NATHALIE JANCSO

180° – WENN DEINE WELT PLÖTZLICH KOPF STEHT (CIHAN INAN)

SELECTION CINEMA

Aus dem Off erklingt eine Kinderstimme, die fröhlich von einem Ausflug erzählt, als Antwort darauf zuerst bloss schweres Atmen und Stöhnen eines Mannes. Die Kamera ist nah an seinem Hinterkopf, dann an seiner Hand, in der er einen Telefonhörer hält. In der anderen trägt er ein Gewehr. Der Kamerablick schweift planlos weiter, in unsteten Bildern und ausgewaschenen Farben, durch Büroräume und über am Boden liegende Körper. Cihan Inans Erstling 180° – Wenn deine Welt plötzlich Kopf steht beginnt mit der intimen Perspektive eines Amokläufers kurz nach seiner blutigen Tat. In der Folge entfaltet der Regisseur ein Kaleidoskop an Figuren und Geschichten, deren Leben von dieser Tat im wahrsten Sinne des Wortes um 180 Grad gewendet werden. Die Nachricht vom Amoklauf wird im Film indirekt zum Auslöser eines Autounfalls, bei dem zwei Jugendliche angefahren werden, ein türkischer Junge und ein Schweizer Mädchen. Die Familien der Opfer begegnen sich im Spital, wo die Sprachbarriere eine Verständigung beinahe verunmöglicht. Die türkische Familie bangt um das Leben ihres Sohnes, der im Koma liegt. Für die Krankenschwester Marion und ihren Mann Manfred bleibt nur noch die Trauer um ihre tote Tochter. Währenddessen ringen der aufstrebende Banker Peter und seine Freundin, die den Unfall verursacht haben, um ihre Beziehung. Das tragische Ereignis macht klar, dass sich ihre Moralvorstellungen zu stark voneinander unterscheiden.

Der Amoklauf dient als Metapher für die Kommunikationsunfähigkeit und macht deut- ­lich, wie das Leben eines jeden innerhalb von Sekundenbruchteilen völlig aus der Bahn geraten kann. Die Einstiegssequenz findet ihre Ergänzung in einem starken Schlussbild, in dem sich ein gigantisches Containerschiff am Hamburger Hafen ins Bild schiebt, während der Amokschütze am Ende seiner Flucht wie erstarrt am Ufer sitzt, klein und unbedeutend nach seiner einsamen Tat, unfähig, sich umzubringen.

Wie so häufig bei Episodenfilmen will der Regisseur auch in diesem Fall zu viel. Neben den Hauptsträngen führt er Figuren und Geschichten ein, die wenig zum Plot beitragen, etwa das Pärchen, das von Leonardo Nigri und Sabine Timoteo gespielt wird. Trotzdem ist Inan auf vielen Ebenen ein beachtliches Debüt gelungen: Die Bil­der sind einer Gross­produktion würdig, sorgfältig ausgewählte Sets unterstreichen die bedrückende Atmosphäre, die Schauspieler sind überzeugend, allen voran Sophie Rois als trauernde Mutter und der türkische Star Güven Kiraç.

Nathalie Jancso
*1969, Studium der Anglistik, Filmwissenschaft und Germanistik an der Universität Zürich. Arbeitet als Filmredaktorin beim Schweizer Fernsehen und war von 2007 bis 2011 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2013)
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