GEESA TUCH

MITLEIDEN AN DER SCHWEIZER GRENZE — DIE LETZTE CHANCE

ESSAY

Die letzte Chance ist ein Filmepos internationalen Stiles. Nicht etwa deshalb nur, weil darin mancherlei Sprachen gesprochen werden, englisch, italienisch, französisch, holländisch, serbisch, deutsch und ein bisschen Schweizer Mundart, sondern weil es die Internationalität des Herzens, die Internationalität der einfachsten Menschengefühle auffängt.1[SM1]

(1945)

Manchmal bleiben alte Filmkritiken beim Lesen im Kopf hängen, gerade so sentimentale Formulierungen wie die der «Internationalität des Herzens» setzen sich fest. Vielleicht, weil wir glauben, dass sie Aufschluss darüber geben, welche Sehnsüchte das zeitgenössische Publikum, zumindest aber dieser eine Filmkritiker, mit in den Kinosaal brachte und auf die Leinwand projizierte, so etwa die Hoffnung auf eine grenzübergreifende Bewältigung von sechs Jahren Kriegserfahrung. Wenige Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs betont die zitierte Kritik, dass die Menschen über alle nationalen Grenzen hinweg gleich fühlen. Das von der Praesens Film produzierte Schweizer Flüchtlingsdrama Die letzte Chance (Leopold Lindtberg, CH 1945), welches hier besprochen wird, wird zwar romantisiert, aber nicht zu Unrecht zum Kronzeugen für einen filmischen Humanismus hinauf stilisiert. Die oben beschworene «Internationalität», die nicht allein die vielsprachige Besetzungsliste, den britischen Hauptdarsteller, den österreichischen Regisseur und den aus Galizien stammenden Produzenten meint, lässt sich tatsächlich aufspüren. Die letzte Chance stellt nämlich eine grenzübergreifende Perspektive auf den Krieg her und – das ist für die rückblickende Einordnung des Films nicht unerheblich – zwar noch vor Ende des Krieges. In Produktion war er seit Frühjahr 1944, Premiere hatte er erst einige Wochen nach der deutschen Kapitulation.2 Das Grenzübergreifende in Die letzte Chance lässt sich weder auf einen Verbrüderungsversuch im Sinne einer Anbiederung an die zukünftigen Siegermächte noch auf den, z.B. im deutschen Nachkriegsfilm allgegenwärtigen Humanismusreflex reduzieren. Das zeichnet ihn vor vielen anderen europäischen und amerikanischen Filmen der Vierzigerjahre aus und ist wohl auch einer der Gründe, warum der Film nicht nur die Kritiker in der Schweiz, sondern auch in London, Paris, New York, Brüssel, Stockholm und Rom begeisterte. Die letzte Chance war ein regelrechter Exportschlager, der auch das ausländische Publikum für sich einnahm. 1946 gewann er unter anderem den Grand Prix in Cannes (den Vorgänger der Goldenen Palme) und den grossen Preis der New Yorker Kritik.3 So verdient der Erfolg von Die letzte Chance in der Nachkriegswelt war, so war der Film doch weniger unschuldig, als es die obige Kritik nahe legt. Leopold Lindtbergs Drama war für den internationalen Filmmarkt konzipiert, der transnationale Affekt des Films idealistische Didaktik und Exportgut zugleich. Werner Wider hat in Der Schweizer Film 1929–1964. Die Schweiz als Ritual ausführlich beschrieben, inwiefern sich Die letzte Chance aus der Schweizer Filmtradition löst und der Dramaturgie des «internationalen Filmmarkts» annähert.4 Während Wider im Geiste der 1970er- und 1980er-Jahre davon ausgeht, dass jede Konzession an das Genrekino die ethische Haltung eines Films kompromittiere, soll dieser Beitrag weder über die idealistisch-didaktische, noch über die marktorientierte Strategie dieses Praesens-Films urteilen – insofern sich diese überhaupt von einander trennen lassen –, sondern die Herstellung eines Affekts nachverfolgen, der darauf abzielt, nicht nur den Krieg, sondern nationale Grenzen an sich infrage zu stellen.

Die letzte Chance wurde 1944 in der Schweiz gedreht und spielt im Herbst 1943 in Norditalien. Süditalien ist bereits von den Alliierten besetzt, im Norden kämpfen Partisanen gegen faschistische Verbände und deutsche Truppen. Zwei alliierten Kriegsgefangenen, dem Engländer Halliday (John Hoy) und dem Amerikaner Braddock (Ray Reagan), gelingt die Flucht aus einem deutschen Gefangenentransport. Auf ihrem Weg in die Schweiz begegnen die beiden Soldaten einer Gruppe von jüdischen Flüchtlingen aus verschiedenen europäischen Ländern, die sich schon seit Jahren auf der Flucht befinden. Nach einigen Strapazen in den Alpen gelingt ihnen schliesslich gemeinsam der Grenzübertritt in die Schweiz. Das Happy End bleibt jedoch aus: Ein deutsch-jüdischer Junge opfert sein Leben an der Grenze, der englische Soldat wird angeschossen und stirbt kurz danach an seiner Schussverletzung. Und die Zukunft der anderen jüdischen Flüchtlinge bleibt ungewiss.

Natürlich lässt sich der Film als Schweizer Produktion, d. h. im Kontext schweizerischen Selbstverständnisses und der eidgenössischen Film- und Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg verstehen. Vor dem Hintergrund der Geistigen Landesverteidigung wurde die Produktionsgeschichte des Films dann auch ausführlich beschrieben.5 Aufschlussreicher ist es jedoch, Die letzte Chance entgegen den Parametern des nationalen Kriegskinos zu lesen. Dann ist der Grenzübertritt nicht nur der dramatische Höhepunkt des Films, sondern auch sein ästhetisches Programm. Er stellt den Versuch dar, die nationalen Grenzen der Kriegswahrnehmung zu überwinden. Eine solche Lesart des Films nähert sich einigen Autoren an, die Die letzte Chance en passant in Beziehung zum Neorealismus setzen, unter ihnen auch die Zeitgenossen Georges Sadoul und André Bazin.6 Im Hinblick auf den frühen Nachkriegsfilm ist es ihnen nicht um die Inszenierung von Grenzen zu tun, wohl aber um die Veränderung der Wahrnehmung, die mit einem Wandel der filmischen Ausdrucksform einhergeht. Im Folgenden soll die Verknüpfung von Grenzinszenierung und Wahrnehmungswandel in Die letzte Chance aufgezeigt werden. Die Frage, ob oder unter welchen Voraussetzungen der Film als neorealistisch bezeichnet werden kann oder wie Wider erklärt, ein Unterhaltungsfilm amerikanischen Zuschnitts ist, steht dabei nicht zur Debatte, vielmehr wird offensichtlich werden, dass Lindtberg verschiedene filmische Strategien einsetzt, um nationale Grenzen filmisch zu überschreiten.

Die Zivilisierung der Wahrnehmung

Die Hauptrollen in diesem Programm spielen keine Schweizer, sondern zwei alli­ierte Soldaten. Während die neutralen Schweizer ihre Grenze schützen, sie dabei aber niemals übertreten dürfen, haben der Amerikaner und der Engländer sie längst überschritten – zumindest physisch. In die Filmhandlung eingeführt werden sie auf dem Weg von Italien nach Österreich. Alliierte Flugzeuge bombardieren den Güterzug, in dem die Wehrmacht ihre Kriegsgefangenen aufs Reichsgebiet bringen will. Männer springen aus brennenden Waggons, Schüsse verfolgen sie in der Dunkelheit. In einem Graben trifft der amerikanische Sergeant Braddock auf den englischen Leutnant Halliday und sie beschliessen, sich gemeinsam durchzuschlagen, am besten bis in den Süden zu den alliierten Truppen.

Für einen Soldaten im Krieg ist physische Mobilität nicht weiter bemerkenswert, geht es doch eigentlich immer darum, fremdes Territorium einzunehmen. Das bestätigt übrigens auch die Besetzung der beiden Protagonisten in Die letzte Chance mit Schauspielern, die tatsächlich alliierte Soldaten waren, die mit ihren Flugzeugen über der Schweiz abgestürzt waren. Die soldatische Wahrnehmung aber bleibt notwendig eine nationale, soll doch ihr Fühlen und Handeln auf die Werte und Interessen des kriegführenden Vaterlandes ausgerichtet werden – dies gilt zumindest für den Grossteil der internationalen Kriegsfilme in den Vierzigerjahren. Das Grenzübergreifende, um das es hier geht, ist anders zu verstehen, denn die tatsächliche Grenzüberschreitung am Ende des Films wäre bedeutungslos, hätte sich nicht die Wahrnehmung des Krieges im Laufe des Films verändert. Die Eingangssequenz wirft uns in einen beliebigen nationalen Konflikt, am Ende jedoch ist der Zweite Weltkrieg als transnationale Katastrophe entlarvt. Dieser Wahrnehmungswandel ist an die beiden Haupt­figuren gebunden und findet seinen Ausdruck in einem veränderten Kamerastil.

In einer späteren Szene sitzen die beiden erneut in einem Zug, entgegen ihrem früheren Beschluss fahren sie nicht an die Front, sondern in Richtung Schweizer Grenze. Die Fahrt verlangsamt sich, die Waggons kommen zum Stehen. Halliday klettert auf eine Kiste und späht aus einer vergitterten Luke. Schreie, Schluchzen, Pfeifen sind zu hören, auch Viehgebrüll. Halliday fordert seinen Kameraden auf, sich das anzugucken. Die Kamera nimmt nun zum ersten Mal Hallidays Perspektive ein. Es ist Nacht, aber in einem point-of-view shot werden zwischen den fahrenden Zügen langsam die Umrisse von Menschen sichtbar; eine versprengte Kolonne, die sich langsam vorwärts bewegt: Halliday und Braddock werden Zeugen einer Deportation. Die Szene fällt stilistisch in zweierlei Hinsicht aus dem Rahmen der vorausgegangenen Sequenzen. Bislang konnten die Zuschauer die «Reise» der beiden Protagonisten durch Norditalien als unauffällige Beobachter nachvollziehen, die Kamera hielt stets respektvollen Abstand zum Geschehen und die beiden Figuren fügten sich gleichberechtigt in ihre Umgebung. Nun wird dieser «realistische» Stil dadurch unterbrochen, dass eine subjektive Kamera zum Einsatz kommt. Zusätzliches Gewicht erhält der Blick des Soldaten durch den Auftritt der einzigen bekannten Schauspielerin des Films in dieser Einstellung. Therese Giehse spielt eine Frau, die von Halliday dabei beobachtet wird, wie sie ihren Mann sucht. Als sie erkennt, dass er bereits in einen Viehwaggon gesperrt worden ist, läuft sie an die Spitze des Deportationszugs. Der Zug, aus dem die beiden Soldaten das Geschehen verfolgen, setzt sich wieder in Bewegung. Immer kleiner wird das Bild der Frau, die mit erhobenen Händen auf die sich entfernende Kamera zu läuft. Sie rennt von Dampfschwaden umhüllt bis vor die Lokomotive, legt sich auf die Gleise und wird von gesichtslosen Uniformierten weggezerrt.

Es handelt sich hier um eine der ersten expliziten Darstellungen einer Deportation im Spielfilm. Für einen Film aus der neutralen Schweiz war die explizite Thematisierung der Judenverfolgung geradezu revolutionär – auch in diesem Sinne haben wir es in Die letzte Chance mit einer Grenzüberschreitung zu tun. Indem Lindtberg, der die anderen Rollen überwiegend mit Laien besetzte, Therese Giehse in den Mittelpunkt der Deportationsszene stellt, tritt das Ereignis zusätzlich hervor. Ihr Gesicht wird zum Schlüsselbild der transnationalen Katastrophe, die in dieser Szene in den soldatischen Kriegsalltag einbricht. Am Ende dieser Szene tritt das jüdische Opfer jedoch hinter die Erfahrung der beiden Zeugen Halliday und Braddock zurück. Nicht das Bild der verzweifelten Frau, sondern die Erschütterung der beiden Soldaten, die das erste Mal mit eigenen Augen sehen, was viele wissen, aber nur wenige wahrhaben wollen, beschliesst die Szene. Sergeant Halliday verzerrt das Gesicht, wendet sich ab und schlägt die Hand vor die gesenkten Augen. Auf dieser Pose verweilt die Kamera einen Augenblick, bevor sie auf Braddock schwenkt, der vor Entsetzen am Boden zusammengesackt ist.

Diese stereotype Inszenierung von Empfindsamkeit erweitert das Bildrepertoire des Films ebenso wie der vorherige point-of-view shot und zeigt den Kern dessen, was in Die letzte Chance als transnationale Kriegserfahrung figuriert: Mitleid. Wenn Halliday «Why can’t we do something?» durch die zusammengebissenen Zähne presst, löst er sich aus der soldatischen Kollektividentität und artikuliert sein individuelles Mitleid, ein Gefühl, das nicht patriotisch, sondern menschlich motiviert ist. Die «Internationalität des Herzens», die der eingangs zitierte Rezensent in Die letzte Chance zu entdecken glaubte, begründet sich in dieser Szene. Genau genommen besteht die grenzübergreifende Kriegserfahrung dann aus einer geteilten Reaktion auf bezeugtes Leid, nicht aus dem Leiden selbst. Hier lässt sich Lindtbergs humanistisches Anliegen erkennen, denn diese Szene soll bezeugen, dass der Mensch an sich mitleidsfähig ist, beziehungsweise dass die Mitleidsfähigkeit die Menschen über Grenzen hinweg verbindet. Diese urmenschliche und damit grenzenlose Erfahrung wird der unmenschlichen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs entgegengestellt. Mit anderen Worten, in dieser Sequenz beginnt eine «Zivilisierung» der Wahrnehmung. Nun wird jeder, der eine Handvoll Classical-Hollywood-Kriegsfilme gesehen hat, zu Recht sagen, dass der Grenzübertritt zwischen militärischem und zivilem Leben zu den grundlegenden Motiven des Genres gehört, und auch der Rückgriff auf humanistische Werte gehört zu den Gemeinplätzen der filmischen Kriegsdarstellung. In Die letzte Chance vollzieht sich aber eben nicht nur der Übergang von einem militärischen zu einem zivilem Raum, sondern das Ereignis Krieg selbst wandelt sich durch das Auftreten Therese Giehses als Jüdin, die sich vor einen Deportationszug wirft und aus dem im Genrekino etablierten semantischen Feld «Krieg» herausfällt. Hier kann dennoch von einer Zivilisierung der Wahrnehmung gesprochen werden, weil der Film selbst die zivile, menschliche Sicht auf den Krieg an den Genozid an den europäischen Juden bindet. Damit ist der Zweite Weltkrieg als Ereignis dargestellt, das nicht aus einem «gleichberechtigten» militärischen Konflikt zwischen Nationalstaaten besteht und sich folglich nicht militärisch lösen lässt. Für die Protagonisten des Films ist die Aufgabe ihrer soldatischen Wahrnehmung allerdings ein schwieriger Prozess, und dem Schock der Deportation muss die erneute Konfrontation folgen. Erst ein zweiter point-of-view shot, wiederum auf das Gesicht von Therese Giehse, vermag das Mitleid der Zeugen in Handeln umzusetzen und eine neue Erfahrungsgemeinschaft zu etablieren. Unter diesen neuen Voraussetzungen wird der Zweite Weltkrieg dann zur logischen Folge nationaler Ausgrenzung. Rückblickend scheint es eigentümlich, dass Lindtberg ausgerechnet in dem Moment, in dem er auf das angeblich Allgemeinmenschliche kommt, auf die konventionellen Bildformeln einer subjektiven Kamera zurückgreift und sich nicht auf die «realistischen» Darstellungsverfahren verlässt.

Die Utopie einer Erfahrungsgemeinschaft

In der Chronologie des Films holt der Krieg Braddock und Halliday recht schnell wieder ein. Die nächtliche Episode scheint die beiden auf ihrem Weg nicht weiter zu beeinflussen, stattdessen wollen sie sich gemeinsam mit einem englischen Major den Partisanen anschliessen. Doch noch bevor es dazu kommt, greifen deutsche Truppen überraschend das Bergdorf an, in dem sie vorübergehend Zuflucht gesucht haben. Der örtliche Priester bittet die Soldaten, einer Gruppe jüdischer Flüchtlinge Geleitgeben. Aber Kinder, alte Männer und Frauen würden die Soldaten bei der Ausübung ihrer Pflicht behindern, und sie wehren die Bitten des Priesters ab. Unmittelbar nachdem sie abgelehnt haben zu helfen, erkennt Braddock unter den wartenden Flüchtlingen das Gesicht der jüdischen Frau – der erwähnte zweite point-of-view shot des Films. In einer Schuss-Gegenschuss-Einstellungsfolge kreuzt sich nun auch Hallidays Blick mit demjenigen der Frau. Die Erinnerung an das empfundene Mitleid, an das eigene Leiden angesichts des Leidens der Flüchtlingsfrau auf dem Güterbahnhof, löst nun einen unwillkürlichen Entschluss aus. Noch bevor er auch nur einen Gedanken fassen kann, hat Halliday seine Hilfe zugesichert, als sei ein menschlicher Reflex an die Stelle der Ohnmacht aus der Deportationsszene getreten. Jetzt endlich wird die patriotische Pflicht zu kämpfen zurückgestellt und die durch die Blickkomposition nahegelegte Distanz zwischen Zeuge und Opfer der früheren Szene verringert. Die visuelle Herstellung des Transnationalen schreitet voran, indem die Frau den Blick des britischen Soldaten erwidert und dadurch selbst wahrnehmendes Subjekt wird. Aber nach wie vor können sich die beiden im gleichen Bildrahmen treffen. Die leichte Aufsicht auf die Frau signalisiert die immer noch bestehende Hierarchie zwischen Soldaten und Flüchtlingen.

Der dritte und letzte Schritt zum Transnationalen vollzieht sich noch vor der Schweizer Grenze. Irgendwo zwischen Italien und der Schweiz in einer Berghütte kann gefühltes Mitleid in praktizierte Gemeinschaft übergehen und die Flucht als grenzübergreifende Erfahrung überhöht Gestalt annehmen. Hier tritt auch die dem Film innewohnende Spannung zutage, denn während das Mitleid vollkommen ahistorisch als Wesenszug eines jeden Menschen behauptet wird, verleiht die konkrete Angst vor den deutschen Gaskammern jedem Glauben an eine Menschengemeinschaft ein utopisches Moment. Bildsprachlich sind die Grenzen zwischen den Soldaten und den Flüchtlingen verschwunden, es dominieren Halbtotalen, welche die Menschen verschiedener Herkunft in einem Bildrahmen vereinen, und Kameraschwenks, welche die Verbindungen zwischen den Menschen betonen. Symbolisch wird dieser Vorgang durch zwei Rituale bekräftigt, die zu den Archetypen von Gemeinschaft gehören: gemeinsames Singen und Schnapstrinken.

Wenn hier über die Schweiz als Ort des vielsprachigen Miteinanders gesprochen wird, geht es nicht um das reale Ziel der Flucht, sondern um eine Utopie; um den Glauben an einen Ort, an dem die grenzenlose Menschengemeinschaft, die sich in dieser Berghütte gefunden hat, Wirklichkeit sein könnte. Das gemeinsame Singen des Kanons «Frère Jacques» in den Muttersprachen der Flüchtlinge, das die Szene abschliesst, bestätigt ebenso die Gemeinschaft, wie der Film gleichzeitig seine eigene Inszenierung als naiv-idealistisch entlarvt. Der Amerikaner nämlich singt einen – in Amerika geläufigen – anderen Text: «We are crazy, we are nuts, happy little morons [...].» Nur «Irre» können mitten im Krieg auf grenzübergreifende Menschlichkeit hoffen. Wenig später ist die Flüchtlingsgemeinschaft dann mit dem Grenzregime konfrontiert und die «zivile» Wahrnehmung der Figuren prallt auf eine politische Realität, in der das Leben eines Soldaten vor dem eines jüdischen Flüchtlings privilegiert wird. Die geflohenen Kriegsgefangenen werden selbstverständlich aufgenommen, während die Grenzwächter den jüdischen Flüchtlingen keine vorschnellen Hoffnungen machen wollen. In dieser Hinsicht gelingt Die letzte Chance übrigens, woran viele Nachkriegsfilme scheiterten: Die transnationale Erfahrungsgemeinschaft entsteht, ohne dabei die unterschiedlichen Schicksale der Protagonisten undifferenziert gleichzusetzen.

Der Grenzübertritt

Die Kritik, die in der Sequenz an der Grenze formuliert wird, richtet sich gegen die Schweizer Aufnahmepolitik im Zweiten Weltkrieg, aber sie geht auch darüber hinaus. Die Sequenz visualisiert die tödliche Wirkmacht der Grenze und führt die nationale Grenzen als etwas vor, das erst durch die Sprache entsteht, ganz anders als das «natürliche» Mitleid übrigens, das in den vorangegangen Szenen des Films als vorsprachliche Reaktion auf etwas Gesehenes beschrieben wurde. Die Grenze zwischen den beiden Ländern bleibt in Die letzte Chance unsichtbar. Nichts ausser einem Schneefeld liegt vor den Flüchtlingen, als die Gruppe endlich an der Schweizer Grenze ankommt – nichts mehr als die weisse, sprich scheinbar leere Leinwand, wie sie André Bazin in seinem Text «Il neige sur le Cinéma»7 beschreibt. Dieses vermeintlich dramatischste aller Elemente gibt in diesem Fall vor, etwas zu verdecken, das niemals sichtbar war: eine Grenzlinie. Und es bietet die Bühne für das dramatische Finale, in dem es um nichts weniger als um Tod oder Leben geht. Immer wieder haben die jüdischen Flüchtlinge die Soldaten gemahnt, dass die Schweiz Die letzte Chance sei, den Krieg zu überleben, und nirgends kann die Perversität dieses Krieges deutlicher zutage treten als an dieser weissen Fläche.

Während die anderen noch beraten, wie sie in die Schweiz gelangen könnten, löst sich der Jugendliche Bernhard aus der Gruppe und rennt quer über das Schneefeld, um eine deutsche Patrouille von den anderen abzulenken. Dies gelingt, und während die deutschen Soldaten auf Skiern Bernhard verfolgen, rennen die anderen um ihr Leben. Bernhard wird schliesslich erschossen und wir sehen seinen toten Körper den weissen Hang hinunterrollen. Eine Vielzahl von Einstellungswinkeln und -grössen erschwert die Übersicht in dieser Szene, und erst als eine Stimme «Halt! Svizzera!» ruft, entsteht eine Landesgrenze und die topografischen Verhältnisse im Bild ordnen sich. Die Grenze ist überschritten, sie hat ihre tödliche Wirkmacht bewiesen – und ihre Rettungskraft.

Dies ist das eigentliche Ende von Die letzte Chance, auch wenn noch eine Sequenz folgt, in der Halliday stirbt, mit militärischen Ehren beerdigt wird und die Flüchtlinge vorläufig aufgenommen werden. Spätestens der Grenzübertritt offenbart Lindtbergs Inspirationsquelle: Jean Renoirs Film La Grande Illusion von 1937, in dem Kriegsgefangene aus dem Ersten Weltkrieg aus mehreren deutschen Lagern fliehen und schliesslich zu Fuss durch ein Schneefeld in die Schweiz wandern. Auch hier muss die Grenze von einem Soldaten ausgerufen werden, um für den Zuschauer erkennbar zu werden. Und auch bei Renoir ist ein Selbstopfer die Voraussetzung der gelungenen Flucht.

Das Selbstopfer

Rückblickend betrachtet steht Bernhards Selbstopfer in einem eigentümlichen Widerspruch zu der «realistischen» Situationsbeschreibung in Die letzte Chance, denn der Tod des Jungen verschiebt den Konflikt zwischen transnationaler Erfahrung und nationalem Regime ins Mythische. Das Selbstopfer in Die letzte Chance fügt sich in eine melodramatische Affektökonomie, welche das kritische Potenzial der filmischen Konstruktion einer transnationalen Erfahrungsgemeinschaft überdeckt. Damit drohen das verstörende Potenzial der Deportationsszene und der anschliessende karitative Appell in den Konventionen des Genrekinos zu verhallen.

Das Selbstopfer gehört ebenso zum Inventar des Melodrams wie zum zeitgenössischen Kriegsfilm. Während Ersteres das Individuum gegen die historisch-soziale Norm seiner Umwelt aufwertet, überhöht das Selbstopfer im Kriegsfilm die Gemeinschaft. In beiden Fällen wird der Tod symbolisch sinnvoll und verliert sein destruktives Potenzial. Der Tod des jungen Bernhards wird in Die letzte Chance im Spannungsfeld dieser beiden filmischen Opferformeln situiert und ermöglicht dem Zuschauer entsprechend auf bewährte Reaktionsschemata zurückzugreifen: dem kathartischen Schluchzen. Lindtberg verankert die Zivilisierung der Wahrnehmung, die in der Deportationsszene ihren Anfang nimmt, also schliesslich im ästhetischen Rahmen des zeitgenössischen Genrekinos. Die letzte Chance schliesst stärker, als es mit dem «neuen», vermeintlich neorealistischen Stil und der Referenz an den Meister des poetischen Realismus zunächst erscheint, an das affektive Register des konventionellen Erzählkinos an. Ein negatives Urteil über den Film ergibt sich aus diesem Befund allerdings nur im Hinblick auf eine spezifische Erwartungshaltung an realistische Verfahrensweisen. Ausgehend von dem interna­tionalen Erfolg des Films liesse sich vielleicht umgekehrt argumentieren, dass der Film, gerade weil er affektökonomisch im Genrekino verwurzelt ist, bereits 1945 einem internationalen Publikum eine Perspektive auf den Krieg vermitteln konnte, welche Mitleid anstelle von politischen Interessen setzt und die Judenverfolgung in den Mittelpunkt einer transnationalen Kriegserfahrung stellt. Insofern könnte die hybride Komposition des Films der erwähnten Ausrichtung auf den internationalen Markt ebenso geschuldet sein wie die Wahl zweier alliierter Soldaten als Protagonisten. Beweisen lässt sich unterdessen lediglich Lazar Wechslers Interesse, den internationalen Filmmarkt zu erobern: der Chef der Praesens-Film war nämlich unmittelbar nach der Fertigstellung der letzten Chance auf Verkaufsreise in die USA geflogen. Und die vielfachen persönlichen Erfahrungen, die in Die letzte Chance einflossen. So war der Regisseur Leopold Lindtberg genau wie Therese Giehse in den Dreissigerjahren als Flüchtling nach Zürich gekommen, beide stammten aus jüdischen Elternhäusern und hatten am Theater gearbeitet. John Hoy und Ray Reagan waren, wie oben erwähnt, tatsächlich Soldaten und hatten im Krieg gekämpft und wurden aus dem Internierungslager hinaus für ihre Rollen verpflichtet, aber auch die anderen Flüchtlinge sprachen im Film ihre Muttersprache.

Fazit

Das Verbindende zwischen den Menschen, die «Internationalität der Herzen», ist die Fähigkeit, Mitleid zu spüren. Dies postuliert Die letzte Chance zugleich als These und als Hoffnung. Der Film inszeniert Mitleid als das Gegenprinzip zu nationalen Interessen und führt vor, wie zwei Soldaten aufhören, den Krieg als nationale Verpflichtung zu sehen, und lernen, sich als Teil einer transnationalen Erfahrungsgemeinschaft wahrzunehmen. Dieser Wahrnehmungswandel realisiert sich mittels zweier ästhetischer Verfahren, einem «realistischen» und einem «subjektiven», wobei der Film keineswegs moralisiert. Zentraler Moment für die Herstellung des Transnationalen ist eine Deportation, die allerdings nicht aus der Perspektive der Opfer, sondern aus der Sicht der Soldaten gezeigt wird, und insofern ist die konstruierte Erfahrungsgemeinschaft eine der Mitleidenden. Der Grenzübertritt ist zwar der dramatische Höhepunkt des Films, aber auch das Ende der transnationalen Gemeinschaft. Zu untersuchen bliebe, wie sich die stilistischen Verfahren Lindtbergs und die Art und Weise, Kriegs­erfahrung zu definieren, zu anderen zeitgenössischen Filmen verhalten.

Das Zitat stammt aus einer Filmkritik, deren Verfasser und Erscheinungsort nicht mehr eruiert werden konnten – aber immerhin das Erscheinungsjahr: 1945.

Vgl. z. B. Hervé Dumont: Geschichte des Schweizer Films: Spielfilme 1896–1965, Lausanne 1987, S. 389.

Ebd.

Werner Wider: Der Schweizer Film 1929–1964: Die Schweiz als Ritual, Bd. 1, Zürich 1981, ab S. 394 f.

Z. B. ebd. oder Walter Bovari: Morgarten kann nicht stattfinden. Lazar Wechsler und der Schweizer Film. Zürich 1966.

Vgl. z. B. André Bazin: «Der filmische Realismus und die italienische Schule der Befreiung», in: ders.: Was ist Film?, Berlin 2004, S. 304, oder Georges Sadoul: «Cinéma italien. Cinéma couleur de temps», in: Les Lettres françaises, 15. November 1946, S. 8.

André Bazin: Le cinéma français : de la libération à la nouvelle vague (1945–1958), Paris 1983, S. 334.

Geesa Tuch
Studium der neuen deutschen Literatur an der Humboldt Universität zu Berlin und der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Magister-Abschluss 2008. 2005/06 Forschungsassistentin am Department for German Studies an der Cornell University. Seit 2009 Mitarbeiterin im ProDoc «Techniken des Audiovisuellen» des Netzwerk Cinema CH, mit einem Dissertationsprojekt zur Diffusion narrativer und visueller Formen im europäischen Film der Vierzigerjahre.
(Stand: 2012)
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