JONAS ULRICH

ABRIR PUERTAS Y VENTANAS (MILAGROS MUMENTALER)

SELECTION CINEMA

Es ist sicherlich eine Kunst, die einzigartige Verbindung, die zwischen Geschwistern besteht, glaubwürdig auf die Leinwand zu bringen. Umso mehr Respekt verdient Milagros Mumentaler, ihr Spielfilmdebüt ausschliesslich vom Beziehungsgeflecht dreier Schwestern handeln zu lassen. Die schweizerisch-argentinische Regisseurin erzählt in Abrir puertas y ventanas von Marina, Sofia und Violeta, drei Teenager-Mädchen, die mutterseelenallein in einem Haus in Buenos Aires leben.

Es ist beeindruckend, mit welcher Einfühlsamkeit und Liebe zum Detail Mumentaler das Zusammenleben der drei schildert. Statt der Handlung eine allmächtige Dramaturgie aufzudrücken und sie mit künstlich verstärkten Konflikten anzureichern, dokumentiert die Kamera hundert Minuten lang das Leben der Mädchen und lässt zu, dass sich die Geschichte geradezu von selbst entfaltet. Dabei zeichnet sich der episodisch anmutende Film durch eine stark elliptische Erzählweise aus. Die Zwischenräume, die dadurch entstehen, müssen vom Zuschauer selbst gefüllt werden, was ihm eine gewisse Aktivität abverlangt: Oft werden vom Film zentrale Informationen bewusst zurückgehalten und – wenn überhaupt – nur durch Andeutungen preisgegeben. So erfahren wir erst nach einem Drittel des Filmes durch ein nebensächliches Telefongespräch, dass die Mädchen im Haus der kürzlich verstorbenen Grossmutter leben. Was mit den Eltern geschehen ist, können wir nur erahnen. Diese Informationsknappheit und die zurückhaltende Erzählweise machen es dem Zuschauer zu Beginn nicht unbedingt leicht, sich in die Geschichte hineinzufinden.

Auch auf formaler Ebene wird das Prinzip der Ausschnitthaftigkeit betont, indem dem Zuschauer jeweils nur der Teil eines Raumes gezeigt wird, in dem sich die Figuren befinden. Dabei wird auf establishing shots und andere Orientierungshilfen weitgehend verzichtet, was den Eindruck der Grösse des verwinkelten Hauses verstärkt. Langsame Fahrten und Schwenks betonen ebenfalls die Weite und Einsamkeit des Gebäudes. Durch den Entschluss, den gesamten Film in und um das Anwesen herum spielen zu lassen, hat Mumentaler das Haus (geradezu) zu einer vierten Hauptperson gemacht: Es ist Dreh- und Angelpunkt der Handlung, nicht zuletzt da es für die drei Mädchen die Erinnerung an eine frühere Zeit, eine Zeit der Sicherheit und Geborgenheit, verkörpert. Doch diese Zeit ist vorbei, heute stehen die Türen und Fenster offen und das Haus stellt die letzte Instanz familiären Zusammenhalts dar. Diese und andere Feinheiten machen Abrir puertas y ventanas zu einem lohnenden Kinoerlebnis, das verdientermassen den Hauptpreis in Locarno abgeräumt hat.

Jonas Ulrich
*1990, seit 2009 Studium der Geschichte, Filmwissenschaft und Rechtswissenschaft an der Universität Zürich. Daneben freischaffender Filmkritiker und tätig in der Produktion von Musikvideos und Kurzfilmen. www.atopic.ch
(Stand: 2016)
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