LAURA DANIEL

NEW YORK – ARE YOU TUNING IN?

ESSAY

Alle kommen sie – immer noch – nach New York, um ihre Träume zu leben und bleiben dann entweder, weil sie zu den Wenigen gehören, die reüssieren, oder, weil sie immer noch daran glauben möchten, dass ihre Träume eines Tages wahr werden. Wieder andere können sich nicht eingestehen, dass sie gescheitert sind. Wenn doch, dann verlassen sie die Stadt schnell: Für diejenigen, die aufgehört haben zu träumen, gibt es hier nämlich keinen Platz. Paradoxerweise ist damit der American Dream gerade in dem doch so unamerikanischen New York noch immer am Leben. Wie heisst es doch so schön: «If you can make it there, you’ll make it anywhere.»

New York City ist eine Stadt der Träumer und somit zur Filmstadt prädestiniert. Es gibt wenige Orte auf der Welt, an denen mehr Filme produziert werden. Obwohl seit einiger Zeit Filme, die in New York spielen, oftmals an günstigeren Standorten, wie Vancouver oder Toronto gedreht werden, wird es jährlich immer noch 40 000 mal zum Set – für Werbung, Film, Fernsehen, Serien, Musikvideos oder Dokumentarfilme. 2006 wurden täglich 100 Produktionen realisiert, und dabei handelt es sich nur um diejenigen, die mit der Erlaubnis des zuständigen Departements produziert wurden. Mit Sicherheit kommen noch einige mehr hinzu, wenn man die Guerilla-Projekte mitzählt. Seitdem Bürgermeister Michael Bloomberg Produktionsfirmen steuerlich begünstigt, die ihre Produktionen vor Ort realisieren, lässt sich sogar noch ein weiterer Anstieg verzeichnen.1 Es ist also nicht weiter erstaunlich, dass hiesige Filmdrehs meist nüchtern zur Kenntnis genommen werden, selten bleibt einer stehen und beobachtet das Geschehen. Ein nächtlicher Filmdreh in einer ruhigen Quartierstrasse in Brooklyn wird ohne Murren toleriert und es erfüllt die Quartierbewohner mit Stolz, dass ihr Block nun auch auf Film verewigt wurde. Hier ist es etwa so normal, Filmemacher oder Musiker zu sein, wie in der Schweiz Bankangestellter.

Selbst «unechte» New Yorker spüren intuitiv, dass es zum guten Ton gehört, New York dafür zu schätzen, wofür es bekannt ist: Der Ruf, der dieser Weltstadt vorauseilt, ist grösser als es die Stadt jemals sein könnte. Denn so grossartig diese Metropole an sich auch ist, so hat sie als Filmstadt nebst der angenehmen Nebenerscheinung, dass man sie im Film nicht riechen muss, noch einiges mehr an Glamour zu bieten. Wie manch fotogener Mensch, sieht sie auf Film einfach noch eine Spur besser aus. In Celluloid Skyline2 spricht der Architekt James Sanders davon, dass eigentlich zwei Städte mit dem Namen New York existieren:

One is the real city, an urban agglomeration of millions. The other is a mythic city, a dream city, born of the most pervasive of media, the movies. [...] The dream city may not be quite familiar, but we know it just as well. For decades we have been visiting it, inhabiting it, thrilling to it – to its cocktail parties and power lunches, its subway chases and opening nights, its playground rumbles and penthouse romances. [...] For over a century, movies have been made about New York. Taken as a whole, they offer more than just another genre: they have pieced together, in film after film, the lineaments of a single, coherent place, a place where remarkable people do exciting, amusing, romantic, scary things. It is a ‘city’ so dense in texture, so rich in memory and association and sense of place, that it forms an astonishing urban presence. In its deepest sense, after all, a great city is more than a geographic or economic entity: it is a distinct locus of image and style, memory and dreams. This is precisely what the New York of the movies offers.3

Die mythische Stadt New York führt ein Eigenleben, sie ist mehr als die Summe ihrer Bilder, mehr als ihre Skyline, als Worte, die sie beschreiben, oder Musik, die sie zu ihrem Thema macht. Es ist diese andere Stadt, die den realen Bewohnern das Gefühl verleiht, als läge etwas in der Luft, etwas Grossartiges, an dem sie täglich aufs Neue teilhaben können. Es ist die Idee der Stadt, die im Gegensatz zur realen Polis auch jene erreicht, welche sie nie besucht haben, und den Menschen aus aller Welt das Gefühl verleiht, sie würden sie irgendwie kennen.

Von King Kong (Merian C. Cooper, Ernest B. Schoedsack, USA 1933) über Rear Window (Alfred Hitchcock, USA 1954), von Breakfast at Tiffany’s (Blake Edwards, USA 1961) und gar The 5th Element (Luc Besson, F/USA 1997) bis hin zu Sex and the City (Michael Patrick King, USA 2008) – ständig festigen neue Bilder den Ikonen-Status New Yorks. Dass gerade Klassiker wie King Kong und Rear Window gar nicht in New York, sondern in Studios in Hollywood gedreht wurden, kann den Glanz des Mythos nicht schmälern.

Ob in der Vergangenheit oder Zukunft angesiedelt, immer bleibt die Filmstadt New York für Filmliebhaber erkennbar. Sanders führt an, dass Hollywoods Obsession mit dem Setting der Metropole nicht zuletzt mit der Sehnsucht der New Yorker Autoren, Bühnenbildner, Regisseure und Produzenten nach ihrer Stadt zusammenhängt, aus der sie von den Studios an die Westküste gelockt wurden. Nach dem Aufkommen des Tonfilms folgte ein Zusammenbruch der New Yorker Filmindustrie. Mehr Ruhe und mehr Platz liessen dagegen die Produktion an der Westküste aufblühen. Zwar verzichtete man gerne auf die erschwerten Produktionsbedingungen der Stadt, nicht aber auf die Stadt selbst. Und so entstand eine Traum- und Filmstadt New York, die noch glamouröser war als die reale Metropole, vorerst in den Studios unter kalifornischer Sonne. Damit wurde der Grundstein für das mythische New York gelegt, das wir alle kennen.

Bis heute trägt die Stadt nicht unwesentlich zur Attraktivität der Filme bei, die sie als Setting wählen, wenn man nicht sogar behaupten kann, dass sie in vielen davon die Hauptrolle spielt. Was wären Carrie und Co. ohne New Yorker Yellow Cabs oder die Park Avenue? Was wäre Woody Allen ohne den Central Park oder die Apartments an der Upper East Side?

Es scheint fast so, als wären New York und der Film füreinander geschaffen worden. New York ist dynamisch, ruhelos und damit ideal für das bewegte Bild. Es ist eine Stadt der Handlung, ein Ort, an dem etwas passiert: Perfekt also für ein Medium, dass sich eher damit beschäftigt, was es zu sehen gibt, als damit, was man sich vorstellen kann. Es ist eine Stadt mit immanenter Bildsprache, scharfen Vertikalen und Horizontalen, voll heller Flächen und dunkler Schatten. Dabei sieht sie auf Film nicht nur gut aus, sie bietet als Setting auch in dramaturgischer Hinsicht unzählige Möglichkeiten: Sie ist ein geborener Geschichtenerzähler. Mehr als andere Städte bietet sie soziale Mobilität – in beide Richtungen. Dies macht sie zum idealen Ort für Geschichten, in denen es um den Aufstieg oder Fall einer Figur geht. Die Reise von der Lower East Side, wo die meisten Immigranten einst ankamen, bis zur Upper East oder West Side kann hier – zugegebenermassen nur in einigen wenigen Fällen –, wenige Monate oder auch Generationen dauern.

Trotz hartem Konkurrenzkampf existiert unter den unzähligen Kunst- und Kulturschaffenden in New York ein geradezu verschwörerisches Gemeinschaftsgefühl. Hier sitzen sie alle in einem Boot, die Träumer in ihrer Traumstadt, die dazu anregt «ihre Kunst» zu leben. Dies bedeutet aber auch, dass jeder mit unverhohlener Kritik rechnen muss. New Yorker nehmen kein Blatt vor den Mund und erachten es als ihre Pflicht, Lob und Kritik unverzüglich zu äussern. Dies beschränkt sich nicht nur auf politische Meinungsdebatten oder auf Kunst und Kultur. Ob im Restaurant, beim Einkaufen oder in der U-Bahn, ohne Scheu wird – meist distinguiert und charmant –, kommentiert, getadelt, gewettert und gelobt: I like your glasses, your necklace, your name, your accent ... you name it –. Dabei handelt es sich wohl um ein typisches «New York thing».

Das grosse Angebot, um nicht zu sagen Überangebot, drängt zu einer noch sorgfältigeren Auswahl als anderswo. Es ist fast unmöglich, den Überblick zu behalten, weil es derart viele Kinos gibt, vom Kellerkino bis zum Imax Theatre, wo wöchentlich unzählige Filme aus aller Welt anlaufen und wo es eine riesige Auswahl an Studiokinos gibt. Mehr als 30 Filmfestivals soll die Metropole ausserdem noch beherbergen, dazu kommen zahlreiche Filmklubs und im Sommer Open-Air-Kinos. Filmkritiken sind für New Yorker Film-Aficionados unverzichtbar, denn sie haben keine Zeit, ihre wenigen freien Stunden mit schlechter Unterhaltung zu vergeuden. Vielleicht erachten es die Filmkritiker deshalb als ihre Aufgabe, schonungslos zur Tat zu schreiten. Vielfalt scheint der Kritik und Kritikfähigkeit zu bekommen. Möglicherweise herrscht aus dem gleichen Grund die gegenteilige Situation in der Schweiz, die spärliche Produktion verführt zur Schonung und zu geradezu artschützerischer Hätschelei.

Dabei geht es nicht nur um Kritik bezüglich eines bestimmten Films, sondern auch bezüglich der Filmauswahl derjenigen, die die Fäden im New Yorker Kinogeschäft in den Händen halten. So gerät zum Beispiel Richard Peña, Programmdirektor der prestigeträchtigen Film Society des Lincoln Center und Vorsitzender des New York Film Festivals, aufgrund seiner Filmauswahl unter Beschuss. Dies geschieht nicht nur hinter vorgehaltener Hand, sondern auch in einem Magazin wie dem Time Out Magazine New York, einem vielgelesenen Ausgehmagazin – wohlgemerkt, nicht im Feuilleton. In der Ausgabe 653 im April 2008 warf man ihm unter anderem vor, gewissen Ländern wie Frankreich regelmässig zu einem Showcase zu verhelfen, andere hingegen nie zu berücksichtigen. Dabei hätte das Filmzentrum als Institution doch eine gewisse Verantwortung, so der Autor, das internationale Filmschaffen zu repräsentieren. Peña wehrt sich mit dem Argument, dass es nebst der Film Society auch andere Kanäle gebe, die das internationale Filmschaffen auf New Yorker Leinwände bringen, wie zum Beispiel das BAM (Brooklyn Academy of Music), das Film Forum oder das MoMa und räumt ein, dass es erstens mehrere Interpretationen für das Wort «repräsentativ» gebe, und zweitens, dass natürlich auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle spielten. So existiert ein loyales francophiles Publikum, das dem Filmzentrum gut besuchte Kinovorführungen garantiert. Zum Abschluss meint Peña: «We have a track record, and I think the festival has done a pretty good job over the years of showcasing important filmmakers and movements. If you agree, you stick with us. If you don’t, you don’t.»

Die letzen beiden Sätze sind symptomatisch für New York: Nichts muss kommentarlos akzeptiert werden. Mag man dieses Restaurant nicht, dann geht man das nächste Mal in ein anderes, passt einem die Ausstattung des Kinos nicht, dann setzt man sich beim nächsten Mal vor eine andere Leinwand, und eben, mag man den einen Filmkritiker nicht, so liest man ab sofort, was ein anderer zu sagen hat.

Natürlich ist es auch hier ein Nachteil, in der Presse einen Verriss zu kassieren, aufgrund der Grösse und der herrschenden Vielfalt muss es aber nicht fatal sein. Und dabei kann New Yorker Filmkritik beissend sein. Eine Kostprobe gefällig? Zu Renée Zellwegers Leistung in Leatherheads (USA/D 2008), der romantischen Komödie mit und von George Clooney: «When Zellweger tries to attain motormouth velocity, the pace falls three beats behind and everybody else scrambles to regain lost ground. In any other comedy she’d merely be a weak link. For this fast-talking team effort, Zellweger is almost the kiss of death.»4 Oder nachdem die Synopsis zu Wong Kar Wais Roadmovie My Blueberry Nights (HK/RC/F 2007), mit Norah Jones Natalie Portman und Jude Law, kurz geschildert wurde: «All of these groaner developments [...], feel like a tour of the waxiest 1990s clichés ever: When Portman and Jones end up driving a convertible toward the setting Western sun, you pray for a cliff to appear before them.»5 Oder zu Made of Honor (Paul Weiland, USA 2008), einer zugegebenermassen ziemlich vorhersehbaren Romantic Comedy, in der Patrick Dempsey einen ewigen Junggesellen und Weiberhelden gibt, der erst merkt, dass er sich in seine beste Freundin verliebt hat, als diese beschliesst einen Schotten zu heiraten, den sie eben mal eine Woche kennt: «Shouldn’t a chick flick this misogynistic cancel itself out and implode, thus sparing us the indignity of suffering through another predictable, emotionally barren ‘speak now or forever hold your peace’ moment? If only that was the low point of this inept, joyless exercise. [...] Romantic Comedies don’t need to cure cancer or alter the face of cinema forever but Made of Honor’s complete lack of ambition or originality shifts the film from the simply lazy category to downright insulting.»6

So lebhaft sich das Ganze anhört, auch in New York ist die Spezies des Filmkritikers und besonders die der «seriösen» Filmkritik gefährdet. Die New York Times berichtete am 1. April 2008 davon, dass einige Blätter ihre Vollzeit-Filmkritiker entlassen hätten, darunter Nathan Lee von The Village Voice, mehrere Angestellte bei Newsweek und Newsday sowie etliche weitere Journalisten in anderen Städten. Als Grund für die Entlassungen wurden unter anderem der rückgängige Absatz von Printmedien, respektive die starke Konkurrenz im Netz angegeben. Das florierende Blogwesen verleite einige dazu, den drohenden Untergang der Filmkritik in Amerika zu bestreiten und zu behaupten, dass Filmkritik heutzutage lediglich auf anderen Plattformen stattfindet, so der Tenor des Artikels. In der Tat herrscht Grossbetrieb auf Foren und Filmblogs wie indiewire.com, cinematical.com und blog.spout.com. Es muss an dem anfangs beschriebenen Mitteilungsdrang mancher New Yorker liegen, dass man online nicht nur zum neusten Batman-Film etliche Kritiken von Laien, Semiprofessionellen und professionellen Kritikern findet, sondern auch Wertungen zur nächstgelegenen Starbucks-Filiale, zum Quartierfrisör oder zur Textilreinigung. Doch kann dieser Diskurs über Film die traditionelle Filmkritik ersetzen?

For a certain kind of movie, critical accolades can mean the difference between rele-vance and obscurity, not to mention box office success or failure. [...] For those of us who are making work that requires a kind of intellectual conversation, we rely on that talk to do the work of getting people interested. [...] All of the talk about ‘No Country,’ all of the argument about the ending, kept that film in the forefront of the conversation and helped it win the best picture Oscar.7

So wird Scott Rudin, der No Country for Old Men (Ethan und Joel Coen, USA 2007) und There Will Be Blood (Paul Thomas Andersen, USA 2007) produzierte, in einem Artikel der New York Times zitiert, welcher die Überschrift Now on the Endangered Species List: Movie Critics in Print trägt. Filmkritik scheint also auch in der Filmstadt New York immer mehr zu einer reinen Produkteinformation zu verkommen.

New York ist mit 9/11 unsanft ins neue Jahrtausend gestartet. Nach Rudy Giuliani erlebt es mit Michael Bloomberg bereits den zweiten Bürgermeister, der für Ordnung und Sauberkeit sorgt. Gemäss Stadtveteranen zeigt deren Politik auch Wirkung: Nicht nur die New Yorker Boheme beklagt sich darüber, dass die Stadt nicht mehr das ist, was sie einmal war. Die Metapher vom «melting pot» wurde von der «salad bowl» abgelöst, die Türme des World Trade Centers stehen nicht mehr und Woody Allen präsentiert mit Vicky Cristina Barcelona (SP/USA 2008) schon wieder einen Film, der nicht in New York City spielt – und doch bleibt der Mythos dieser Stadt bestehen.

«Why so serious?», könnte man den kongenial von Heath Ledger dargestellten Joker aus The Dark Knight (Christopher Nolan, USA 2008) zitieren, einem Film, der mit seinen fantastischen Häuserschluchten ein weiteres Beispiel für die unzerstörbare Attraktivität der bigger Big City ist. Auch wenn im Film zahlreiche Bilder aus Chicago auftauchen, so stand seit jeher ohne Zweifel New York Pate für Gotham City. Der Begriff Gotham, dem man auch im heutigen New York vielerorts begegnet, ist seit Anfang des 19. Jahrhunderts als Synonym für die Stadt gebräuchlich. Und so liefert auch der jüngste Batman-Film einen weiteren Beweis dafür, dass hier eben das mythische, und nicht das reale New York gemeint ist. Dies wird mit Sicherheit nicht der letzte Film sein, «that wants to be a part of it, New York, New York»!

The Mayor’s office of Film, Theatre and Broadcasting; http://www.nyc.gov/html/film/ html/index/index.shtml.

James Sanders, Celluloid Skyline, New York 2002.

Ebd. S. 3–4.

David Fear, Timeout New York, April 3–9, 2008, Issue 653.

Joshua Rothkopf, Timeout New York, April 3–9, 2008, Issue 653.

Margaret Lyons, Timeout New York, May 1–7, 2008, Issue 657.

David Carr, «Now on the Endangered Species List: Movie Critics in Print», in: New York Times, April 1, 2008.

Laura Daniel
geb. 1978, studiert an der Universität Zürich Germanistik, Film­wissenschaft und Philosophie sowie klassischen Gesang, zeitgenössische Musik und Jazz. Mitglied der CINEM A-Redaktion seit 2002. Lebt in Zürich. Daniel Däuber, geb. 1966, hat in Zürich Filmwissenschaft studiert, u.a. für die Schweizer Filmzeitschriften Zoom und Film geschrieben, arbeitet zurzeit als Filmredaktor beim Schweizer Fernsehen.
(Stand: 2018)
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