CHRISTINA VON LEDEBUR

GLORIOUS EXIT (KEVIN MERZ)

SELECTION CINEMA

Jarreth Merz lebt als Schauspieler in Los Angeles. Der Sohn einer deutschen Mutter und eines nigerianischen Vaters ist in der Schweiz aufgewachsen. Eines Tages erhält der junge Mann die Nachricht vom Tod seines Vaters in Nigeria. Auf einmal erlangt der bis anhin unbekannte Vater eine grosse Bedeutung für Jarreth. Nach nigerianischer Tradition soll er nämlich als Erstgeborener für das Begräbnis des Vaters die Verantwortung übernehmen. Von seinem Halbbruder Kevin mit der Kamera begleitet, reist Jarreth nach Nigeria. Dort trifft er auf eine Grossfamilie, die ihn als einen der ihren begrüsst und ihm sofort die Verantwortung für die Organisation der Beerdigung und der Totenfeier übergibt. Sein Vater war ein angesehener Arzt und ihm gebührt ein prunkvoller Abschied. Ein Begräbnis ist aber in Nigeria von unzähligen Regeln und Traditionen bestimmt, an welche sich die Familien halten müssen. Das ist unter anderem mit einem grossen finanziellen Aufwand verbunden. Da will beispielsweise der Stamm von Jarreths Grossmutter eine Kuh als Geschenk, denn als Stamm der Mutter des Verstorbenen haben sie eigentlich Anspruch auf den toten Körper. Jarreth sieht sich vor die schwierige Aufgabe gestellt, im Wirrwarr von Aberglaube, Tradition und familiären Zwängen seinem Vater einen gebührenden Abschied zu bereiten, ohne seine Familie in den finanziellen Ruin zu treiben.

Der Schweizer Kameramann und Regisseur Kevin Merz drehte bisher vorwiegend Kurzfilme, widmete sich aber bereits in seinem Erstling Akwabaa (CH 2001) dem Dokumentarischen. Im langen Dokumentarfilm Glorious Exit begleitet er seinen Halbbruder auf eine sehr persönliche Reise zu seinen Wurzeln. Während Wochen weicht Kevin nicht von Jarreths Seite. Diese Intimität von Regisseur und Protagonist ist dem Film in jeder Einstellung anzusehen. Die Zuschauer werden ungewöhnlich nahe an die porträtierte Person herangelassen, erfahren die meisten Geschehnisse im genau gleichen Moment wie Jarreth. So bekommt man hautnah mit, in welche Konflikte Jarreth gerät, was dem Film eine beeindruckende Authentizität verleiht. Was für europäische Zuschauer unverständlich ist, versucht Jarreth so gut wie möglich zu erläutern. Eindrücklich ist insbesondere, mit welcher Bereitschaft sich der charismatische Jarreth, obwohl in Deutschland und der Schweiz aufgewachsen und nun in den USA wohnhaft, auf die Umstände in Nigeria einlassen kann. Er tut dies fast selbstverständlich, ohne aber seine europäisch geprägten Überzeugungen und Werte völlig in den Hintergrund zu stellen. Er ist einer von ihnen, weil er zu ihrer Familie gehört, aber auch ein anderer, weil er nicht in Nigeria aufgewachsen ist. Kevin Merz gelingt (aber) nicht nur das Porträt seines Halbbruders hervorragend, er eröffnet in Glorious Exit auch einen spannenden Blick auf Nigeria, ein für ihn wie uns fremdes Land.

Christina Von Ledebur
*1975, Studium der Romanistik, Anglistik und Filmwissenschaft in Zürich. Film- und Serienredaktorin beim Schweizer Fernsehen.
(Stand: 2020)
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