SASCHA LARA BLEULER

«FRAG MICH NICHTS ÜBER DEN KRIEG!» — EIN MANIPULATIVES GESPRÄCH MIT ARI FOLMAN

ESSAY

Nachdem ich drei Monate lang versucht habe, einen Interviewtermin mit Ari Folman zu kriegen und ich ihn immer wieder als trickgezeichnete Figur in Waltz with Bashir gesehen habe, kommt es mir fast unwirklich vor, als ich ihn eines Tages endlich erreiche. Er ist gerade mit seinem Sohn beim Coiffeur, seine Stimme klingt rauchig zerkratzt und äusserst ungeduldig. Den versprochenen Termin verschiebt Folman in der Folge noch fünf Mal, und als ich Wochen später endlich in Jaffa in seinem grossräumigen Studio bin und der Regisseur in Fleisch und Blut vor mir steht, bin ich richtig nervös. Folman sieht mit seiner riesigen Goldkette auf der haarigen Brust, der zerzausten Hippie-Frisur und den kühlen blauen Augen aus wie ein gut gealterter Rockstar – und genauso benimmt er sich auch.

Tel Aviv, Juli 2012

BLEULER: Herr Folman, wie schön, dass wir uns nach all diesen Telefonaten endlich kennenlernen!

FOLMAN: Schalom, Sascha, nenn mich Ari. Frag mich bloss nichts über den Krieg, ich bitte dich! Und nichts zu Waltz with Bashir!

(Nachdem ich ihm in Mails und am Telefon erklärt hatte, dass wir genau über diesen Film sprechen werden, bin ich für einen Moment sprachlos.)

Ich hatte eine totale Überdosis, ich musste innerhalb von neun Monaten 800 Interviews geben und immer dieselben Fragen beantworten. Ich habe einfach genug davon. Ich war ausgelaugt nach dieser Zeit. Ich habe vor zwei Jahren aufgehört, über diesen Film zu sprechen, und jetzt geht es mir gut, ich bin geheilt!

Okay. Ich habe im Zusammenhang mit dem Thema dieser Publikation natürlich Fragen zu Waltz with Bashir vorbereitet, aber wir können auch versuchen, etwas losgelöst von diesem Film über «Manipulation im Kino» zu sprechen...

Ja, versuchen wir das!

Das dokumentarische Interviewmaterial auf der Tonspur von Waltz with Bashir vermittelt dem Zuschauer den Eindruck, dass hier «wahre» Geschichten erzählt werden. Dokumentarfilm als Genre wird immer noch vorwiegend als authentisch und glaubwürdig wahrgenommen. War das für dich ein Grund, diese Erlebnisse so zu präsentieren?

Man sagt immer, Dokumentarfilme suchen die absolute Wahrheit. Aber es gibt keine absolute Wahrheit – nicht im Leben und ganz sicher nicht im Kino. Wenn ich beispielsweise eine Fernsehserie drehe, schneide ich am Ende aus 250 Stunden Material vielleicht fünf Stunden zusammen, also nur zwei Prozent des Ganzen, die «ich» ausgewählt habe. Also, wo ist hier die Wahrheit?

Waltz with Bashir erzählt einerseits von deiner autobiografischen Erfahrung aus dem Libanonkrieg von 1982, findet aber auch eine visuelle Sprache für den Prozess des Erinnerns und zeigt, wie unterschiedlich das Hirn Erlebnisse speichert, fiktionalisiert und manipuliert.

Es ist anmassend, von Wahrheit zu sprechen. Ich kann in einem Film nur versuchen, möglichst präzise und sorgfältig wiederzugeben, was ich erlebt habe. Mein Freund Ori Sivan, ein begnadeter Psychologe, sagt im Film, dass Erinnern ein dynamischer Prozess ist. Welche Form ich dafür finde, ist mir völlig freigestellt. Ich verfolge natürlich ein bewusstes Ziel, wohin ich die Zuschauer führen will. Ich entscheide, von welchem Blickwinkel aus die Geschichte erzählt wird, ich entscheide, was die Protagonisten sagen. Ich habe eine Ideologie, und ich vermittle diese in der Sprache, die ich fliessend beherrsche – in animierten Bildern.

Animierte Bilder legen die Künstlichkeit, die Verführung des Mediums vielleicht offensichtlicher dar?

Ich würde argumentieren, dass Trickzeichnungen genauso «Wahrheit» repräsentieren wie Bilder, die mit einer HD-Kamera gedreht wurden. Was wir letztlich auf der Kinoleinwand sehen, besteht aus Pixeln und Punkten, die uns die Illusion eines Bildes geben. Kamerabilder sind nicht realistischer als animierte Bilder, und welche höhere Macht sieht sich überhaupt dazu berufen, dies zu entscheiden! Für mich sind animierte Bilder überhaupt nicht künstlich, ich verbinde sie mit dokumentarischen Elementen und erzähle meine persönliche Geschichte. Ich mache Filme, um Lebensphasen künstlerisch zu reflektieren und abzuschliessen – eine unglückliche Liebe, Kriegserinnerungen, was auch immer. Und ich finde die Form dafür, die mir entspricht.

Der Film hatte international sehr viel Erfolg, war an Hunderten von Festi­vals und gewann zahlreiche Preise. Immer wieder entflammte die Diskus­sion, ob man ihn als Dokumentarfilm definieren und prämieren kann.

Diese starren Genre-Definitionen sind doch so was von veraltet und langweilig. Wer entscheidet denn, wo Fiktion anfängt und Dokumentation aufhört? Als ich Produktionsgelder für Waltz with Bashir aufzutreiben versuchte, dachte ich noch, es sei eine bahnbrechende Idee, den Film als ersten animierten Dokumentarfilm zu promoten. Aber ich habe mich getäuscht, die Förderer konnten mit dieser Mischform nicht umgehen, und ich fiel zwischen Stuhl und Bank. Am Ende geht es immer nur um festgefahrene Systeme, Bürokratie und all diese Mechanismen sind ziemlich langweilig. (Folman sieht mich plötzlich entgeistert an, und scheint erst jetzt zu realisieren, dass ich auf seinem unbequemen Sofa sitze) – Ist dir kalt?

Nein, alles in Ordnung... Mehr als Dokumentarfilme vermögen Animationsfilme, den Zuschauer einzulullen und in fremde Welten eintauchen zu lassen. Die zahlreichen Traumsequenzen in Waltz with Bashir scheinen tiefe emotionale Sehnsüchte anzusprechen. Ist der Animationsfilm ein geeignetes Genre, um Kriegserlebnisse für den Zuschauer erfahrbar, vielleicht auch ertragbar zu machen?

Ich kategorisiere mich selber nicht als Animationsfilmer, Dokumentarfilmer – ich bin ein Filmemacher, «a film maker» – ein wunderschönes Wort, das es auf Hebräisch gar nicht gibt. Ich mache Filme.

Du hast erwartet, dass der Film sehr kontrovers und provokativ sein würde. Warst du enttäuscht, als er von allen Seiten, sogar von der israelischen Regierung, beklatscht wurde?

Ich war immer das Problemkind, der Wildfang, und plötzlich wurde mir überall auf die Schultern geklopft. Was soll ich dazu sagen? Es hat Spass gemacht. Plötzlich wurde ich vom Establishment gefeiert. Was nicht heisst, dass ich ihren Reaktionen glaube. Die Regierung und ihre Meinung interessieren mich einen Scheiss. Ich kann sie auch nicht beeinflussen! Uff, was für ein anstrengendes Thema...

War dieser Hype um deine Person und deinen Film also auch politisches Kalkül?

(Er klatscht in die Hände, sein Ton ist nun sehr zynisch) Es war eine strategisch clevere Reaktion! Ich stehe für eine Generation von Soldaten, die vom Libanonkrieg traumatisiert wurde. Die Regierung musste zeigen, dass sie diese schwachen, linken Männer des Landes unterstützt. Ich war schliesslich Offizier in einer wichtigen Infanterie-Einheit und habe meine Pflicht getan, da lässt man mich doch nicht einfach fallen! Ich war ja kein Dienstverweigerer.

Würdest du dich heute weigern, zur Armee zu gehen, und denkst du, dass der Film junge Männer diesbezüglich beeinflussen kann?

Natürlich würde ich mich weigern. In den Neunzigerjahren war es ein Ding der Unmöglichkeit, von der Armee wegzukommen. Heute ist dies möglich, und ich hoffe sehr, dass sich junge Menschen durch meinen Film dazu ermutigt fühlen.

Auch die politische Linke in Israel hält die Armee für überlebenswichtig für den Staat. Ohne die Israel Defense Forces würde es Israel bald nicht mehr geben. Siehst du das anders?

95 Prozent der sogenannten Linken denken so. Ich nicht. Ich glaube nicht, dass es diesen Staat wegen seiner militärischen Übermacht gibt. Die Armee hat sich in den letzten dreissig Jahren nicht als besonders stark erwiesen, das ist ein Mythos. Haben wir wirklich je einen Krieg durch militärische Macht gewonnen? Während des zweiten Libanonkriegs hatten wir die beste Ausrüstung, die besten Panzer, aber wir konnten sie nicht besiegen.

Glaubst du, dass ein Film Menschen politisch umstimmen kann? Abgesehen von den bereits «bekehrten» Intellektuellen und Linken?

Ich bin sehr extrem, aber nicht naiv. Ich habe diesen Film gemacht, um die grosse Sinnlosigkeit des Krieges zu zeigen – ohne Glamour. In amerikanischen Kriegsfilmen, auch in sogenannten Antikriegsfilmen, gibt es diesen ganzen Kitsch, das Gefühl der Bruderschaft, die Coolness der Soldaten. Mein Film zeigt den Krieg als absolut irrsinnig. Es macht mich verrückt, daran zu denken, dass in einigen Jahren irgendein hirnverbrannter Politiker über das Schicksal meiner beiden Söhne entscheiden wird. Es wird in Israel nicht wirklich versucht, den nächsten Krieg zu verhindern. Das ganze Bildungssystem hier und die Gehirnwäsche, die den Holocaust und einfach alles nutzen, um Feindbilder zu schüren – das ist Manipulation!

Wird männliche Identität in Israel weitgehend über den Armeedienst geformt?

Ja, der dreijährige Armeedienst ist sehr prägend. Ich war selber ein Kind von Holocaust-Überlebenden und war immer sehr rebellisch und wild. Meine Lehrer dachten, ich würde niemals Armeedienst leisten, sondern ins Gefängnis gehen. Aber als Teenager wollte auch ich allen beweisen, dass ich nicht nur am Strand rumhängen und kiffen, sondern in der besten Einheit kämpfen kann.

Dein Film zeigt die Ankunft im Libanon aus der Sicht der euphorischen Panzer-Soldaten, die traumwandlerisch und zu lauter Rockmusik über die Felder brettern.

Genauso surreal kam mir und vielen anderen Soldaten diese Fahrt vor. Die unwirkliche Visualität und Ästhetisierung durch den Sucher des Kanonen-Objektivs verstärkten das Gefühl, dass dies alles nicht wirklich passiert, jedenfalls nicht mir.

Und dann der plötzliche Schockmoment der ersten Schüsse auf die Soldaten...

Es macht doch überhaupt keinen Sinn, in irgendeinem abgelegenen libanesischen Dorf zu kämpfen und zu sterben, nur weil die Armee erst ein paar Tage später beschliesst, diesen Unsinn abzubrechen! Libanon war komplett ungerechtfertigt, es gibt keine Entschuldigung für diesen unnötigen Krieg. Dieses Gefühl wollte ich vermitteln. Ich liebe meinen ersten Film, Made in Israel, der knallhart dieses System der emotionalen Rekrutierung der Soldaten hier aufzeigt. Niemand wollte diesen Film sehen, er wurde verbannt und hat mich finanziell ruiniert. Heute wird er in Filmgeschichtskursen gezeigt, ha!

Du zeigst den damaligen Kommandanten Ariel Sharon, wie er auf seiner Farm, Spiegeleier schmatzend, seine Befehle durchgibt. Seine stummen Lippen sagen: «Bitte wechselt meine Windeln!» – Ein kleiner Racheakt?

Ja, das war ein Insider-Witz meiner Trickzeichner und mir. Sharons Familie hat den Film wohl eh nicht gemocht, und er selber lag 2008 bereits im Koma.

Ein offensichtlich manipulatives Mittel in Filmen ist die Musik. Emotionen werden geschürt, verstärkt oder kontrastiert. Die Orchestrierung von Stille und Max Richters musikalischen Kompositionen scheint mir in Waltz with Bashir sehr komplex und gelungen.

Die Szene, in der all die Menschen an den Soldaten vorbei ins Flüchtlingslager gehen, haben wir im Tonstudio in Deutschland zuerst mit einem musikalischen Score ausprobiert und sofort gemerkt, dass dies überhaupt nicht passt. Diese Stelle muss unbedingt still sein, das Gefühl des Schocks wird so verstärkt. In der «Super-Szene», als die nackten Soldaten aus dem Wasser steigen, haben mich die Deutschen auch beeinflusst, den Ton des Wassers ganz wegzunehmen und nur die Musik spielen zu lassen – eine falsche Entscheidung, wie ich nun finde. Man sollte nicht auf die Deutschen hören (lacht)!

Ori Sivan spricht im Film die Thematik der deutschen Schuld an. Er sagt, dass deinem Verdrängen des Massakers von Sabra und Schatila die Erinnerungen an die Vernichtungslager der Deutschen zugrunde liegt.

In Deutschland war die Promotionsarbeit des Films am härtesten, und die Kritiker waren besessen von dieser Holocaust-Analogie und der politischen Dimension des Films. Ich habe immer gesagt, dass sie so die Zuschauer vergraulen werden. Für mich ist dies auch nicht die zentrale Thematik des Films, aber die Deutschen mit ihren ewigen Schuldgefühlen haben mich ausgequetscht diesbezüglich. Ich war für sie die perfekte Projektionsfläche – ein Sohn von Holocaust-Überlebenden, der seine Ängste und psychotischen Abgründe künstlerisch verarbeitet, toll! Können wir von was anderem reden?

Gut. Du bist nun gerade dabei, deinen neuen Film The Congress fertigzustellen. Der geht nun total weg von deiner eigenen Person.

Ja, ich hatte ein für alle Mal genug vom Fokus auf meine Person. Der Film basiert auf dem Science-Fiction-Buch von Stanislaw Lem, vierzig Prozent sind animiert, sechzig Prozent Live-Action. Die Schauspielerin Robin Wright spielt sich selber, es gibt also wieder zahlreiche autobiografische, dokumentarische Elemente aus Robins Leben – was ist dieser Film nun? Ein animierter Sci-Fi-Dokumentarfilm? Wen kümmert es?

Versuchst du, die Rezeptionshaltung der Zuschauer zu beeinflussen? Das Publikum erwartet doch fast, dass dein nächster Film wieder schwer einzuordnen sein wird.

Mag sein, aber ich glaube fest daran, dass man diese Diskussionen nicht steuern kann. Im Moment, in dem ich meinen Film beende und loslasse, bin ich nicht mehr verantwortlich, welche Reaktionen er auslösen wird. Ich habe Artikel gelesen über Bashir, da war ich richtig schockiert, wie unterschiedlich man diesen Film deuten kann! Ich wusste aber, dass mir der Erfolg von Bashir Türen öffnen würde, und so habe ich mir diesen Traum ermöglicht. Ich liebe Sci-Fi-Filme, es ist mein absolutes Lieblingsgenre. Auch wollte ich keinen Film machen, der Vergleiche mit Bashir nahelegen konnte. Viele haben diese Wahl nicht verstanden, sie haben von mir erwartet, dass ich noch einen sozialkritischen Kriegsfilm machen würde, aber ich wollte etwas komplett Anderes ausprobieren. Es wird ein sehr spezieller Film, die Montage ist bereits abgeschlossen, und – «Holz anfassen» (er klopft dreimal auf den Tisch) – er wird Ende Jahr ganz fertig sein.

Was gefällt dir am Schneideprozess?

Das Manipulierende daran (lacht)! Ich arbeite schon mehr als zehn Jahre mit derselben Cutterin, ich bin die ganze Zeit mit ihr im Raum, weil ich diesen Prozess liebe. Sie montiert die Szenenabfolgen basierend auf dem Drehbuch. In einem Spielfilm wähle ich natürlich die besten Takes selber aus, aber am schwierigsten ist es, die definitive Struktur zu bauen. Es gibt so viele Bücher darüber, wie eine erfolgreiche Dramaturgie aussehen muss, als ob es eine Formel dafür gäbe!

Wie erlebst du das Drehbuchschreiben?

Ich sehe mich grundsätzlich als Schreiberling. Ich habe während der Filmschule viel Kameraarbeit gemacht, aber mein Herz schlägt für das Drehbuch, und ich glaube, dass viel Intuition und Dynamik mein Schreiben beeinflussen. Ich habe das Buch zu The Congress auf meinem Segelboot geschrieben; ein Jahr lang habe ich mich dorthin zurückgezogen und gearbeitet. The Congress spielt in einer imaginären Wüstenwelt, fliegende Boote hängen in der Luft. Ich habe mir also selbst diese Submarine-Erfahrung geholt, war während des Sommers eingesperrt im Innern des Bootes, weil es auf dem Deck zu heiss war.

Du hast für dich selber eine klaustrophobische Sci-Fi-Situation konstruiert, und das hat deinen Schreibstil beeinflusst?

Natürlich, wenn du acht Stunden auf dem Meer gleitest und dann plötzlich wieder einen Fuss auf das Festland setzt, dann fühlst du dich wie ein Alien auf einem fremden Planeten.

Nochmals zurück zu Waltz with Bashir (Folman seufzt theatralisch): Wie war es für dich, deine Freunde und deine Frau, als ihr euch im fertigen Film als animierte Figuren gesehen habt?

Ich habe mich daran gewöhnt, ich wurde immer gleich nach dem Drehen animiert. Viele Personen in dem Film sehen fast aus wie in echt. Alle Trickzeichner figurieren in irgendeiner Szene als Statisten. Nur ein Freund in Holland hat wenige Tage vor dem Dreh abgesagt, und wir mussten die Szene mit einem Schauspieler nachstellen. Der Animator hat die Figur frei nach seiner Vorstellung gezeichnet, und wie durch einen Zauber hat sie letztlich fast genau so ausgesehen wie mein Freund!

Die Trickzeichner sind alle jung und haben den Libanonkrieg nicht erlebt, doch die Bilder sind voller kleiner Details und wirken genau recherchiert. Israeli können nicht in den Libanon einreisen, haben sie all die Bilder nach deiner Beschreibung und Erinnerung gezeichnet?

Ja, ich habe ihnen die Landschaft und die Details erklärt, und glücklicherweise hat es unsere Regierung ja geschafft, genau während der Entstehung unseres Films einen zweiten Libanonkrieg zu führen, der in denselben Gegenden und Dörfern stattfand, sodass wir tonnenweise mediales Material zur Verfügung hatten. Es war schockierend, all diese Orte wiederzusehen, ein grosses schreckliches Déjà-vu!

Aus europäischer Sicht ist diese Arbeitsweise unvorstellbar: dass ihr die ganzen Bilder basierend auf Internetmaterial, Medien und Erinnerungen kreiert habt und keiner der Zeichner wirklich vor Ort gewesen ist.

Es war nicht nötig. Die Bilder, die wir zur Verfügung hatten, und die in meinem Kopf genügten.

Am Schluss des Films sieht man zwei Minuten lang Archivbilder, live gedreht, kurz nach dem Massaker im Flüchtlingslager von Sabra und Schatila. Wie kamst du zu diesen Bildern?

Interessanterweise konnte uns das israelische Fernsehen keine Archivbilder zur Verfügung stellen, sie haben diese Aufnahmen «verloren»! Die gezeigten Bilder wurden von einem Schweizer Fernsehteam gedreht, die als Erste ins Lager gingen und keinen Schimmer hatten, was sie dort vorfinden würden.

Wie die israelischen Soldaten standen also auch diese Filmteams vor dem Lager und filmten, wie die Palästinenser von den christlichen Phalangisten in die Lastwagen gepfercht wurden, und das kam keinem verdächtig vor?

Nein, es war während dieses Krieges normal, dass Dörfer und Lager evakuiert wurden, die Lastwagen alleine wiesen nicht auf ein Massaker hin. Es herrschte Chaos, und es wurde geschossen, doch zu diesem Zeitpunkt wusste wohl noch niemand, was innerhalb der Lagermauern geschah. Ich verurteile diese Menschen nicht. Auch nicht die israelischen Soldaten, die am Eingang des Lagers standen und Leuchtraketen abfeuerten. Ich weiss nicht, was ich an ihrer Stelle getan hätte. Ich weiss nicht, ob ich ein Held gewesen wäre und ob ich eingegriffen hätte.

So verliert sich die Mitschuld der Zeugen im Ungewissen...

Die israelischen Offiziere, die weiter oben auf den Dächern sassen und durch ihre Ferngläser sahen, was die libanesischen Phalangisten im Lager anrichteten: Sie hätten viel früher reagieren und eingreifen müssen, das ist klar. Ich habe den israelischen Journalisten Ron Ben-Yishai einmal gefragt, was die Soldaten denn effektiv hätten tun können. Mit dem Tank ins Lager rollen und rumschiessen? Natürlich nicht. Ben-Yishai sagte, sie hätten hundert- statt einmal beim Armeeradio melden können, dass sie ein Massaker vermuteten, sie hätten immer wieder anrufen können, bis jemand reagiert hätte. Aber hinterher ist man immer klüger. Die Lastwagen fuhren voll beladen ab und kamen leer zurück – diese Bilder konnten von den Soldaten zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich gedeutet werden. So funktioniert die Armee, gezielt verwirrend – gezielt «fehlen» Informationen und Bilder, die klare Schlüsse zulassen würden.

Du füllst diese Lücken mit einem starken unmissverständlichen Statement in der letzten Minute vor dem Abspann. Die Archivbilder stehen im Kontrast zu der zum Teil verträumten, surrealen Ästhetik des gezeichneten Films.

Ja, ich wollte keine Zweifel darüber lassen, dass dieses Massaker stattgefunden hat. Mehr als die Schuldfrage war es mir wichtig zu sagen: Das ist passiert – egal, an was und wie wir uns erinnern wollen – diesen Menschen ist das widerfahren!

Das Massaker, den dramatisch-emotionalen Höhepunkt der Geschichte, platzierst du dramaturgisch gesehen spät, an den Schluss des Films. Während der letzten siebzehn Minuten ändert sich der Film auch stilistisch, vom persönlichen autobiografischen Ansatz zu einem universellen investigativen, animierten Dok.

Ja, im letzten Drittel folgt der Film den Regeln eines klassischen Dokumentarfilms: «talking heads», verschiedene Gesichtspunkte der Recherche und Interpretationen des Massakers. Das war immer schon die Struktur des Drehbuchs – welches ich übrigens in vier Tagen geschrieben habe.

Wie bitte?

(Er grinst stolz) Ich habe Zeugen. Ich ging in ein «Zimmer» im Norden Israels, und vier Tage später war ich zurück mit dem fertigen Script, dessen Struktur sich nicht geändert hat. Die Recherche und viele Interviews fanden natürlich vorher statt, und darauf basierend konnte ich das Drehbuch schreiben.

Einige der Protagonisten, die mit dir im Krieg waren, hast du nach 25 Jahren zum ersten Mal wieder getroffen. Hast du diese Treffen gefilmt?

Nein, ich wollte, dass die erste Begegnung total echt und frisch ist. Die meisten konnten diese Stimmung dann im Studio wiederholen – unser erstes Treffen quasi nachspielen. Ausser Frenkel, ihn haben die Kameras irritiert, und er war wie eingefroren. Der Funke des ersten Wiedersehens, seine brillante Art, die Geschichten zu erzählen, ging verloren.

Ori, der Hobby-Psychologe in deinem Film, sagt, dass Filme wie eine Therapie sind. Ist das so für dich?

Die Herstellung des Films ist therapeutisch, ja. Für mich persönlich war es ein grosser Schritt, mich vor der Kamera zu exponieren – gezeichnet oder nicht, du zeigst dich nackt und verletzlich. Bashir hat hoffentlich auch ein paar Schutzmauern von Exsoldaten zerschlagen und sie dazu gebracht, sich zu erinnern. Mein persönliches Leben hat der Film sicherlich verändert. Ich habe meine Privatsphäre verloren. Ich war nach meinem letzten Interview in Madrid so ausgelaugt, dass ich geheult habe. Nach der Tour lag ich drei Wochen in Thailand am Strand, habe gekifft und kam langsam wieder zu Kräften.

Okay, dann erlaub ich mir noch eine letzte, cinephile Frage. Waltz with Bashir zitiert in einer Szene Coppolas Apokalypse Now – welche Filme haben dich sonst beeinflusst?

Come and See, einer der wahren Antikriegsfilme, des Russen Elem Klimov. Mein absoluter Lieblingsfilm ist Der amerikanische Freund mit Bruno Ganz. Falls du ihn triffst in der Schweiz, musst du ihm ausrichten, dass ich seine Interpretation in Wim Wenders’ Film für die beste schauspielerische Leistung aller Zeiten halte. So, und jetzt hab ich genug und muss weiterarbeiten!

(Ari Folman steht auf, verabschiedet sich und lässt mich in seinem Wohnzimmer sitzen. «Take your time!», ruft er noch aus dem Nebenzimmer, und es klingt beinahe freundlich.)

Ari Folman

Der 1962 in Haifa geborene polnischstämmige Israeli schloss 1991 sein Studium der Filmwissenschaft mit dem Dokumentarfilm Comfortably Numb ab, den er mit Ori Sivan realisierte. Mit Sivan inszeniert Folman auch seinen ersten Spielfilm Saint Clara (IL 1996) – die Geschichte einer dreizehnjährigen russischen Immigrantin, die ihre übernatürlichen Kräfte entdeckt. Bereits in diesem Film zeigen sich Folmans Vorliebe für surreale Bilder und sein sensibler Blick auf die Jugend. Made in Israel (IL 2001), eine Low-Budget-Produktion und laut Folman ein gnadenlos unterschätzter Film, nimmt sich schwarzhumorig das zwiespältige Verhältnis der jungen israelischen Generation zur Holocaust-Thematik vor.

2008 gelingt Ari Folman mit seinem animierten Dokumentarfilm Waltz with Bashir, der an den 61. Film­­­festspielen in Cannes gezeigt wird, der internationale Durchbruch. Der Film, der konven­tionelle Genre-Definitionen aufbricht, wird für einen Oscar nominiert und gewinnt zahlreiche euro­päische und israelische Filmpreise. Der grosse Erfolg ebnet den Weg für Folmans nächste Gross­produktion, The Congress, frei nach Stanislaw Lems Science-Fiction-Roman Der futurologische Kongress. Der Film wird erneut knapp zur Hälfte animiert sein, die amerikanische Schauspielerin Robin Wright spielt darin sich selber.

Sascha Lara Bleuler
*1977, Schauspielausbildung am Lee Strasberg Theatre & Film Institute in New York. Studium Anglistik, Filmwissenschaft und Fran­zösi­sche Literatur an der Universität Zü­rich. Lehrtätigkeit in Englisch, Filmtheorie und Schauspiel. Freie Journalistin für Filmzeitschriften. Kuratorin von Filmreihen. Programmation der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur und des Dokumentarfilmfestivals Visions du Réel. Schauspielerin in Film- und Theaterproduktionen. Lebt in Zürich und Tel Aviv.
(Stand: 2017)
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