FLORIAN LEU

PRUD’HOMMES (STÉPHANE GOËL)

SELECTION CINEMA

Das Arbeitsgericht in Lausanne: Eine Welt der Klarsichtmäppchen, der Dossiers, des Sitzleders, der Verhandlungen ohne Ende. Wenn sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht mehr verstehen, betreten sie einen Saal ohne Fenster und legen ihren Fall vor dem Arbeitsgericht dar. Lange ein Ort der Diskretion und ohne Medienpräsenz, hat sich nun Stéphane Goël Zugang zu den Verhandlungen verschafft und daraus einen Dokumentarfilm gemacht, der Anthropologen reizen wird. In Prud’hommes lassen sich Gesichter betrachten, in denen sich Extreme ereignen: Langeweile, mit der nur noch Studenten im Leistungskurs Statistik mithalten können. Frust, der an Versteinerung grenzt. Wut, so unterschwellig, dass man die Leute im Verhandlungssaal abholen und ihnen auf dem Set eines Thrillers eine Rolle als Bösewicht anbieten könnte.

Der Film hat eine Kraft, die an La forteresse (Fernand Melgar, CH 2008) erinnert. Verhandelte der Film über Asylsuchende die Trauer und die Hoffnung der Leute auf einer Fläche von ein paar hundert Quadratmetern, verengt sich das Recherchegelände in Prud’hommes noch mehr. Bis auf wenige Ausnahmen spielt der Film im Innern des Gerichts und entwickelt dabei einen Sog, den Freunde der Klaustrophobie im Film lieben werden. Ein Dokumentarfilm, der ebenfalls nach diesem Prinzip funktionierte, war La consultation (Héléne de Crécy, F 2006), der nahezu vollständig in der Praxis eines Allgemeinarztes entstanden ist. Ebenso der erste Film eines anderen Filmers aus Lausanne: Jean-Stéphane Brons La bonne conduite (CH 2009), dessen Bilder der Regisseur im Innern von vier Fahrlehrerautos aufnahm.

Diese Fokussierung ist die grosse Stärke auch von Prud’hommes. Wie in einem Längsschnitt wird darin das Bild einer Gesellschaft sichtbar. Was besonders auffällt: Der Richter, ein junger Mann, ist während seiner Ausbildung wohl kaum davon ausgegangen, dass sein Job am Arbeitsgericht zwar viel mit Juristerei, aber noch mehr mit Erziehung zu tun haben wird. Die Leute reden ständig drein, fallen andern ins Wort, wollen nicht mehr aufhören zu reden, und sie sprechen auch, ohne dass ihnen jemand das Rederecht erteilt hätte. Der häufigste Satz des Richters ist deshalb: «Jetzt lassen Sie mich bitte ausreden!»

Was dem Film gut tut, ist, dass er zwar extrem fokussiert, die Strenge des Gerichtssaals aber doch mit einigen gut plazierten und schön fotografierten Aussenansichten kontrastiert. Hier die Geometrie und die Verfahrenheit drinnen, da die Abendstimmung und das über eine Wiese tollende Kind draussen vor dem Gericht.

Wenn man Prud’hommes optimistisch be­trachtet, müsste man ihn als das Resultat einer fast übermenschlichen Geduld bezeichnen. Wenn man ihn pessimistisch sieht, müsste man sagen, dass auch nur Leute mit der fast übermenschlichen Geduld eines Richters als Zuschauer infrage kommen.

Florian Leu
*1984, studiert Germanistik und Geschichte. Er ist Volontär beim NZZFolio und arbeitet als freier Journalist.
(Stand: 2012)
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