SONJA WENGER

L’AUTRE MOITIÉ (ROLANDO COLLA)

SELECTION CINEMA

Zwei Brüder, zwei Kulturen, eine unterschwellige Sehnsucht: Der Film L’autre moitié erzählt von Hamid (Abel Jafri) und Louis (Kader Boukhanef), die als Kinder vor 35 Jahren getrennt wurden. Während der ältere Hamid bei seinem Vater und Grossvater in Algerien aufwuchs, blieb Louis bei der Schweizer Mutter und Grossmutter. Heil geblieben ist dabei keine der Seelen in der Familie.

Die Filme des Schweizer Regisseurs Rolando Colla handeln immer wieder von Rassismus, Migration und den Folgen der Schweizer Asylpolitik auf einzelne Menschen. Diesen Grundthemen hat der Regisseur mit L’autre moitié nun weitere Aspekte hinzugefügt. Der Film stellt einerseits die Frage nach der Identität und Zugehörigkeit jener Menschen, die nicht nur durch ihre Nationalität zu Grenzgängern gehören, und zeigt andererseits einen «Kampf der Kulturen», der sich in der mühsamen Annäherung zweier Brüder manifestiert.

So ist Hamid geprägt durch die zerrissene Kindheit. Er ist gezeichnet durch einen Gefängnisaufenthalt in Algerien aufgrund seiner Mitgliedschaft zur verbotenen Partei Islamische Heilsfront FIS und seine spätere Flucht ins belgische Exil. Dort führt er eine Ehe, in der die Emotionen ungleich verteilt sind, und arbeitet als Kurier für das verbotene Hawala-Netzwerk, durch das arabische Organisationen teilweise enorme Geldsummen verschieben. Hamid lebt in einer konstanten Paranoia, gleichzeitig getrieben durch die Angst, nach Algerien deportiert zu werden, und dem dominanten Gefühl, dass sich in seinem Leben etwas ändern muss.

Aus heiterem Himmel erhält Hamid einen Anruf von Louis, der ihn bittet, zur sterbenden Mutter in die Schweiz zu kommen. Doch die erste, von Misstrauen überschattete Begegnung zwischen den Brüdern könnte befremdlicher nicht sein: Zu tief scheint der Graben der Zeit, zu unterschiedlich die Erfahrungswelten, zu gross der Vertrauensverlust, den die Eltern den Söhnen vererbt haben. Kurz darauf gesteht Louis seinem Bruder, dass die Mutter bereits gestorben ist und sie direkt zur Beerdigung fahren. Als Hamid auch noch bei einer Polizeikontrolle verhaftet wird und ihn der Schweizer Geheimdienst wegen seiner Kurierdienste in die Mangel nimmt, wird aus seiner berechtigten Paranoia offene Aggressivität. Trotzdem insistiert und kämpft Louis weiter um die Liebe seines Bruders – allerdings ist auch seine Motivation dafür nicht so selbstlos, wie sie zuerst scheinen mag.

Dass viele Szenen aus L’autre moitié aufzuwühlen vermögen, liegt nicht nur an der sorgfältig aufgebauten Beziehung zwischen den Brüdern. Auch die von jeglichem Pathos befreite Bildsprache und dezente Filmmusik schaffen ein Gefühl der Realität und Nüchternheit, ohne die die Geschichte unweigerlich ins Schwülstige absinken würde.

Umso seltsamer muten bei dieser gekonnten Inszenierung allerdings jene Szenen an, in denen die wachsende Intimität zwischen den Brüdern durch einen teils surrealen Mix aus Politthriller, Beziehungsdrama und Actionfilm unterspült wird. Beinahe scheint es, der Film schiele stellenweise etwas zu stark nach Hollywood. Doch überspitzt dargestellte Polizeiaktionen hin oder her: Was im Gedächtnis hängen bleibt, ist in erster Linie das feine Spiel der Hauptdarsteller, die beim Internationalen Filmfestival von Amiens 2007 zu Recht gemeinsam den Preis für den Besten männlichen Darsteller erhielten.

Sonja Wenger
*1970, ist Auslandredaktorin bei der Wochenzeitung WOZ und schreibt für das Kulturmagazin Ensuite sowie für das Bieler Tagblatt. Sie ist Gründerin der Zürcher Theatergruppe The Take Five Theatre Company und arbeitet freiberuflich als Übersetzerin, Wissenschaftsredaktorin und Malerin.
(Stand: 2011)
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