SONJA EISL

BREATH MADE VISIBLE (RUEDI GERBER)

SELECTION CINEMA

Dass hier etwas nicht stimmt, ahnte Anna Halprin bereits während der Kinderballettstunden. Als die Mutter sie schliesslich «erlöste» und fortan zu Isadora Duncan, der grossen Pionierin des Ausdruckstanzes, schickte, folgte die Bestätigung: Tanz ist nicht gleich Tanz, auch wenn beides mit Bewegung zu tun hat. Wie ihre Meisterin aus Kindertagen wurde sie selbst zur Wegbereiterin einer neuen amerikanischen Tanzbewegung. Die gesellschaftlichen und künstlerischen Umbrüche ein Stück weit vorrausahnend, kehrte Halprin in den Fünfzigerjahren dem Broadway den Rücken und gründete mit dem San Francisco Dancers’ Workshop eine Truppe, die mit ihren radikalen (Outdoor-)Performances das Publikum weltweit aus seiner passiven Kunstkonsumhaltung aufrüttelte. Zusammen mit ihrem Mann und lebenslangen Kollaborateur Lawrence Halprin errichtete sie an der Westküste ihr eigenes Tanzmekka mitten im Wald, das bis heute den Freigeist der Blumenkinder atmet und Generationen von Tanzwilligen mit Workshops unter freiem Himmel läuterte.

Halprin radikalisierte die Perspektive auf den Tänzer, indem sie den Kunstbegriff öffnete und den Tanz als ein «Geburtsrecht» bezeichnet. «Tanz ist Bewegung ist sichtbar gemachter Atem, also Leben», so lautet Halprins Analo­gie, die Ruedi Gerbers Filmdokumentation den Titel gibt. Der Schweizer Regisseur, der ausser bei Meta-Mecano (CH 1997), bisher im angelsächsischen Raum gearbeitet hat, entwirft mittels Archivaufnahmen, aktuellen Interviews und Bühnenauftritten ein einfühlsames Porträt dieser atypischen Grande Dame mit Jahrgang 1920. Wie viele Kunstschaffende, die Mitte des 20. Jahrhunderts sozialisiert wurden, gibt es auch für Halprin keine klar verlaufenden Grenzen zwischen Leben und Kunst. Doch betreibt die immer noch als Tänzerin und Lehrerin aktive Frau diesen Diffusionsprozess mit besonderer Konsequenz, indem sie die Kunst aus ihrem kulturellen Rahmen herauslöst und ihr statt dessen eine gemeinschaftsbildende und therapeutische Wirkung attestiert.

Gerbers Film fokussiert denn auch eindeutig auf die Tragweite von Halprins sozialem Kunstbegriff, etwa ihre Arbeit mit Krebs- und Aidskranken oder die Tanzstunden mit begeisterten Senioren in freier Natur. Die Bilder dieser Workshop- und Gruppenrituale wirken oft befremdlich und berührend zugleich. Gut möglich, dass sie einem amerikanischen oder besonders tanzaffinen Publikum vertrauter erscheinen – eine Vermutung, die für den Film insgesamt gilt: Trotz der vielseitigen Quellen verpasst Gerber die Einbettung in ein Ganzes (zum Beispiel die zeitgenössische Tanz- und Kunstszene), um die Dimensionen von Halprins Arbeit zu verdeutlichen. Dies hätte allerdings auch kritische Stimmen erfordert. Doch scheut sich der Regisseur, die «Schattenseiten» dieser aussergewöhnlichen Vita wirklich zu beleuchten, was seinen Film zu einer etwas überkonkreten Hommage macht.

Sonja Eisl
*1976, Studium der Theaterwissen­schaft, Film­­wissenschaft und der Neusten Geschich- te in Bern und Zürich. Sie arbeitet im Theater Tuch­laube (Aarau) im Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Dramaturgie und lebt in Bern.
(Stand: 2010)
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