PIERRINE SAINI / THOMAS SCHÄRER

DIE HOHE SCHULE DER REDUKTION — YVES YERSINS FILME IM AUFTRAG DER SGV

CH-FENSTER

J’ai fait tous ces films par paresse, parce que j’aurais été doué pour faire des choses plus ambitieuses. Je ne sais pas pourquoi, j’ai beaucoup de peine à expliquer que la modestie de ce travail-là m’a beaucoup plu, m’a beaucoup apporté. Je n’aime pas le show-biz, je n’aime pas le monde du cinéma et c’était une manière d’y échapper. (...) C’est clair que le moment-clé, c’est les Heimposamenter qui m’ont permis d’accomplir un bout de mon chemin dans le domaine du documentaire, avec pas mal de répercussions aussi sur la fiction.

Yves Yersin

Wer sich im Schweizer Film und in seiner Geschichte umschaut, trifft schnell und unweigerlich auf Grenzen und Beschränkungen. Der kleine Markt, späte und zögerliche staatliche Förderung sorgen seit jeher dafür, dass Filmschaffende hierzulande nicht übermütig werden. Doch nicht erst seit die dänischen «Dogmaten» sich lustvoll und erfolgreich selbst auferlegten Beschränkungen unterzogen, ist offensichtlich, dass Grenzen auch stimulieren können, dass in eng umsteckten Revieren ebenso grosse Abenteuer zu erleben sind wie im erträumten Land of Plenty. Aus den vielen, die mit Einschränkungen kreativ umgehen, sei Yves Yersin herausgegriffen. Er scheint deshalb ein aufschlussreiches Beispiel, weil er früh in seiner cineastischen Laufbahn Beachtung fand und seine Schule der Beschränkung vielleicht «freiwilliger» oder zumindest bewusster als andere wählte.

1965 war Yersin jung und ambitioniert. Sein Erstling Le panier à viande stiess auf Zuspruch. Auch sein Porträt Angèle, ein Teil des Episodenfilms Quatre d’entre elles, hatte Erfolg, wurde sogar 1968 in Cannes gezeigt. Trotzdem begab sich Yersin von Beginn seiner Laufbahn weg immer wieder für Monate in eine Art cineastisches Exil, in dem er thematisch wie finanziell eingeschränkt hart arbeitete und viel lernte. Diese Schaffensperiode beendete er mit einem Meilenstein des Schweizer Dokumentarfilms: Die letzten Heimposamenter entstand 1974, wie viele seiner Filme zuvor, aus einem Auftrag der Schweizer Gesellschaft für Volkskunde (SGV) und überschritt mehrere Grenzen – formal, inhaltlich und finanziell. Die Inspiration und die Kraft zu diesem Werk fand er in den scheinbar trivialen Filmen für die SGV, die der Autodidakt im Nachhinein als seine Filmschule bezeichnete. Anhand von vier Filmen soll im Folgenden Yersins Schule der Beschränkung nachgezeichnet werden. Yersin, geboren am 4. Oktober 1942 als Sohn eines Kunstmalers im Waadtländer Winzerdorf Bougy-Villars, interessierte sich früh für Fotografie. Nach einer Ausbildung an der Fotoschule in Vevey (1959–1961) arbeitete er zunächst als Werbefotograf und Kameraassistent. Doch bald drängte es ihn vom statischen Bild zum Film. So drehte er 1965 zusammen mit Jacqueline Veuve den erwähnten Erstling Le panier à viande. Der poetische Dokumentarfilm über einen Schlachttag auf einem Waadtländer Bauernhof ist neben der akkuraten Schilderung einer bäuerlichen «Metzgete» eine Hommage an das bäuerliche Leben selbst. Aber nicht anklingende Nostalgie zelebriert der Kommentar von Charles Chessex, vielmehr stellt er diese zugunsten genauer Beobachtungen zurück. Yersin montierte den Film bei einem Cousin in Zürich, der ihm einen Montagetisch zur Verfügung stellte. Eigentlich hatten sie grössere Pläne:

«On avait un grand projet, sur les arts et traditions populaires en Suisse, mais comme on n’avait pas du tout d’argent, on s’est dit: Bon, il faut être plus modeste.»

Jacqueline Veuve

Lehrjahre: Freiheiten und Einschränkungen

Si on dit que la contrainte, c’est muet, alors allons-y, c’est vachement intéressant! Mais ça change beaucoup de choses sur la manière de filmer. Tu dois transmettre des tas d’informations, on en a parlé tout à l’heure, qu’on transmettrait par le son ou par la voix off du type qui travaille. Là, on n’avait pas ce moyen, alors il fallait soigner l’image [...]. Parce qu’une grande partie de l’information donnée par le son devait passer sur un autre support, l’image, la lumière, le temps, le rythme.

Yves Yersin

Gezwungen zu verdienen und willig zu lernen, nahm Yersin Mitte 1965 eine Assistenz beim Liechtensteiner Fotografen Walter Wachter an. Wachter realisierte gerade seinen ersten grossen Filmauftrag – einen Dokumentarfilm über Liechtenstein. Dabei erwies sich Yersin schnell als unentbehrlich: Er führte die zweite Kamera, entwarf Diagramme und animierte erklärende Grafik – alles Neuland für beide. Im Anschluss filmte Wachter zusammen mit Yersin einen Schmied in Sevelen im Rheintal, der für den Stummfilm ein letztes Mal seine Esse anheizte (Hufeisen und Hufbeschlag, Walter Wachter/Yves Yersin, CH 1966). Nach genauem Beobachten eines Arbeitsganges hätten sie jeweils wieder eine Sequenz aufgenommen, erinnert sich Yersin. Er sei vor allem für das Aufstellen der Lampen in zudienender Position tätig gewesen. Anders hat dies Wachter in Erinnerung. Er habe schnell gesehen, dass Yersin viel begabter sei als er. So montierte Yersin etwa den von der Schweizer Gesellschaft für Volkskunde (SGV) in Auftrag gegebenen Film weitgehend alleine. Der Leiter der Abteilung Film dieser Gesellschaft, Paul Hugger, hatte 1962 die Film- und Publikationsreihe «Sterbendes Handwerk» initiiert und besuchte die beiden Filmer an einem der zwei Drehtage:

«Der junge Bursche Yves Yersin (war) Assistent. Der war sehr mobil, ist überall raufgeklettert, um die Kamera einzustellen, und dann hat er mir erklärt, dass er auch gerne mal so etwas machen würde.»

Da die Arbeitssituation für junge Cineasten in der Schweiz prekär war, stellte sich Yersin gerne in den Dienst der SGV – auch wenn sie ihn kaum bezahlen konnte. Immerhin kaufte die SGV Yersins und Veuves eben erst fertiggestellten Le panier à viande für 2200 Franken. Hugger liess sich den Film im Herbst 1965 zeigen und betraute Yves Yersin darauf mit einem eigenen Auftrag. Bis 1973 sollten es zwölf kurze bis mittellange Stummfilme werden, die Yersin für die SBV drehte. Sie waren denkbar einfach: Alle zeigen Handwerker bei ihrer Arbeit, im Wald, auf der Alp, meistens in ihren Werkstätten. Die jedes Mal von Paul Hugger in Kärrnerarbeit erbettelten Budgets erlaubten bis 1971 keine Tonaufnahmen, sodass die Bilder alles erzählen mussten. Yersin wuchs an dieser Beschränkung. Das Dokumentieren von scheinbar einfachen Handarbeiten und Prozessen, die ohne zusätzliche Erklärungen verständlich sein sollten, reizten Yersins cineastischen Ehrgeiz. Die Entscheide, wie mit dem Raum und der Zeit umzugehen sei – die Découpage von Abläufen und Handlungen – stellen sich bei diesen kurzen Formen ebenso wie in komplexeren Filmen. Diese Kernkompetenz des cineastischen Handwerks perfektionierte Yersin von Film zu Film – gleich einem begabten Pianisten, der sich nicht zu schade ist, seine Technik im Spielen von Etüden weiter zu bringen. Über Monate feilte er an Filmen, für die er knapp das Rohmaterial bezahlt erhielt. Sein Geld musste er sich anderswo verdienen, beispielsweise als frei arbeitender Cutter für das Westschweizer Fernsehen oder 1969 und 1970 mit Werbefilmen für die Basler Agentur GPK.

Wer diese Filme heute sieht, kann sich über ihre Einfachheit und ihre Stummheit wundern. Wer ein Flair für verschwindende Welten hat, kann in Schauplätze und Gesichter versinken, eine archaische Magie wahrnehmen, obwohl anfänglich weder Filmschaffende noch die Produzentin SGV an ein Publikum dachten. Denn Hugger ging es in erster Linie um das Festhalten von verschwindenden Handwerkstechniken für die Nachwelt. 1972 formulierte er es so: «Nur das Filmdokument ist imstande, eine klare Anschauung eines Arbeitsganges für Zeiten festzuhalten, und auch Vorgänge zu zeigen, bei denen das beschreibende Wort versagt.»1 Hugger bezeichnete diese Vorhaben verschiedentlich als «Notfilmung», wahrscheinlich um die Dringlichkeit gegenüber Geldgebern zu betonen, wohl auch, um klar zu machen, dass mit diesen Filmen keinerlei Kunstanspruch verbunden sei.2 Er verwahrte sich so präventiv vor hohen ästhetischen und wissenschaftlichen Ansprüchen.

Sammeln und Bewahren

Hugger voulait qu’on fasse des films complètement concentrés sur le travail, sur les gestes. Il s’agissait de laisser une trace sur comment on faisait pour faire un objet. Et donc, ça limitait déjà énormément la focalisation (...). Parce qu’il faut faire des ellipses pour garder que le temps qui nous intéresse. Et donc, il faut avoir des cadrages qui se renouvellent suffisamment pour pouvoir faire des ellipses propres. Ces films m’ont beaucoup appris sur la gestion de l’espace et du temps avec une caméra.

Yves Yersin

Schon in seinem ersten eigenen Film für die Gesellschaft Les Cloches de vaches (1966), den Yersin nach Abschluss des gemeinsamen Filmes mit Wachter vom 15. bis 18. November 1966 drehte, zeigten sich seine Ambitionen. Jeweils zwei volle Tage verwendete Yersin für das Ausleuchten der dunklen Werkstatt und für Proben mit seinem Kameramann Erwin Huppert und dem Kameraassistenten Pierre Delessert, die er auf eigene Rechnung engagierte. Der Film thematisiert das Giessen von Kuhglocken, eine anspruchsvolle und teilweise unsichtbare Arbeit. Aus Sand werden Formschalen hergestellt, Luftlöcher gestossen, das glühende Eisen eingefüllt. Da der Giessvorgang Yersin visuell zu wenig aufschlussreich erschien, stellte er den Vorgang nach den Dreharbeiten mit einer animierten Grafik dar. Während Wochen experimentierte er mit Stopptrick-Kamera, bis die Abläufe geschmeidig und verständlich wurden. Sechs Monate arbeitete er und erreichte nach einer Auseinandersetzung mit seinem Auftraggeber, dass er schliesslich mehr als die vereinbarten 1500 Franken für den Film erhielt: 3500 Franken.3

Dieses furchtlose Betreten von Neuland, das autodidaktische Ausprobieren war nicht nur für Yersin bezeichnend, sondern für fast alle jungen Autoren und die wenigen Autorinnen des «Neuen» Schweizer Films und insbesondere für jene, welche Paul Hugger ab Ende der Sechzigerjahre für die SGV gewinnen konnte, wie beispielsweise Claude Champion, das Autorenkollektiv Groupe de Tannen, Sebastian Schroeder oder Hans-Ulrich Schlumpf. Obwohl die Budgets für die Kurzfilme in der Frühphase mehr als bescheiden waren, gelang es Yersin immer wieder, Equipen für seine Filme zusammenzustellen. In der Regel waren dies junge debütierende Filmschaffende. Im Fall des Filmes über eine alte Gerberei im waadtländischen Dorf La Sarraz (La Tannerie de la Sarraz, 1967) konnte er Renato Berta und Erwin Huppert für die Kamera, Matthias Huppert als Assistenz und Madeleine Fonjallaz für das Script verpflichten. Madeleine Fonjallaz verfasste später die Begleitbroschüre zum Film und lieferte darin Informationen, welche der Stummfilm nicht vermitteln konnte. Renato Berta war eben von der Filmschule in Rom zurückgekehrt und fotografierte seinen zweiten Film. Von Berta beleuchtet wirkt die Gerberei wie die Kulisse eines expressionistischen Stummfilms. Er beobachtet die Gerber oft distanziert in Halbtotalen, sodass sie wie in einem Theater auftreten. Dadurch scheint ihre Arbeit wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit. La Tannerie de La Sarraz will nichts anderes sein als eine simple Dokumentation eines Arbeitsvorgangs und weist doch in der Lichtsetzung und in der Magie des Schauplatzes Qualitäten eines Kunstwerks auf. Das wiederholte Umschichten der in verschiedenen Bädern befindlichen Häute und deren Transport auf kleinen Loren zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Arbeit. Zugleich stellte der Film – wie bei allen Handwerkerporträts – die Macher vor Fragen, die bei allen Dreharbeiten gelöst sein wollen: Was ist wie zu zeigen, was kann ausgespart bleiben? Wie kann ein Arbeitsrhythmus adäquat eingefangen werden? Diese Entscheide sind nur durch genaues Beobachten – vorerst ohne Kamera – zu fällen. Auch dann muss oft genug in den natürlichen Ablauf der Arbeit eingegriffen werden, sei es, weil eine Handbewegung zu schnell oder ausserhalb des Bildausschnittes stattfand oder weil die Kamera eine neue Position einnimmt und Licht gesetzt werden muss.

Die Ausweitung eines Auftrags

Avant qu’une chose me plaise, je continue contre toutes les règles [...] de survie élémentaire. Mais je ne peux pas laisser un problème non résolu, et donc j’ai une vie très dure parce que je dois payer socialement très cher cette exigence-là.

Yves Yersin

Paul Hugger führte 1971 im Kantonsmuseum Baselland zwei Handwerks-Filme vor. Im Gespräch mit dem Konservator zeigte sich, dass in Baselland das jahrhundertealte Heimgewerbe des Seidenbandwebens, die Heimposamenterei, am Verschwinden war. Doch von Anfang an war klar, dass die Gesellschaft das Projekt nicht alleine finanzieren konnte. Gemeinsam suchte und fand man politische Unterstützung für das filmische Festhalten der letzten Seidenbandwebenden. Der Kanton Baselland sprach hierfür aus dem Lotteriefonds 50 000 Franken. Für den Film wurde eigens eine Kommission (Jürg Ewald, Paul Hugger, Paul Suter, Eduard Strübin) einberufen, die Jürg Ewald, Kurator des historischen Museums Liestal, präsidierte.

Paul Hugger schlug Yves Yersin das Thema vor, dem sich ursprünglich Claude Champion annehmen sollte. Champion hatte 1971 kurz zuvor mit der Dokumentation der alten Mühle von Vaulion (VD) aus eigener Initiative und auf eigene Rechnung den Schritt zum Tonfilm gewagt und mit dem sensiblen Porträt des Müllers und seiner Mühle eine neue Dimension in das Filmschaffen der SGV gebracht. Gefeiert von Kritikern wie Freddy Buache wurde Champions Le Moulin Develey sis à la Quielle auch im Ausland geschätzt. Nicht zuletzt wegen Sprachproblemen – Champion sprach und verstand kein Deutsch – erhielt Yves Yersin den Auftrag. 1971 war er eben der Produktionsgruppe Nemo Film (Markus Imhoof, Kurt Gloor, Fredi Murer, Alexander J. Seiler, Claude Champion) beigetreten, die das Filmprojekt produzierte. Dem Beispiel von Cham­pion folgend plante Yersin einen Tonfilm – eine unabdingbare Voraussetzung für einen Film, der von Ansichten und Erinnerungen der Porträtierten leben sollte.

Erneut engagierte Yersin Copains, unter anderen die Kameramänner Eduard Winiger und Otmar Schmid, den Tonmann Roger Tanner, die Skriptfrau Ruth Freiburghaus und den Beleuchter André Pinkus, der wie Winiger auch seine Einsatzsphäre schnell ausweitete. Pinkus führte Interviews und Winiger engagierte sich stark in der vorbereitenden Recherche. Dabei wurde ihm bewusst, «dass wir beim Heimposamenten nicht von einem Handwerker, sondern [...] von einem Angestellten oder Arbeiter sprechen. Damals in den 1968er- und Post-68er-Jahren war der Begriff der entfremdeten Arbeit sehr wichtig». Winiger und Yersin realisierten, dass das Thema aus dem Rahmen der bisherigen Handwerksfilme fiel und ein anderes, längeres filmisches Format brauchten, dessen Finanzierung jedoch ungelöst war.

Yersin und seine Mitarbeiter sprachen mit allen damals noch aktiven Heimposamentern in der Basler Landschaft, an die 60, sowie einigen Fabri­kanten und «Visiteuren». Auf dieser Basis entwarf Yersin eine Liste von The­men und drehte dann mit jenen Posamentern, «die am willigsten und leichtesten sprachen und ihre Ideen am präzisesten formulieren konnten».4 Akribisch vorbereitet, drehte die Equipe in 17 Tagen Interviews in Schwarzweiss, Arbeitsvorgänge und Atmosphärisches in Farbe. Dies war weniger eine formale denn eine finanzielle Entscheidung: Farbmaterial war damals noch wesentlich teurer und ausserdem wesentlich schlechter haltbar.

Yersin löste sich von der Idee, mit einer Kamera ungeschminkte Realität einfangen zu können: «Pour mettre une tranche de la vie dans la caméra, il faut la découper, la cuire au four, la garnir pour qu’elle ressemble à la réalité.» Sensibilisiert für Fragen der Hierarchie und sich der Wirkung einer Kamera sehr bewusst, näherte er sich seinen Protagonisten auf unterschiedliche Weise. Fabrikanten und leitenden Angestellten stellte er vor Drehbeginn schriftliche Fragen. Während den Dreharbeiten entschieden sich die meisten, ihre vorbereiteten Texte abzulesen. Die Heimposamenter konfrontierte er dagegen erst während den Dreharbeiten mit Fragen. Mit den in der Regel medienfernen Heimarbeitenden probte Yersin Antworten, versuchte ihnen so allfällige Ängste vor der Kamera zu nehmen. Zugleich lenkte er sie durch Nachhaken und Hinweise auf Dinge, die er in den ersten Gespräch erfahren hatte, sodass seine Protagonisten das, was sie sagen wollten, so klar und präzise wie möglich ausdrücken konnten:

«On faisait de vraies répétitions de théâtre, de cinéma. Ils étaient devant la caméra, ils essayaient de dire un truc. On n’avait pas la vidéo, c’était en film, mais on avait l’enregistrement. Et je leur disais: écoutez maintenant comment vous avez dit cette phrase! Critiquez votre phrase telle qu’elle a été dite!»

André Pinkus, der einen Teil der Gespräche führte, erklärt diese gesonderte Behandlung:

«Vielleicht weiss sie (die Heimposamenterin) nicht genau, was man mit Film machen kann. Er (der Fabrikant) weiss es. Er hatte Angst, dass wir ihn in die Pfanne hauten, dass er vor der Kamera nicht mehr souverän funktionieren konnte.»

Dieses Vorgehen, ein eigentliches «anti-cinéma direct» trug Yersin vereinzelt Kritik von Ethnologen ein. Einige Zeit nach der Fertigstellung erläuterte Yersin die Machart des Films an einem Seminar der Schweizer Ethnologischen Gesellschaft in Neuchâtel und stiess mit seiner offensiven Haltung dem «Proben» und «Repetieren» mit seinen Darstellern gegenüber auf Verblüffung. Doch diese habe sich gelegt, als er den Film gezeigt habe.5

Der Reichtum an sozialen Beziehungen und die historische Dimension des Themas veranlassten Yersin zunächst dazu, im Film nach einem einführenden technischen Teil auf soziale Aspekte zu fokussieren. Bei der Montage sah er jedoch sehr schnell, dass diese beiden Teile inkompatibel waren. Auf eigenes finanzielles Risiko beschloss er deshalb, zwei Filme, einen kurzen für den Auftraggeber SGV (Heimposamenterei, CH 1973) und einen langen, mit einem erweiterten Augenmerk auf historische, soziale und ökonomische Zusammenhänge, zu montieren. Besonders der längere Die letzten Heimposamenter (Yves Yersin, Eduard Winiger, CH 1974) ergriff auf transparente Art Partei für die Heimposamenter, welche den Basler Auftraggebern, den «Herren» mit ihrer schlecht bezahlten Arbeit zu Reichtum verholfen hatten. Einmal mehr machte Yersin einen Auftrag zu seiner persönlichen Herzensangelegenheit und versuchte die porträtierten Personen in ihrer gesellschaftlichen Verortung aufzuzeigen und ihnen dabei ihre eigene Stimme zu geben.

Diese sozialkritische Haltung blieb bei den Auftraggebern, der SGV und dem Kanton Baselland, nicht unbemerkt. An die «Teilnehmer der Posamenterfilm-Sitzung» schrieb der Kommissionspräsident Jürg Ewald:

«Bei aller Wahrung der künstlerischen Freiheit darf doch keine Verzerrung der historischen Proportionen eintreten, so dass man der Kommission den Vorwurf des historischen Dilettantismus machen könnte. [...] Der Feststellung von Eduard Winiger, dass die Wohlhabenheit der Arbeitgeber nur auf «ausbeuterischen Arbeits(zeit)einsatz zurückzuführen sei, muss entgegengehalten werden, dass [...] die vom heutigen Wohlfahrtsstaat aus gesehen ausbeuterische und unmenschliche Tag- und Nachtarbeitszeit damals eben das Übliche war.»6

Die Debatte zwischen den eher konservativ ausgerichteten Kommissionsmitgliedern und den – wie praktisch alle Filmschaffenden des «Jungen Schweizer Films» – sozialkritisch eingestellten Filmschaffenden blieb virulent. Als Yersin 1973 den eigentlichen Auftrag Heimposamenterei, der vornehmlich auf die Technik der Bandweberei fokussierte, ablieferte, zeigte er der Kommission auch Ausschnitte aus dem damals noch unfertigen längeren Film, dessen strukturierender roter Faden der Tagesablauf des über 80-jährigen Heimposamenters Ernst Walliser bildet. Der Volkskundler Eduard Strübin gab darauf seinen Austritt aus der Kommission:

«Nach dem, was wir kürzlich von dem zweiten Streifen gesehen haben, und nach den Aussagen über das noch zu Erwartende wird das Sozialkritische bedeutend stärker betont, als ich das für richtig halte und für meine Person verantworten kann [...]. Die blitzartig vom Bändelherr auf Walliser überspringende Darstellung hat bei Euch vollkommen eingeschlagen und wird es erst recht naiven Zuschauern tun.»7

Strübin sah die rhetorische Kraft des Diskurses klar, den insbesondere Die letzten Heimposamenter durch die Montage entwickelte. Yersin hatte sich hierfür acht Monate Zeit genommen und teilweise mit dem jungen Cineasten und Jour­nalisten Frédéric Gonseth zusammengearbeitet. Ohne einen einzigen Kom­mentar gelingt es ihm, die Dialektik der Beziehungen zwischen den Fabrikanten, den «Herren», ihren Kurieren, den «Boten», und den isolierten Heimposamentern aufzuzeigen. Yersin konstruierte aus dem Alltag des Webers Walliser und den thematisch strukturierten Sequenzen ein dichtes Netz, das inhaltlich wie folgt aufgebaut ist: Ein kurzer Abriss zur Geschichte der Posamenterei, das tägliche Leben der Heimposamenter, die Technik des Webens, Besitzverhältnisse, die Rolle der «Visiteure» (Kuriere der Fabriken), Familienverhältnisse und Wohnbedingungen, Essen, (un)bezahlte Arbeit, Gesundheit, Elektrifizierung der Webstühle, Krisenjahre, Freizeit und die aktuelle Lage der Bandwebeindustrie. Zu jeder Thematik äussern sich Fabrikherren, Heimposamenter, Visiteure sowie zwei Ärzte, ein Pfarrer und ein Gewerkschafter. Dabei insistierte Yersin auf die eigene Anschauung und das direkt Erlebte der Interviewten. Beispielsweise liess er einen Versuch eines kooperativen Zusammenschlusses von Heimposamentern in den Zwanzigerjahren weg, weil daran keiner der Protagonisten direkt beteiligt war.8

Zu keinem Zeitpunkt verengt oder instrumentalisiert Yersin sein Thema in Richtung einer ideologischen Rhetorik. Dies mag daran liegen, dass er zu Beginn der Montage für sich eine Regel aufgestellt hatte, die er einhielt:

«Je laisserais dans le film une part très importante aux discours qui contrediraient celui que je voulais tenir.»9

Das dialektische Vorgehen, jeder Aussage etwas entgegenzusetzen, Widersprüche zu orten und aufzuzeigen, wandte Yersin also auch gegen seine eigenen Aussagen an. Dies führte zu einem facettenreichen, mosaikartigen Gesamtbild mit einer klaren Grundhaltung, dem aber nur schwer Einseitigkeit vorzuwerfen war. Der behutsame, genaue Blick auf die Tagesroutine der Posamenter in langen, atmosphärisch dichten Einstellungen, die sich abwechselnden anschaulichen Perspektiven von Herren, Boten und Heimarbeitern verweben sich zu einem subtilen, vielstimmigen Gewebe. Diese Form der dialektischen Montage und der Beharrlichkeit des Blickes waren in der damaligen Schweizer Dokumentarfilmlandschaft weitgehend neu, sie wurden in der Folge zu einem Qualitätsmerkmal vieler hervorragender Dokumentaristen hierzulande.

Der Ton der Auftraggeber wurde versöhnlich, als Die letzten Heimposamenter an den Solothurner Filmtagen 1974 Beachtung und gute Kritiken fand, an das Filmfestival nach Montreal und zum Forum des jungen Films nach Berlin eingeladen wurde. Nach Abschluss des Filmes finanzierte der Kanton Baselland sogar die nicht bestellte Langversion.10

Yves Yersin sah sich am vorläufigen Endpunkt eines Lernprozesses, den er insbesondere bei seinen Aufträgen für die SGV – aber natürlich auch bei den in dieser Zeit entstandenen eigenen Filmen Valvieja (1967), Les Neinsager/Swissmade (1968) – durchlaufen hatte. Folglich drehte er danach auch keinen Film mehr für die SGV. Sein nächstes Ziel hiess Fiktion. Mehr als sieben Jahre arbeitete er an seinem ersten (und bisher einzigen) langen Spielfilm und stiess dabei an neue Grenzen. 1979 beendete er Les Petites Fugues und setzte mit dem bis dahin reifsten Spielfilm der neuen Generation von Filmschaffenden in der Schweiz einen neuen Meilenstein. Der Film erzählt die Emanzipation des Knechtes Pipe, der sein Leben lang klag- und anspruchslos auf einem Hof arbeitet und mit seiner ersten Altersrente ein Mofa kauft und sich damit eine neue Welt erschliesst. Dieser souveräne Schritt in die Fiktion wäre nach Yersins Einschätzung ohne die vielen Lektionen, die seine Dokumentationen für die SGV waren, nicht möglich gewesen. Perfektionistisch war er schon vorher:

«C’est ce que j’ai appris dans l’utilité formelle du cinéma: gérer l’espace, gérer le temps et gérer le rapport avec un sujet vivant que je vais filmer. Décrire le temps, décrire l’espace, décrire l’homme qui est devant moi.»

Les petites fugues war zugleich auch eine Befreiung. Denn erstmals seit seinem Kurzspielfilm Les Neinsager mussten seine Protagonisten auf seine Wünsche eingehen und nicht umgekehrt. Bis dahin war es Yersin in allen seinen Dokumentationen ein zentrales Anliegen gewesen, den porträtierten Handwerkern und ihrem Tun gerecht zu werden. Die neu gewonnene kreative Freiheit im Umgang mit der Welt vor seiner Kamera zeigte sich nicht nur in der Schauspielführung. Vollgesogen mit Wissen über das bäuerliche und handwerkliche Leben, das sich in Les petits Fugues in jedem Bild manifestiert und einen grossen Teil des Reizes des Filmes ausmacht, dachte Yersin diese Welt weiter. Er erlaubte sich beispielsweise, einen spektakulären Mechanismus zu erfinden, mit dem der Knecht Pipe und sein Kollege Weizensäcke von der obersten Ecke der Scheune auf den zu beladenden Wagen wuchten. Kein einziger Bauer im Publikum hätte sich daran gestört, bemerkt Yersin verschmitzt und wendet sich wieder seinem aktuellen Werk zu, das er bereits über zwei Jahre kürzt. Es müsse möglich sein, das, was er jetzt in 180 Minuten sage, in 90 Minuten unterzubringen. Diese Beschränkung erlegt er sich freiwillig auf – in der berechtigten Hoffnung auf ein grösseres Publikum.

Paul Hugger, «Das Forschungsunternehmen ‹Sterbendes Handwerk› der Abteilung Film der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde», 3.2.1970, Typoskript, SGV-Archiv, Ae, 60 III.1.

Brief von Yersin an Hugger, 22.11.1965, SGV-Archiv.

Brief von Yersin an Hugger vom 24.9.1966, SGV-Archiv.

Yves Yersin, interviewt von Bruno Jaeggi, Informationsblatt, «internationales forum des jungen films», Juni 1974, S. 2.

Feuille d’Avis de Neuchâtel, 2.10.1979.

Brief von Jürg Ewald an die «Teilnehmer der Posamenterfilm-Sitzung vom 8. März 1972», 9.3.1972, SGV-Archiv.

Brief von Erwin Strübin an Jürg Ewald, 30.5.1973, SGV-Archiv.

Undatiertes Interview mit Yves Yersin von Guy Milliard, Typoskript SGV-Archiv.

Interview Milliard, S. 11.

Pressemitteilung, «Datenblatt zur Entstehung des Filmes zu Handen der Presse», Typoskript, Februar 1974, SGV-Archiv.

Yves Yersins Filme für die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde

Le panier à viande / Jacqueline Veuve, Yves Yersin – 1965 (Magnetton 23 min.). Camera Yves Yersin und Igal Nidam. Milos-Films SA, Jacqueline Veuve et Yves Yersin [prod.]. Ankauf durch die SGV

Von Hufeisen und Hufbeschlag / Walter Wachter/Yves Yersin – 1966 (stumm 13 Min.)

Les Cloches de vaches / Yves Yersin – 1966 (stumm 27 Min.)

Chaînes et clous / Yves Yersin – 1967 (stumm 16 Min.)

Le licou / Yves Yersin – 1967 (stumm 15 Min.)

La Tannerie de la Sarraz / Yves Yersin – 1967 (stumm 31 Min.)

L’huilier / Yves Yersin –1969 (stumm 12 Min.)

Une fromagerie du Jura / Yves Yersin – 1970 (stumm 39 Min.)

Les sangles à Vacherin / Yves Yersin – 1970 (stumm 18 min)

Les boîtes à Vacherin / Yves Yersin – 1970 (stumm 25 Min.)

— Der Strohhut: vom Werktagshut zum Festtagshut / Yves Yersin – 1970 (stumm 78 Min.)

Ein Giltsteinofen entsteht / Yves Yersin – 1970 (stumm 89 Min.)

Der Störschuhmacher / Yves Yersin – 1970 (stumm 100 Min.)

Heimposamenterei / Yves Yersin – 1973 (Farbe, S / W, Magnetton 40 Min.). Nemo Film AG i. A. des Kanton BL und SGV [prod.]

Die letzten Heimposamenter / Yves Yersin, Eduard Winiger – 1974 (Farbe, S/W, Magnetton 105 Min.). Nemo Film AG i. A. des Kantons BL (ohne SGV)

Audiovisuell aufgezeichnete Interviews

Jacqueline Veuve 25.11.2002, Yves Yersin 18.11.2008/21.9.2010, Paul Hugger 24.5.2011, Walter Wachter 17.6.2011, Renato Berta 29.10.2009, Eduard Winiger 3.12.2009, André Pinkus 30.1.2008.

Pierrine Saini
Arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel.
(Stand: 2012)
Thomas Schärer
geb. 1968, studierte Geschichte und Film-/Theaterwissenschaft in Zürich und Berlin, seit 1991 freie (film)journalistische Arbeiten, ab 1992 Programmgestaltung an der Filmstelle der Zürcher Hochschulen.
(Stand: 2019)
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