart, dem (kommerziell) erfolgreichsten Schweizer Komponisten, dem musikalischen Wunderkind und Tausendsassa, der auf allen Hochzeiten tanzte, nur nicht auf der eigenen. Felice Zenoni, erfahrener Radio- und TV-Journalist, lässt sie 30 Jahre nach Burkharts Tod in einem ambitionierten Dokumentarfilm nochmals Revue passieren.

Ausgehend vom namengebenden Liedtitel arbeitet sich Zenoni durch vier Jahrzehnte helvetischer Musik- und Theatergeschichte. Der Fundus, der ihm zur Verfügung stand, ist beeindruckend und verführerisch, wie die Introsequenz – ein symbolischer Kofferfund auf Burkharts Estrich – vorführt: Briefe, Fotos, alte Film- und Tonaufnahmen, Partituren sowie rund 20 000 Tagebuchseiten. Diese schiere Überfülle an Archivmaterial ist das grösste Potenzial des Films, denn sie liefert die perfekte Mischung aus Witz und Tragik, wie sie eben nur das Leben bereithält. Zugleich aber ist sie auch die grösste Hypothek von O mein Papa, denn Zenoni, der bereits diverse Fernsehdokumentationen u. a. über Schweizer Künstlerpersönlichkeiten realisiert hat, will in seinem ersten Kinofilm die Vita Paul Burkharts in ihrer Gesamtheit ausloten. Er tut dies respektvoll ohne zu werten und ohne einem Aspekt den Vorzug vor den anderen zu geben.

Viel gelingt ihm in diesen kurzen 87 Minuten und doch hat man am Ende das Gefühl, bloss den Speck durch den Mund gezogen bekommen zu haben. Türchen um Türchen wird geöffnet, dahinter private Themen wie unglückliche Liebschaften, Geschwisterliebe, Mutterverehrung, Angst vor Ablehnung (als Homosexueller), Religiosität ... verbunden mit den vielen professionellen Gesichtern Burkharts zwischen unverstandenem Genie und populärem «Operettenfritze». Es wäre vielleicht adäquater gewesen, sich auf einige Aspekte zu beschränken oder aber die Form des Fernsehmehrteilers zu wählen. Dies, zumal Zenoni das Originalmaterial zusätzlich ergänzt mit Interviews von Zeitzeugen und Bekannten Burkharts, kleinen fiktiven – leider überflüssigen – Spieleinlagen sowie einer Dokumentation über die – anlässlich des Filmes initiierte – Neuaufnahme der (un)bekannten Hits durch prominente Schweizer Künstler unter der Leitung von Greg Galli. Letztere hat dramaturgische Funktion und demonstriert quasi die Unsterblichkeit von Burkharts generationenverbindenden Evergreens aus der Kleinen Niederdorfoper, dem Schwarzen Hecht oder der Zäller Wiehnacht. Eine schöne Idee, die teilweise sehr stimmig ist und einen intimen Blick auf die zeitgenössischen Talente zulässt. Gleichzeitig unterbricht dieser Blick hinter die Kulissen aber oft den Erzählfluss und stiehlt dem eigentlichen Protagonisten die Show. Damit bewahrheitet sich auch der bekannte Refrain, den Hugo Loetscher zuvor als Burkharts (selbst empfundene) Lebenswahrheit entlarvt hat: «Für alli andere schiint d Sunne, mir mag halt niemert öppis gunne.»

Sonja Eisl
*1976, Studium der Theaterwissen­schaft, Film­­wissenschaft und der Neusten Geschich- te in Bern und Zürich. Sie arbeitet im Theater Tuch­laube (Aarau) im Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Dramaturgie und lebt in Bern.
(Stand: 2010)
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