NATHALIE JANCSO

ZWERGE SPRENGEN (CHRISTOF SCHERTENLEIB)

SELECTION CINEMA

Hannes und Thomas Schöni sind zwei Brüder, deren Leben verschiedener nicht sein könnte. Wie jedes Jahr im Herbst treffen sie sich in ihrem Elternhaus im Emmental zum gemeinsamen «Zwerge sprengen». Das jährliche Familienritual nimmt Regisseur und Drehbuchautor Christof Schertenleib zum Anlass für eine vielschichtige Studie schweizerischer Befindlichkeiten und eine tragikomische Familiengeschichte, in deren Verlauf einige ungemütliche Wahrheiten ans Licht kommen.

Hannes Schöni (Michael Neuenschwander) ist ein charmanter Schlawiner, der in der grossen Welt der internationalen Finanzmärk­te mitmischen will. Doch wie so oft steckt er grad wieder Mal in der Patsche: Ein Deal droht bachab zu gehen, und seine Freundin hat ihn verlassen. Sein Bruder Thomas (Max Gertsch) hat es nie aus dem Heimatdorf im Emmental herausgeschafft: Mit seiner Frau führt er eine Arztpraxis, 180 Schritte vom Elternhaus entfernt. Zwischen täglichem Joggen und streng rationalisiertem Zigarettenkonsum zaudert er mit seinem wohlgeordneten Leben. Vater Schöni (Urs Bihler) predigt von der Kanzel herab die protestantische Moral, doch der Sittenzerfall hat im Pfarrhaus längst Einzug gehalten, wohnt doch seine ehemalige Geliebte mit ihrem Sohn oberhalb des Dorfes und kämpft mit der Einsamkeit und ihrer Alkoholsucht. Als Hannes mit einer Zufallsbekanntschaft zum alljährlichen Familienritual eintrifft, spitzen sich die lange gärenden Kon­flikte zu. Erst recht, als die beiden Brüder einer alten Liebe (Sara Capretti) wiederbegegnen.

Der dänische Dogma-Film Festen (Thomas Vinterberg, DK 1998) wurde vereinzelt als Vergleichsbeispiel bemüht, doch sollte man Schertenleib keinen Vorwurf daraus machen, dass sein Familiendrama – trotz des explosiven Titels – kein gar so intensives Gefühlskarussell bietet. Der Gartenzwerge als das Symbol für das Bünzlitum erzeugt ja selbst beim Sprengen nur wenig Schall und Rauch. Die feinsinnige Tragikomödie spielt jedoch gekonnt mit den Widersprüchlichkeiten der Schweizer Mentalität und der Brüchigkeit der ländlichen Idylle. Die durchaus realen Kämpfe und Krämpfe der Grossfamilie werden gegen die idealisierte Filmlandschaft des Emmentals gestellt, wie man sie aus alten und neueren Schweizer Heimatfilmen kennt.

Gewisse Längen und ein paar überinszenierte Szenen verzeiht man dem Film dank des durchweg tollen Ensembles: Vor allem Michael Neuenschwander und Max Gertsch, die beide schon kleinere Rollen in Schertenleibs Erstling Liebe Lügen (1995) spielten, funktionieren perfekt als antagonistisches Brüderpaar. Zwerge sprengen wurde an den Solo­thur­ner Filmtagen 2010 als Eröffnungsfilm gezeigt.

Nathalie Jancso
*1969, Studium der Anglistik, Filmwissenschaft und Germanistik an der Universität Zürich. Arbeitet als Filmredaktorin beim Schweizer Fernsehen und war von 2007 bis 2011 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2013)
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