JULIA STEGMANN

EVENTMOVIES MACHEN GESCHICHTE — ERINNERUNGSPOLITIK IM DEUTSCHEN TV-FILM

ESSAY

«Angesichts der ungezählten historischen bzw. historisierenden Dokumentationen und Spielfilme könnte man behaupten, dass Geschichte im ABC des Fernsehens gleich hinter Kochen komme.»1 Dies konstatierte der Historiker Rainer Wirtz in seiner Eröffnungsrede zum Historikertag, der 2006 unter dem Motto «Geschichtsbilder» abgehalten wurde. Besonders dem Nationalsozialismus, der im Zentrum der folgenden Überlegungen steht, ist eine kaum überschaubare Anzahl an Spielfilmen und Dokumentationen gewidmet, die den öffentlich-rechtlichen Sendern hohe Einschaltquoten bescheren, Kinosäle füllen und na­tionale Mythen schreiben. So erhoffte sich Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck von Tom Cruises Stauffenberg-Darstellung im Film Valkyrie (Bryan Singer, USA 2008) dass diese «das Ansehen Deutschlands mehr befördern würde, als es zehn Fussballweltmeisterschaften hätten tun können».2 In der Forschung herrscht mittlerweile Einigkeit darüber, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung und Erinnerung geschichtlicher Ereignisse in immer grösserem Mass von Filmen geprägt wird. Da Filme, wie Michael Elm anmerkt, dazu tendieren, die geschichtliche Faktizität sowie ihre unvermeidlichen Leerstellen mit sinnhaften Geschichten anzufüllen, gilt es zu fragen, welcher Art diese Geschichten sind und ob sie «dazu beitragen, den Faden zur historischen Wirklichkeit zu verstärken oder zu durchtrennen»3.

Diesen und weiteren Fragen soll anhand dreier populärer TV-Produk­tio­nen aus den letzten Jahren nachgegangen werden: Dresden (Roland Suso Richter, D 2006), Die Flucht (Kai Wessel, D 2007) und Die Gustloff (Joseph Vilsmaier, D 2008). Dass diese drei aufwendigen TV-Produktionen einen Nerv der Gesellschaft getroffen haben4, verdeutlichen unter anderem ihre hohen Einschaltquoten. Sie bescherten den öffentlich-rechtlichen Sendern ein Millionenpublikum: Mit über 13 Millionen Zuschauern hat sich Die Flucht als «Riesenerfolg für ARD und Arte» erwiesen und war laut ARD-Programmdirektor Günter Struve «der erfolgreichste Film im Ersten Programm seit zehn Jahren»5. Auch Dresden konnte eine beeindruckende Quote verbuchen. «Mehr als elf Millionen Zuschauer verfolgten den ZDF-Spielfilm über die Bombardierung Dresdens am Bildschirm.»6 Die Gustloff erreichte ebenfalls stolze achteinhalb Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer.7 Der hohe Stellenwert, den die drei Produktionen für die erinnerungspolitische Debatte haben, zeigt sich auch daran, dass sie von den Filmförderungsanstalten mehrerer Bundesländer finanziert, von namhaften Politikern unterstützt und mit wichtigen Filmpreisen ausgezeichnet wurden.8 Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, hatte Regisseur Joseph Vilsmaier persönlich auf die Idee gebracht, «einmal etwas über Flucht und Vertreibung zu machen».9 Er setzte sich für die Verfilmung von Die Gustloff ein und veranlasste über seinen Fraktionskollegen Ernst-Reinhard Beck, dass die für die Massenszenen benötigten Komparsen von Reservisten der Bundeswehr gestellt wurden. Kauders Einsatzwille wurde prompt belohnt: Der Bund der Vertriebenen verlieh im die «Wenzel-Jaksch-Medaille».10 Die Filme lassen sich also aus vielerlei Gründen als Ausdruck der gegenwärtigen bundesdeutschen Erinnerungskultur betrachten, an deren Fortschreibung sie einen nicht unerheblichen Anteil haben.

Strukturelle Wechselrahmungen

Ein ebenso wichtiges wie frühes Beispiel für die bedeutende Rolle, die das Medium Film in der Erinnerungskultur bezüglich des Zweiten Weltkriegs einnimmt, ist der TV-Vierteiler Holocaust (Marvin Chomsky, USA 1979). Dessen öffentliche Resonanz stellte alle vorherigen medialen Thematisierungen der Ermordung der europäischen Juden in den Schatten. Unabhängig von der Kritik an einer Darstellung der Schoah als Soap Opera lässt sich nicht abstreiten, dass die Serie in weiten Teilen der Gesellschaft Diskussionen auslöste und damit zur öffentlichen Sensibilisierung beitrug.11 Ihre erinnerungskulturelle Prägekraft mag damit zusammenhängen, dass Holocaust typische Merkmale kulturindustrieller Produktionen aufweist: die Präsentation einer verständlichen und in sich geschlossenen Erzählung, die personalisierte Darstellung von Geschichte, die Erzählstruktur als Familiensaga mit Loveplots und melodramatischen Elementen. Die durch Holocaust popularisierte Form lässt sich sowohl inhaltlich als auch strukturell nicht nur als Prototyp für spätere filmische Thematisierungen der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden bezeichnen, sondern sie beeinflusste auch die TV-Produktionen Dresden, Die Gustloff und Die Flucht. Diese Filme legen den Fokus nun allerdings auf das Leid von Figuren aus der Tätergesellschaft.

Im Rahmen einer Mehrgenerationenstudie zur Erinnerungspraxis in (nicht jüdischen) deutschen Familien in Bezug auf den Nationalsozialismus sties­sen die Forscherinnen und Forscher um den Sozialpsychologen Harald Welzer auf das Phänomen der «Wechselrahmung». Darunter verstehen sie «die Inanspruchnahme von Rahmenmerkmalen», welche «dem historischen Kontext der Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung entstammen, nun aber für die Darstellung der Leidensgeschichten der ehemaligen ‹Volksgenossinen› und ‹-genossen› verwendet werden»12. Eine solche strukturelle Wechselrahmung lässt sich in gewisser Weise auch im Fall der drei Filme aufzeigen. Dort finden sich nicht nur einzelne Bilder aus dem Assoziationsraum von Auschwitz wieder, sondern die durch Holocaust popularisierte Art, Opferschicksale zu verfilmen, findet dort als strukturierendes Schema Verwendung.

Erinnerungspolitischer Paradigmenwechsel

Die Darstellung von nicht jüdischen Deutschen als Opfer des Zweiten Weltkriegs hat ihre Ursprünge bereits in der nationalsozialistischen Propaganda. In der Nachkriegszeit entwickelte sie sich zu einem nationale Identität stiftenden und gleichermassen geschichtsrevisionistischen Mythos. Dieser feiert seit 1989 ein Comeback: «Heute kehrt der alte, die unmittelbare Nachkriegszeit begleitende deutsche Opferdiskurs wieder», diagnostizierte unlängst der Historiker Dan Diner.13

Dieser Diskurs gewinnt aktuell an Bedeutung, was sich neben den genannten Filmen etwa am 2008 vom Bundestag gefassten Beschluss zur Einrichtung der Stiftung «Flucht, Vertreibung, Versöhnung» zeigt, in deren Stiftungsrat der Bundesverband der Vertriebenen grosses Gewicht hat.14 Mit dem «sichtbaren Zeichen» einer Dauerausstellung, die auch als «Zentrum gegen Vertreibungen» bekannt ist, soll insbesondere an das Leid der deutschen Vertriebenen erinnert werden. «Die Einnahme der Opferposition geht», wie Bettina Miehr treffend feststellt, «in dem hier thematisierten Kontext mit der projektiven Strategie, Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern werden zu lassen, einher; so findet eine ‹Umkehr im Dienste der Schuldbefreiung› statt, die aus einer Nicht-Akzeptanz der eigenen Verantwortung und Schuld am Geschehen resultiert.»15

Zu den zentralen Ereignissen des Wandels gehört etwa Martin Walsers Friedenspreisrede 1998, in der er die Deutschen als Opfer einer ritualisierten und für «gegenwärtige Zwecke» instrumentalisierten Erinnerung an den Holocaust beschrieb. Jörg Friedrich, der sich zuvor als Holocaust-Historiker einen Namen gemacht hatte, ist ein weiterer Protagonist dieses Paradigmenwechsels. 2002 wurde sein Buch Der Brand zum Bestseller. Darin werden die Bombardierungen Dresdens sprachlich mit Auschwitz gleichgesetzt. So bezeichnet Friedrich etwa Keller als «Krematorien», die Bomber Group 5 als «Einsatzgruppe», die Bombenopfer als «Ausgerottete» und den Luftkrieg als «Vernichtungskrieg». Wie Diner treffend kritisiert, sucht «solche Konterbande der Begriffe [...] eine Parität des Leidens zu erschleichen», wodurch sie einer «spezifisch partikular-parteilichen deutschen Erinnerung an erfahrenes Leid Tür und Tor» öffnen.16

Zwischen Fiktion und Fakten

Diese Tendenz lässt sich auch bei den drei bereits genannten Filmen aufzeigen, die allesamt den Schwerpunkt auf das Leid der nicht jüdischen Deutschen legen, das am Beispiel der meist weiblichen Haupt- und Identifikationsfiguren durchexerziert wird. Entsprechend wird in Dresden die Bombardierung der sächsischen Stadt durch britische Truppen thematisiert. Die Gustloff und Die Flucht drehen sich um die Flucht und Zwangsaussiedlung der Deutschen. Der Holocaust sowie der nationalsozialistische Vernichtungskrieg werden dabei lediglich am Rande abgehandelt und nie bildlich dargestellt.

Über ihre detailgetreuen Rekonstruktionen historischer Orte, Kostüme und Details erheben die Filme den Anspruch, geschichtliche Realitäten authentisch abzubilden. In Dresden werden zu diesem Zweck dokumentarisch anmutende Bilder vom Start britischer Flugzeuge in entsprechende Szenen der Spielfilmhandlung montiert. Wiederkehrende Authentifizierungsstrategien sind zudem die über eingeblendete Titel vermittelten historischen Zeit- und Ortsangaben. Die in Abspann und Programmvorschauen stets betonte Beratung durch Historiker trägt ein Weiteres dazu bei, die von den Filmen entworfenen Geschichtsbilder zu beglaubigen. Diese Verfahren bewirken, dass Fakt und Fiktion stark ineinanderfliessen. «Je authentischer ein Geschichtsbild gestaltet wird, desto wirkungsvoller wird der Mythos, den es transportiert, in Szene gesetzt»17, schreibt die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch. Das Ineinanderfliessen von fiktiven und nicht fiktiven Elementen ist im Fall von Die Gustloff besonders problematisch. Hier wird die Schuld am Untergang des Schiffes einem kommunistischen Saboteur angelastet. Wegen einer von ihm gefälschten Kollisionswarnung werden die Positionslichter eingeschaltet, was zur Folge hat, dass die Gustloff von einem sowjetischen U-Boot entdeckt und versenkt wird. Dieser Handlungsstrang hat ohne Zweifel dramatisierende Effekte, doch ist die Figur des Verräters reine Fiktion. Historisch belegbar ist lediglich eine Kollisionswarnung unbekannten Ursprungs.

«Hitlerismus»

Der jeweilige Vorspann der Filme dient dazu, das Schicksal der Hauptfiguren in ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu situieren. Dresden beginnt mit einem in weissen Lettern auf schwarzem Grund gesetzten Text, der den historischen Kontext skizziert – oder besser gesagt, lediglich den Stand der militärischen Dinge im Januar 1945. Wie aus Trümmern steigen dazu Rauchschwaden vom unteren Bildrand auf. Der ursprüngliche Grund für das Bombardement, also der 1939 begonnene deutsche Vernichtungskrieg, wird nicht thematisiert. Zwar wird die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee erwähnt, doch zeichnet sich die Fokussierung auf die Bombardierung deutscher Städte bereits an dieser Stelle ab. Mittels historischen Filmmaterials wird das unzerstörte Dresden mit seinen Sehenswürdigkeiten präsentiert. Aus mehreren Perspektiven ist insbesondere die Frauenkirche, Symbol für Zerstörung und Wiederaufbau, zu sehen. Wenn zu diesen wehmütig anmutenden Bildern nun Ausschnitte aus Reden Hitlers und Arthur Harris’, des Kommandeurs der britischen Luftwaffe, zu hören sind, in denen es jeweils um den Sieg im «Luftkrieg» geht, erfolgt eine Gleichsetzung der Alliierten mit den Nazis, als deren beider Opfer die Stadt erscheint. In dieser Setzung klingt bereits ein mehr als fragwürdiges Geschichtsbild an, in dem die Luftangriffe der Alliierten – allen voran die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 – als ein Symbol für «alliierte Kriegsverbrechen» erscheinen. Diese These fand bereits in der nationalsozialistischen Propaganda Verwendung und dominierte auch das von Schuldabwehr geprägte Geschichtsbild der 50er-Jahre. Die Alliierten werden darin nicht als Befreier, sondern als Aggressoren und Besatzer imaginiert.18

Auch in der Exposition von Die Flucht wird ein Geschichtsbild entworfen, das den von Schuldabwehr geprägten Darstellungen der 50er-Jahre zu entstammen scheint. Beginnend mit den stets wiederkehrenden, geradezu ikonischen Propagandabildern von nationalsozialistischen Fackelumzügen und Aufmärschen soll die folgende Spielfilmhandlung kontextualisiert und authentifiziert werden: Nicht nur, dass hier nationalsozialistischen Propagandabildern der Status dokumentarischen Materials zugewiesen wird, indem der Film die Herkunft dieser Aufnahmen nicht thematisiert; in Bild und Ton wird der Fokus darüber hinaus auf Hitler verengt. Formulierungen wie die vom «von Hitler entfachten Vernichtungskrieg» unterstellen, dass er diesen ganz allein geführt habe. Dies bezeichnet der Historiker Hannes Heer treffend als «Hitlerismus»19. Indem allein Hitler und einer kleinen Gruppe ranghoher Nazis die Schuld für Vernichtungskrieg und Holocaust zugeschoben wird, kann die Verantwortung der deutschen Mehrheitsbevölkerung ausgeblendet werden. Ein weiterer Akzent wird auf das «weitgehend vom Krieg verschonte Ostpreussen», gelegt. Diese idealisierte Beschreibung trägt dazu bei, die dort ansässige deutsche Zivilbevölkerung als Opfer von Nazis und Alliierten erscheinen zu lassen. Der Historiker Heinrich Schwendemann äussert sich in einem Interview entsprechend kritisch über die im Film portierte Geschichtsdarstellung. So bezeichnet er das ehemalige Ostpreussen als «eine der Bastionen des Nationalsozialismus» und weist darauf hin, dass die Nazis «schon 1932 [...] in manchen Gebieten, in manchen Kreisen bis zu 70 Prozent der Stimmen»20 hatten.

Die Erzählungen aller hier betrachteten Filme folgen strukturell einem Countdown. Unaufhaltsam läuft die Zeit bis zur jeweiligen Katastrophe: Deren Eintreten ist den Zuschauenden, im Gegensatz zu den arglosen Identifikationsfiguren, bewusst. So kann man sich in Die Gustloff nicht mit den Flüchtlingen freuen, die sich auf dem Schiff in Sicherheit wähnen. Dieser Effekt wird zusätzlich dadurch intensiviert, dass zwischen den deutschen Opfern und den als Aggressoren dargestellten Alliierten wiederholt hin- und hergeschnitten wird. Dies geschieht am ausgeprägtesten in Dresden, wo die Welt der Haupt- und Identifikationsfigur Anna mit den Planungsschritten des britischen Bomberkommandos kontrastiert wird. Sir Arthur Harris erscheint als eiskalter Machtpolitiker, dem es, wie der Film suggeriert, vordringlich um Machtinteressen ging.

Ebenso wechselt in Die Gustloff die Handlung mehrfach zwischen Schiff und sowjetischem Torpedo-U-Boot. Wenn die dort auf russisch gebellten Befehle nicht mit Untertiteln versehen sind und flackerndes rotes Licht den Zügen des Kommandanten etwas Satanisches verleiht, erreicht die in allen Filmen diagnostizierbare Dämonisierung der Allierten zweifellos einen ihrer Höhepunkte. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass der Abschuss des Torpedos aus einer Position nahe der Gustloff gefilmt wird, was die Identifikation mit den Flüchtlingen untermauert.

Auch in Die Flucht finden sich sowohl auf inhaltlicher als auch auf forma­ler Ebene Tendenzen, die alliierten Truppen zu dämonisieren. So etwa in einer an die darstellerischen Konventionen des Horrorfilms angelehnten brutalen Vergewaltigung durch sowjetische Soldaten.

Die Dämonisierung der Alliierten und Ausblendung deutscher Verbrechen

Anders als Die Gustloff erwähnen Dresden und Die Flucht deutsche Verbrechen lediglich verbal: In Die Flucht begründet ein Soldat seine Desertion von der Wehrmacht mit Massakern an der jüdischen und polnischen Bevölkerung. Zwangsarbeit taucht, vermittelt durch die Liebesgeschichte zwischen Hauptfigur Lena und Zwangsarbeiter François, sogar recht prominent auf. In Dresden wird die Zerstörung Coventrys kurz erwähnt – jedoch im Rahmen einer Aufrechnung mit alliierten «Untaten». Über die Verfolgung der europäischen Juden wird in Dresden vergleichsweise ausführlich gesprochen. Mehrere Szenen sind hier Annas Freundin Maria und ihrem jüdischen Partner Simon gewidmet. In ihren Gesprächen kommen die Deportationen jüdischer Bekannter sowie die prekären Lebensbedingungen des in «Mischehe» lebenden Paares zur Sprache. Es ist auch zu sehen, wie Simon Deportationsbescheide an die letzten in Dresden verbliebenen Jüdinnen und Juden verteilen muss. Simon, die einzige ausgearbeitete jüdische Figur in den hier besprochenen Filmen, ist allerdings ambivalent gezeichnet. Annas Lebensmittelspenden bringt er keine rechte Dankbarkeit entgegen, zudem wünscht er sich Dresden in Schutt und Asche.21 Abgesehen von eher randständigen Ausnahmen werden Holocaust und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg also in allen drei Filmen weitgehend ausgeblendet und nie auf die emotional eindringlicher wirkende Bildebene gerückt.

Gute Deutsche, böse Nazis

Die Handlungen aller drei Filme sind in den letzten Wochen und Monaten des Kriegs angesiedelt. Die Wahl dieses Zeitraums hat zur Folge, dass die Nazis als Fanatiker erscheinen, die sich selbst jetzt nicht vom NS-Regime abwenden. Besonders die jeweiligen Haupt- und Identifikationsfiguren erscheinen auf diese Weise als unschuldige Opfer eines kontextlosen Krieges. Die Flucht beginnt Mitte 1944 in Berlin, Dresden und Die Gustloff reduzieren den Handlungszeitraum auf wenige Tage vor den beiden 1945 stattfindenden Ereignissen. Rückblenden, in denen das Handeln der Hauptfiguren während anderer Phasen des Nationalsozialismus hätten thematisiert werden können, werden in allen Filmen konsequent vermieden.

In der ersten Sequenz von Die Flucht wird die kleine Tochter von Hauptfigur Lena durch eine unsympathisch resolute Nationalsozialistin zur «Kinderlandverschickung» abgeholt. Während Lena die Tochter zärtlich verabschiedet und die bevorstehende Trennung damit begründet, sie vor der Bombardierung Berlins schützen zu wollen, erklärt das uniformierte Parteimitglied dem Kind, dass seine Mutter für den «Endsieg» gebraucht werde. Dieser Kontrast trägt nicht nur dazu bei, Lena als sympathische Figur zu etablieren, gleichzeitig wird ein Gegensatz zwischen der von der Heldin verkörperten Zivilbevölkerung und den Nazis behauptet. In Lenas anschliessendem Voiceover-Kommentar wird dieser Diskurs weiter verfestigt: «Die Nazis hatten mittlerweile 40 Staaten in den Krieg getrieben. Die Auswirkungen davon schlugen jetzt mit voller Wucht auf uns zurück.»22 Die Frage nach Lenas Beteiligung, ihrem eventuellen Antisemitismus oder ihrer Begeisterung in den Jahren nach 1933 und zu Kriegsbeginn kommt nicht zur Sprache. Stattdessen rettet Lena auf dem ostpreussischen Gut Mahlendorf die dort eingesetzten Zwangsarbeiter, nachdem diese von einem fanatisierten Hitlerjungen wegen Mundraub denunziert wurden, vor der Verhaftung. Die bei Lena von einem zynischen Gestapo-Mann konstatierte «Fürsorgementalität» des preussischen Adels wird so der Menschenverachtung der uniformierten Nazis gegenübergestellt.

Der Kontrast zwischen der als «gute Deutsche» inszenierten Heldin und den mehr oder weniger in den Nationalsozialismus verstrickten Nebenfiguren lässt sich auch in den anderen Filmen aufzeigen. In Dresden wird die Haupt- und Identifikationsfigur Anna Maut als aufopfernde Krankenschwester in die Handlung eingeführt. Als es während einer Operation einen Fliegeralarm gibt, flüchten sich alle bis auf Anna in den Luftschutzkeller. Die Operation bringt sie zusammen mit ihrem Verlobten zu Ende. Ihre Selbstlosigkeit steht ganz im Kontrast zum Verhalten ihrer Schwester Eva, einer überzeugten Nationalsozialistin. Als Anna unter Einsatz ihres Lebens Verwundete versorgt, vergnügt sich diese mit ihrem Liebhaber, dem Adjudanten des Gauleiters, während sie zugleich behauptet, die ganze Nacht am Bahnhof gewesen zu sein und Flüchtlingen geholfen zu haben. Während Fragen nach deutscher Täterschaft an den Nebenfiguren verhandelt werden, liegt das Identifikationsangebot also auch hier bei der «guten Deutschen». Hilfsbereit, einfühlsam und aufopferungsvoll, entspricht sie jenen Idealen, von denen ihre Schwester abweicht – und verkörpert damit ein moralisches Gewissen, das über vermeintlich weibliche Tugenden vermittelt ist. Da sie – wie Lena in Die Flucht und Erika in Die Gustloff – gleichzeitig als Identifikationsfigur dient, erfüllt sie auch eine entlastende Funktion: Sie zieht eine Grenze zu den uniformierten männlichen Nationalsozialisten sowie zu den Verkörperungen von als sexuell deviant markierter nationalsozialistischer Weiblichkeit23 und blendet damit die Frage, wie nicht verfolgte deutsche Frauen am Nationalsozialismus beteiligt waren und von ihm profitierten, aus.

Werden in Dresden und Die Flucht Fragen nach Täterschaft und Verstrickungen zumindest an Nebenfiguren abgehandelt, fehlen derartige Ambivalenzen in Die Gustloff, wo eine unschuldige Zivilbevölkerung mit verbrecherischen Nazis kontrastiert wird. Im Gegensatz zu ihrer als stramme Nationalsozialistin dargestellten Vorgesetzten, die lediglich auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist, kümmert sich Identifikationsfigur Erika einfühlsam um die Flüchtlingsgruppe. Während sich ihre Gegenspielerin auf Erikas Kosten Zutritt zu dem Rettung verheissenden Schiff verschafft, muss sich Erika dort vor den Nazis verstecken und wird damit sogar selber zu deren Opfer. Auch die männliche Hautfigur Hellmuth Kehding, Zivilist und Kapitän der Gustloff, steht in ständigem Konflikt mit uniformierten Nationalsozialisten wie dem Kommandeur der U-Boot-Truppen und dem Gauleiter, die sich weniger um die Rettung der Flüchtlinge denn um ihre eigenen Interessen sorgen. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist der Streit um einen Festsaal des ehemaligen «Kraft durch Freude»-Schiffs. Nur gegen den erbitterten Widerstand des Gauleiters, der dort den Jahrestag der «Machtergreifung» feiern will, gelingt es Kehding, dort Flüchtlinge einzuquartieren. Seine Reinheit von jeglicher Täterschaft wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass er sich als einziger gegen das Einschalten der Positionslichter ausspricht und deshalb vom Dienst suspendiert wird. Diese Differenz wird auch über Sexualität ausgehandelt: Die zärtliche Liebe zwischen den «guten Deutschen» Erika und Hellmuth ist mit den sexuellen Auschweifungen der uniformierten Nazis kontrastiert.24

Universalisierung des Leids

Während der «Bombennacht» und auf der gemeinsam durchlittenen Flucht aus Ostpreussen werden die Gegensätze zwischen Opfer- und Täterpositionen, zwischen deutscher Gräfin und französischem Zwangsarbeiter, britischem Bomberpiloten, bedrohtem Juden und Nazi nivelliert. Um das Leiden der Deutschen zu illustrieren, bedienen sich die Filme manchmal Darstellungsformen aus dem Bild- und Assoziationsraum des Holocausts. Wenn Anna in Dresden in einem roten Kleid durch die graue Trümmerlandschaft irrt, fühlt sich die Filmkritikerin Antonia Schmidt an Schindler’s Liste (Steven Spielberg, USA 1993) erinnert, wo ein jüdisches Mädchen im nachkolorierten Kleid den einzigen Farbfleck im ansonsten schwarz-weissen Film bildet.25 Um eine solche Wechselrahmung26 handelt es sich in Die Gustloff auch bei den an die ikonifizierten Darstellungen von Häftlingen der Konzentrationslager mahnenden Aufnahmen von (deutschen) Flüchtlingskindern hinter Stacheldraht.

In Dresden und Die Flucht unterstreichen die Loveplots die Versöhnung zwischen den am Anfang noch unvereinbar scheinenden Gegensätzen. Gemeinsam durchstandene Gefahren und die Auflösung der alten ständischen wie natio­nalsozialistischen Ordnungen lassen in Dresden deutsche Krankenschwester und britischen Bomberpiloten, in Die Flucht Gräfin und französischen Zwangsarbeiter am Ende zusammenfinden. Gemeinsam mit einem auf der Flucht elternlos gewordenen Kind schreiten sie schliesslich in eine westeuropäisch geprägte, demokratische Zukunft. Auch in Dresden und Die Gustloff symbolisieren gerettete Waisenkinder den Mythos von Stunde null und unbelastetem Neuanfang. Am Schluss haben viele verstrickte Figuren einen Läuterungsprozess durchlaufen und sind zu demokratischen Subjekten geworden. So wünscht sich Magd Babette, die im ersten Teil von Die Flucht noch auf des «Führers» Wunderwaffe hoffte, am Ende des Filmes einen «Sozialismus ohne national». Die Ewiggestrigen hingegen verschwinden aus der Handlung.

In allen hier besprochenen Filmen ist eine «Vermengung von Individuellem und Kollektivem, von Narrativem und Faktischem, von Interpretation und Wirklichkeit»27 zu beobachten. Die darin erzählten Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg werden aus historischen Zusammenhängen von Ursache und Wirkung gerissen und auf ein entkontextualisiertes «Schicksal» reduziert. Eine auf diese Weise «fragmentarisierte Geschichtsdarstellung [...] erlaubt eine sich auf Beliebigkeit gründende Politik in der Gegenwart, die aufgrund ihres Ahistorismus zwar entpolitisiert, aber damit alles andere als unpolitisch ist»28.

Tagungsbericht HT 2006, «Popularisierung der Geschichte im Fernsehen: Folgen für die Geschichtswissenschaft», http://hsozkult.geschichte.hu-be..., (zuletzt besucht 12.9.2009).

Florian Henckel von Donnersmarck, «Deutschlands Hoffnung heisst Tom Cruise», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, http://www.faz.net/s/RubCF3AEB15... Doc~E910E4E22CE7B4BBEB74C821AB800D398~ATpl~Ecommon~Sspezial.html, (zuletzt besucht 28.07.2009).

Michael Elm, Zeugenschaft im Film: Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust, Berlin 2008, S. 43.

Mit 10 Millionen Euro Produktionskosten ist Dresden der kostspieligste Fernsehfilm, der je in Deutschland gedreht wurde. Vgl. Alexander Wendt, «‹Dresden›: Liebesdrama mit Geschichtsstunde», 03.03.2006, (http://www.focus.de/panorama/welt/dresden_aid_105713.html, zuletzt besucht 28.9.2009).

Günter Struve, «Die Flucht: Erfolgreichster ARD-Film seit 10 Jahren», in: Die Welt, http://www.welt.de/fernsehen/art... besucht 12.9.2009).

Vgl. http://www.spiegel.de/kultur/ges...,1518,404724,00.html, (zuletzt besucht 15.9.2009).

Vgl. http://www.spiegel.de/kultur/ges...,1518,538966,00.html, (zuletzt besucht 15.9.2009).

Dresden wurde 2006 mit dem deutschen Fernsehpreis in der Kategorie «Bester Fernsehfilm/ Mehrteiler» ausgezeichnet. Die Flucht erhielt unter anderem den Bambi-Publikumspreis.

Volker Kauder, «Der Untergang der Gustloff», 5.4.2007, http://www.cducsu.de/Titel__Podc... (zuletzt besucht 13.10.2009).

Bund der Vertriebenen, «Volker Kauder erhält Wenzel-Jaksch-Medaille des Bundes der Vertriebenen», 20.2.2008, http://www.bund-der-vertriebenen... (zuletzt be­- sucht 13.10.2009).

So etwa Elie Wiesel. Vgl. Peter Reichel, Erfundene Erinnerung: Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München/Wien 2004, S. 250–253.

Harald Welzer u. a., ‹Opa war kein Nazi›: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächt­nis, 5. Auflage, Frankfurt a. M. 2005, S. 82.

Phase 2 Leipzig, «Anthropologisierung des Leidens: Interview mit dem Historiker Dan Diner», in: Phase 2.09 (2003), http://www.phase2.nadir.org/inde... (zuletzt besucht 28.7.2009).

Vgl. Dirk Burczyk, «Neue Wege der Versöhnung: Der Weg zum ‹sichtbaren Zeichen› gegen Vertreibung», in: Jan Korte/Gerd Wiegel (Hg.), Sichtbare Zeichen: Die deutsche Geschichtspolitik – Von der Tätergeschichte zur Opfererinnerung, Köln 2009, S. 14.

Bettina Mihr, Wund-Male: Folgen der Unfähigkeit zu trauern und das Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen, Giessen 2007, S. 108.

Phase 2 Leipzig (wie Anm. 14). Dass Dresden den Arbeitstitel «Der Brand» trug, lässt sich als Hinweis auf die prägende Kraft des Buches deuten. Vgl. «Nach ‹Berlin› nun ‹Dresden›», (http://www.abendblatt.de/kultur-live/article723990/Nach-Berlin-nun-Dresden.html, zuletzt besucht 12.10.2009).

Vgl. Gertrud Koch, «Nachstellungen: Film und historischer Moment», in: Eva Hohenberger, Judith Keilbach (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit: Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschich­te, Berlin 2003, S. 224.

Vgl. dazu u. a. Reichel (wie Anm. 11), S. 33 ff.

Hannes Heer, Hitler war’s: Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit, Berlin 2008, S. 7.

Interview mit Heinrich Schwendemann, http://www.dradio.de/dlf/sendung... 600861/ (zuletzt besucht am 28.7.2009).

«Anzunehmen ist», wie Antonia Schmidt festhält, «dass das Motiv jüdischer Rachsucht hier eher die Wahrnehmung der Figur determiniert als Simons Wunsch nach Rettung aus für ihn lebensbedrohlichen Verhältnissen, da diese darüber hinaus abhängig ist vom Umschlagen der Si­­tuation in eine für Deutsche lebensbedrohliche.» Antonia Schmidt, «Der ‹Feuersturm› als Voll­waschprogramm: Zur Universalisierung der Opfer im Fernseh-Zweiteiler Dresden», in: Kittkritik (Hg.), Deutschlandwunder: Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur, Mainz 2007, S. 151.

Auffällig ist, dass die TV-Version aus der dieses Zitat stammt, für die DVD-Version leicht überarbeitet wurde. Dort heisst es: «Wir hatten der Welt den Krieg erklärt».

Vgl. Silke Wenk, «Expositionen des Obszönen: zum Umgang mit dem Nationalsozialismus in der visuellen Kultur», in: Elke Frietsch, Christina Herkommer (Hg.), Nationalsozialismus und Ge­schlecht: Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, ‹Rasse›, und Sexualität im ‹Dritten Reich› und nach 1945, Bielefeld 2009, S. 70–85.

Wie Dagmar Herzog feststellt, war die Vorstellung sexuell ausschweifender (und damit christlichen Moral­vorstellungen entgegenstehender) Nazis in den 1950er-Jahren stark ausgeprägt. Die Dar­­stellungs­weise der Nazis in Die Gustloff ist Ausdruck des an anderer Stelle diagnosti­zierten Rollbacks in den 1950ern in Sachen Geschichtspolitik. Vgl. Dagmar Herzog, Die Poli­ti­sie­rung der Lust: Se­xua­lität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005, S. 127ff.

Vgl. Schmidt (wie Anm. 21), S. 154.

Vgl. Welzer u. a. (wie Anm. 12), S. 200.

Samuel Salzborn, «Kollektive Unschuld: Anmerkungen zu Funktion und Intention der neuen Debatte um Flucht und Vertreibung», http://www.sopos.org/aufsaetze/3... (zuletzt besucht 29.9.2009).

Julia Stegmann
*1979 in Hamburg, Studium der Filmwissenschaft in Zürich, lebt und arbeitet in Berlin. Themenschwerpunkte sind Geschichtspolitik sowie die filmische Darstellung von Rechtsextremismus.
(Stand: 2010)
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