THOMAS HUNZIKER

SCHLAF (CLAUDIUS GENTINETTA, FRANK BRAUN)

SELECTION CINEMA

Eine weisse Linie bewegt sich rhythmisch auf und ab über die schwarze Leinwand. Dazu ertönt ein leiser Ton. Vielleicht ist es der Wind. Oder womöglich das Horn eines Ozeandampfers. Die Linie wird durch einen Schornstein ersetzt, aus dem ein zartes Wölkchen steigt. Der Ton wird lauter, kratzender. Ruder und Ruderboote erscheinen, dazu Gestalten mit run­den Köpfen. Menschen mit traurigem Blick und geschlossenen Augen. Schlafen sie? Hin- und hergewiegt von den betörenden Wellenbewegungen des Dampfers?

Die Geräusche werden dröhnender, laute und leise Töne wechseln sich ab, liefern sich einen Kampf. Plötzlich neigt sich das Schiff, steht senkrecht im Wasser, geht langsam unter. Mit einem letzten Aufbrausen des Geräusches schiessen die Ruder aus dem Wasser. Die Köpfe der Menschen stossen nach, werden aber von den herunterfallenden Rudern gleich wieder versenkt. Eine weisse Linie bewegt sich rhythmisch auf und ab über die schwarze Leinwand. Dazu ertönt ein leiser Ton.

Bunt und fröhlich war noch der gefährliche Ausflug in Die Seilbahn (CH 2008), dem letzten kurzen Animationsfilm von Claudius Gentinetta und Frank Braun, für den sie zahlreiche Preise an Festivals auf der ganzen Welt und eine Nomination für den Schweizer Filmpreis 2009 erhielten. In Schlaf, der ironischen Erzählung eines unausweichlichen Untergehens, beschränken sie sich ganz auf weisse Linien und Schraffierungen auf schwarzem Grund. Eine angenehme und faszinierende Reduktion aufs Notwendigste, die die Fantasie in keiner Weise einschränkt. Die Zeichnungsgrundlage ist schwarz wie die Nacht. Das Licht wird mit der gezeichneten Linie wieder an die Oberfläche gebracht und so für das Publikum sichtbar. Dadurch erzeugen sie in Kombination mit den Schnarchgeräuschen auf der Tonspur eine beklemmende und dennoch heitere Stimmung.

Originalaufnahmen aus drei Nächten eines wild träumenden Menschen bildeten das Rohmaterial für den Ton. Sounddesigner Peter Bräker widmete sich dem Kratzen, Schleifen und Pfeifen des Schnarchens, um daraus einen rhythmischen und dramaturgischen Ton­­teppich für Schlaf herzustellen. Das ratternde Ein- und zischende Ausatmen wird auf der Bildebene durch Assoziationen ergänzt, wie sie in einer dazu entsprechenden Traumwelt vorkommen könnten. Gentinetta und Braun interpretieren das Schnarchen als Gegensatz zwischen starr und fliessend. Das Tempo und die Bilder werden ganz durch das Wechselspiel von hart und sanft bestimmt. Ein leichtes Schwanken führt bis zum Untergang. Die kurze Sinfonie des Schlafs ist durch die ruhige Inszenierung auf eine Art meditativ, irgendwie aber auch verstörend. Oder wie es die Filmemacher formulieren: «Ein Wiegenlied für einen Untergang in aller Stille.»

Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)
www.schueren-verlag.de
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