SONJA WENGER

BILL – DAS ABSOLUTE AUGENMASS (ERICH SCHMID)

SELECTION CINEMA

Eine unbändige Lust, sich mit dem Werk von Max Bill zu beschäftigen, das gute Gefühl, sich mit etwas Gesellschaftsrelevantem auseinandergesetzt zu haben, und der irritierende Nachklang einer (bizarren) Widersprüchlichkeit zwischen Form und Inhalt – das ist die Quintessenz aus dem Dokumentarfilm bill – das absolute augenmass, einer Biografie über Max Bill (1908 bis 1994), der als Architekt, Künstler, Designer, Theoretiker, Lehrer und Politiker wirkte und ein federführender Vertreter der konkreten Kunst war.

Regisseur Erich Schmid hat während sechs Jahren eine Fülle von Material zusammen getragen und daraus eine umfassende Biografie eines des bedeutendsten Schweizer Künstlers des 20. Jahrhunderts gemacht. 185 Stunden Filmmaterial, reduziert auf rund 90 Minuten Dokumentation – ein Loblied auf das Prinzip der Reduktion, welches stets auch ein Leitmotiv von Bills Schaffen war.

In diesem Gewaltakt von Auswählen und Synthetisieren also öffnet sich nicht nur Bills Leben, sondern gleichzeitig ein ganzes Kaleidoskop der Kunst- und Politgeschichte der letzten hundert Jahre. Und genau wie in einem Kaleidoskop werden auch in bill – das absolute augenmass eine Vielzahl faszinierender Bilder, Themen und Aspekte miteinander verwoben. Sie erzeugen dabei zwar ein allgemeines Wohlgefühl, sind jedoch kaum fassbar.

Das Schaffen einer Künstlerikone mit einem brillanten Geist und internationaler Relevanz einzufangen und zu würdigen ist wahrhaft keine leichte Aufgabe. Das Grundproblem des Films ist jedoch, dass der Dokumentarfilm als Werk an sich von den Inhalten an die Wand gedrückt wird – und sich gleichzeitig über weite Strecken viel zu ernst nimmt. Denn dem Film fehlt, worüber Bill ganz offensichtlich zuhauf verfügte: Dynamik, Humor, Biss. Während das Publikum gebannt an Bills Lippen hängt, wenn er – in alten Filmausschnitten von Interviews oder öffentlichen Auftritten – über seine Arbeit und Erlebnisse spricht, so wird das Sehvergnügen merklich gemindert, sobald Max Bills Witwe Angela Thomas zu Wort kommt.

Per se kommt Angela Thomas eine wichtige Rolle im Film zu. Sie hatte Bill 1974 kennengelernt und wurde 1991 seine zweite Ehefrau. Als Lebenspartnerin und Kunsthistorikerin dokumentierte sie die letzten zwanzig Lebensjahre des Künstlers. Für den Film stellte sie eine Fülle an Material zur Verfügung. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass sie mit ihren Erinnerungen einen unschätzbaren Beitrag zum besseren Verständnis von Bill hätte leisten können. Doch vermag sie dies weder durch ihre blutleere Erzählweise, noch durch eine surreale Seelenschau am Schluss des Films tatsächlich zu vermitteln. Dass die laut Schmid

«höchst mögliche authentische Subjektivität» ein Glücksfall für den Dokumentarfilm sei, bleibt unbestritten. Doch gleichzeitig versuchte er, beinahe übervorsichtig die professionelle Distanz zu wahren. Entsprechend verkrampft ist das Resultat herausgekommen.

Dennoch bietet bill – das absolute augenmas seinen guten Überblick über die Vielfalt von Max Bills Werken und setzt diese in den Kontext ihres Entstehens. Zudem erweist sich der Film mit den vielen Originalstimmen von Bills Zeitgenossen, Mitstreitern und ehemaligen Schülern als ein wichtiges Dokument über den Künstler und seine Zeit, ohne sich dabei auf eine reine Nabelschau zu beschränken. Bills Maxime, dass «der Künstler einen sozialen Auftrag zur Aufklärung» habe, wird dabei vollends Rechnung getragen.

Sonja Wenger
*1970, ist Auslandredaktorin bei der Wochenzeitung WOZ und schreibt für das Kulturmagazin Ensuite sowie für das Bieler Tagblatt. Sie ist Gründerin der Zürcher Theatergruppe The Take Five Theatre Company und arbeitet freiberuflich als Übersetzerin, Wissenschaftsredaktorin und Malerin.
(Stand: 2011)
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