RENÉ MÜLLER

GIORNI E NUVOLE (SILVIO SOLDINI)

SELECTION CINEMA

Elsa und Michele stehen mitten im Leben; dem Paar geht es gut, es kann sich einen gehobenen Lebensstil leisten. Elsa hat soeben ihr Studium der Kunstgeschichte abgeschlossen und arbeitet ehrenamtlich als Restauratorin. Michele überrascht seine Frau zum Studienabschluss stolz mit einem ausgelassenen Fest.

Doch die Harmonie trügt. Michele ist bereits seit zwei Monaten ohne seine Kaderstelle. Er wurde von einem langjährigen Freund und Mitinhaber aus der eigenen Firma geworfen. Es mag eine Mischung aus Schock und Stolz sein, die Michele dazu bewogen hat, so zu tun, als ob nichts geschehen sei. – Elsa fällt selbstverständlich aus allen Wolken, als sie von der Arbeitslosigkeit ihres Mannes erfährt. Doch als sei ihr das privilegierte Leben seit jeher suspekt gewesen, beginnt sie ohne zu zögern, in einem Call Center zu arbeiten. Michele hadert ungleich mehr mit dem Schicksal; in Lethargie verharrend stellt er nicht zuletzt die Beziehung zu seiner Frau auf eine harte Probe. Der erwachsenen Tocher will Michele partout nichts verraten – eines Tages beobachtet sie jedoch, wie ihr Vater als Motorradkurier Pakete austrägt.

Der Tessiner Filmemacher Silvio Soldini versteht es, lebensnahe und gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen und dabei sowohl mit heiteren Komödien (Pane e tulipani, I/CH 2000; Agata e la tempesta, I/CH/GB 2004) als auch mit nüchternen Dramen (Brucio nel vento, I/CH 2001) stets den richtigen Ton zu treffen. Giorni e nuvole kann in diesem Sinne als reife Mischung aus Tragik und Heiterkeit bezeichnet werden. Soldini inszeniert seine Figuren und deren Schicksale ohne Effekthascherei. Der Tessiner Filmemacher vermeidet Häme gegenüber den «bourgeoisen Bohemiens», die sich plötzlich mit prekären Lebensbedingungen auseinandersetzen müssen. Und dies ist durchaus ein psychologischer Balanceakt; wirklich existenziell bedroht sind Elsa und Michele ja nicht – auch ohne Boot, Haus samt Angestellten und exotische Ferienreisen wird das Ehepaar über die Runden kommen. Soldini zeigt auf präzise Art und Weise, wie das Paar in einen völlig neuen Lebensabschnitt hineinstrauchelt, sich mit einer durchschnittlichen Mietwohnung zufrieden geben muss und einen grossen Teil des sozialen Umfeldes verliert.

Die Thematik von Giorni e nuvole erinnert an den ersten Spielfilm von Bettina Oberli Im Nordwind (CH 2004). Mit Sicherheit trägt der Schauplatz Genua und die Italianità einiges dazu bei, dass Soldinis Film trotz vieler Ähnlichkeiten über weite Strecken unbeschwerter daherkommt als Oberlis karge Studie in einer grauen Schweizer Agglomeration.

Giorni e nuvole wird entscheidend von den beiden Hauptdarstellern Margherita Buy und Giuseppe Battiston getragen. Sie verstehen es wunderbar, die inneren Konflikte ihrer Figuren plausibel und stets diskret zu veranschaulichen. Soldinis leises Drama ist eine präzise Charakter- und Milieustudie, welche die Angst vor sozialem Abstieg so zeigt, wie sie letztlich auch ist: überraschend allgemeingültig.

René Müller
*1977, Studium der Filmwissenschaft, Publizistik und Neueren Deutschen Literatur in Zürich und Paris. Er ist beim Migros Museum für Gegenwartskunst für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Von 2007 bis 2012 Redaktionsmitglied von CINEMA.
(Stand: 2014)
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