PERIKLES MONIOUDIS

MAKEDONISCHE FAHRT

ESSAY

Ich erkannte mich kaum wieder. Aber der ganz rechts, mit dem weissen, löchrigen Leibchen, das war ich sehr wohl. In der Menge, die mich einschloss und in der ich andere, ebenso junge und ausgezehrte Jugendliche vorantrieb, hatten wir eine befestigte Strasse erreicht, auf ihr endlich ein Dorf, dieses Dorf da auf dem Display des Notebooks, der meinem guten Freund Michalis gehört. Ich hatte Michalis damals, als ich völlig mittellos nach Athen kam, ganz in der Nähe des Cafés kennengelernt, in dem wir von da an unseren Nachmittagsmokka einnahmen. Er hatte mir geholfen, bei dem Athener Verlag unterzukommen, der meine Romane veröffentlichte, die Romane eines jungen Albaners, verfasst in griechischer Sprache. Er selbst hatte als Filmemacher schon einiges erreicht, als er sich für meine Texte zu interessieren begann; die Versuche aber, einen Film über meine Geschichte zu drehen, hatten sich nur so weit konkretisiert, als dass wir uns darauf geeinigt hatten, sie als solche zu betrachten, als Teil meiner Lebensgeschichte.

Das mag nach einer Selbstverständlichkeit klingen, zumal unter Freunden. Traurig genug war aber der Alltag, der sich an meine Ankunft nicht erst in Athen anschloss – sondern bereits in dem makedonischen Dorf, das mir Micha­lis auf seinem Notebook zeigte –, bestenfalls trist. Als Jugendlicher im Auffanglager hatte ich wenigstens noch die Zeit, meine Notizen anzufertigen. Ich hatte ja nur Zeit, bis, nach einigen Monaten, meine Papiere ausgestellt wurden und ich das Lager verlassen durfte.

In Athen sprach man mir meine Geschichte ab. Die Menschen kümmerte es in der Regel wenig, was man damals erlebt hatte. Das ist vielleicht ihr gutes Recht. Meine Entscheidung aber, auf griechisch zu schreiben, war keine Anbiederung. Auf griechisch habe ich zum ersten Mal die Franzosen und Amerikaner gelesen, die Deutschen, von diesen vor allem die Romantiker. Für viele ist das eine grosse Errungenschaft, ein junger Albaner, der sich doch so gut und schnell zu integrieren versucht hat, sogar als Künstler. Für mich aber war diese Einschätzung ein Teil des Problems.

Welches Problem? Worüber beklage ich mich überhaupt? Vielleicht über mich selbst, der ich auf dem Display gerade eine Scheibe einwerfe, mit einem Ziegelstein, und jetzt das weisse, löchrige Leibchen um die Faust wickle, um die Splitter von den Auslagen zu wischen. Die Beute besteht aus Fleischkonserven und Wasserflaschen; sackweise Zwiebelringe, Dörrfrüchte, Nüsse. Das alles wird auf der Stelle verzehrt. Kämpfe entstehen, nicht mit dem Besitzer, der hat sich mit den anderen Bewohnern vor uns in Sicherheit gebracht. Die Schwächsten gehen leer aus, rennen zum nächsten Schaufenster. Ich verschwinde vom Display so, wie ich erschienen war, schemenhaft unter den schemenhaften Typen, mit denen ich die Grenze überquert und den Weg in dieses zum Glück nicht gänzlich verbarrikadierte Dorf gefunden hatte.

Nochmal, sagte ich zu Michalis; ohne zu wissen, woher die Bilder, und auch ohne zu fragen. Nochmal also die riesige Menge da, von oben gefilmt, aus einem Versteck wohl, ganz sicher aus einem Versteck, doch von wem? Welcher Wahnsinnige blieb im Dorf zurück und filmte uns Marodierende?

Michalis lächelte. Er hatte geahnt, dass er mir die Bilder zumuten konnte. So weit, so gut, sagte er und weihte mich anschliessend in seine Pläne ein. Er wollte diese Person ausfindig machen und ob ich bereit wäre, ihn zu begleiten.

Ich liess mir mit der Antwort Zeit. Als es dunkel wurde, stand ich auf und schlug ihm vor, auf der Stelle aufzubrechen. Michalis verschwand kurz und fuhr dann mit dem Auto vor. Ich stieg ein. Nach Makedonien waren es 600 Kilometer.

Michalis hatte die kleine Kamera dabei, das Kabel zum Zigarettenanzün­der mäanderte zwischen den Sitzen. Er hatte die Angewohnheit, die kleine Kamera zu Hause geladen bereitzuhalten, aber mit der Fahrt zum makedonischen Dorf hatte er nicht gerechnet. Auch ich war unvorbereitet. Mir ging nicht aus dem Kopf, wie merkwürdig es doch war, dass es jene Aufnahmen überhaupt gab. Meine Gestalt aus früheren Tagen beelendete mich nicht, ich fand die Bilder gerade einmal merkwürdig, ich hatte sie nicht erwartet. Jemand, vielleicht der Urheber selbst, musste sie ins Internet gestellt haben. So wie das Millionen von Menschen tun, denen Vandalenakte oder gewalttätige Proteste begegnen, musste auch der Urheber dieser Aufnahmen gedacht haben, dass diese – auch wenn sie uns Marodierende, grosse Not zeigten – zumindest einen gewissen Unterhaltungswert besassen. Von allein gelangten diese Bilder nicht ins Internet. Sie mussten von der Videokassette neu überspielt worden sein, auf einen Rechner vielleicht so klein wie das Notebook von Michalis, dann hochgeladen, für Milliarden von Menschen sichtbar – oder eben für die Wenigen, die sich ausgerechnet diese Bilder im Internet anschauen mochten. Ich nahm die kleine Kamera in die Hand. Michalis beachtete mich nicht. Ich schaltete sie ein. In der Dunkelheit der Nacht war durch den Sucher nichts zu erkennen.

Michalis und ich teilten uns ins Fahren. Wir sprachen wenig; der eine schlief, während der andere lenkte. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, woran er die längste Zeit dachte. Er grübelte über dem Film, den er über mich drehen wollte und für den er vom staatlichen Fernsehen schon vor einem Jahr einen Auftrag erhalten hatte. Sein Problem war, dass er über die Abbildung der Marodierenden hinaus so recht keinen Ansatz fand. Wessen Problem?

Die hügelige Landschaft zum Balkangebirge hin war nun, im Frühherbst, noch grün, wenn sie der diesige Morgen auch in gedeckten Farben erscheinen liess; vielleicht würde es später regnen. Wir hielten wieder einmal an, Michalis setzte sich hinters Lenkrad. Ich griff zur Kamera, schaltete sie ein. Ihr Akku war längst geladen. Im Sucher flimmerte es bläulich. Ich setzte die Kamera an, schaute hindurch. Was ich sah, war ich selbst, in der Spiegelung der Frontscheibe. Ich ging näher heran. Erst, als die Linse die Scheibe berührte, konnte ich aus dem Fahrzeug hinaus sehen. Das Dorf war noch genau so, wie ich es in Erinnerung hatte; die Hauptstrasse jetzt, im fortgeschrittenen Morgen, menschenleer wie damals.

Wir sahen einander an. Michalis zuckte mit den Schultern, doch mir war, als würde sich die Erinnerung einstellen; ich wusste jetzt, wo es lang ging. Da vorn, nach der Kreuzung, dieser kleine Laden, links von der Bäckerei, ich deutete mit dem Finger darauf.

Ich hatte keine Zweifel, hier brach ich damals ein. Der Laden hatte noch zu, wir gingen ein paar Schritte auf und ab. Fast gleichzeitig machten wir die Stelle ausfindig, von der aus gefilmt worden sein musste, damals, als ich vor Hunger nicht mehr konnte. Ein Stahlrohr markierte die Stelle auf dem steilen Dach, an dem Rohrstumpf war eine kleine Platte befestigt. Daran musste die Kamera befestigt gewesen sein. Eine Art Überwachungskamera, hatte sie bald ihre Funktion verloren und dürfte, so Michalis’ Einschätzung, längst zum Elektroschrott geworfen worden sein. Er stieg ein und wartete auf mich. Ich wechselte ein paar Worte mit dem neuen Besitzer, einem Albaner in meinem Alter. Er konnte mir nicht weiterhelfen.

Perikles Monioudis
*1966 in Glarus, lebt in Zürich. Er veröffentlichte u. a. die Romane Land (Ammann Verlag, Zürich 2007), Palladium (Berlin Verlag, 2000) und Eis (Berlin Verlag, 1997). Im Herbstsemester 2011/12 wird Monioudis als erster Observer-in-Residence ausgewählte Ver­anstaltungen der Zürcher Hochschule der Künste beobachten. www.monioudis.ch.
(Stand: 2012)
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