RAMÓN REICHERT

SEX MANIPULATION FOR DUMMIES — WAHRNEHMUNGSSCHULE IM AUFKLÄRUNGSFILM

ESSAY

16-mm-Lehrfilme galten in den 1940er- und 1950er-Jahren als eine zentrale Vermittlungsform der Sexualpädagogik und waren ein wichtiger Motor für die Popularisierung sexueller Identifikations-, Abgrenzungs- und Reflexionsangebote. Sie propagierten Pubertätskonzepte, die dem Restaurationsklima der wirtschaftlichen Modernisierung, einer administrativen Gesundheitspolitik (public health) und einer damit verbundenen sozialen Rollenmodellierung entsprechen sollten. Die sexualpädagogischen instructional films, Lehrfilme, zielten direkt auf die Verhaltensbeeinflussung und Verhaltensänderung ihrer Zuseherinnen und Zuseher – hauptsächlich pubertierende Teenager. Prädikatisiert als classroom films wurden sex education films for youths flächendeckend in den High Schools und Universitäten eingesetzt und erreichten dabei ein Millionenpublikum.1

Im Hauptteil meines Essays steht die Analyse des didaktischen Modus der sex education films. Im Lehrkino der 1950er-Jahre galten explizite sexuelle Darstellungen als Tabubruch. Daher waren Bildmanipulationen in animierten Sequenzen zentraler Bestandteil der meisten sexuellen Aufklärungsfilme. Bei diesen trickfilmanimierten Szenen sexueller Phänomene und Vorgänge handelte es sich um abgeschlossene Zeichenräume, in denen ein gelehriger Blick auf seine pädagogische Zweckmässigkeit hin geschult wurde. Es entstanden multimediale Vorstellungsräume und medienspezifische Stile der Wissensrepräsentation, welche die Wahrnehmung der Betrachtenden auf spezifische Weise manipulierten sollten.2 Die Untersuchung dieser trickfilmanimierten Inszenierungstechniken von Sexualität zur Wahrnehmungsorganisation und Selbstführung der Zuseherinnen und Zuseher soll im Zentrum meines Essays stehen.

Die Fünfzigerjahre waren das Jahrzehnt des Übergangs von einer arbeitsintensiven Industriegesellschaft in eine konsumorientierte Dienstleistungsgesellschaft.3 Allgemeiner Wohlstand, wirtschaftliches Wachstum und Vollbeschäftigung sorgten für einen übersteigerten Geschichtsoptimismus des weissen Mittelstandes, der Kritik am American Dream als unpatriotisch und subversiv ansah. Vor diesem Hintergrund erstarkte in den USA eine wertkonservative Repräsentationspolitik, die ihren Ausdruck in der politischen Bewegung des domestic containment fand. Dabei handelte es sich um eine soziokulturelle Praxis, welche in den Normierungen von Sexualität und Familie den Kern amerikanischer Identitätskonstruktionen sah und die familiale Ordnung des weissen Mittelstandes vor dem Hintergrund zunehmender Suburbanisierung und Rassentrennung als gesellschaftliche Keimzelle propagierte.4 In diesem Zusammenhang wurde versucht, das Werte- und Normensystem der weissen Mittelschicht und ihre Vorstellungen von einer traditionellen Rollenverteilung der Geschlechter zur gesellschaftlichen Hauptströmung zu machen.

Cold war families

Der Krisenbegriff des Kalten Krieges hatte bei der Konstruktion sexualpädagogischer Geschlechtsinszenierungen einen gewichtigen Stellenwert. Die moralisch und militärisch hochgerüsteten USA hatten im Ost-West-Konflikt ein neues Strategiekonzept zur Klärung der sexuellen Frage entwickelt. Dieses Konzept betrachtete Sexualität als ein aus Ordnung, Macht und Wissen bestehendes Dispositiv und sollte die umfassende Möglichkeit anbieten, Sexualität zum Ausgangspunkt für die Subjektbildung zu machen. In diesem Zusammenhang galt die Vorstellung von einem fundamentalen Kulturkrieg zwischen Ost und West als der dominante Ausdruck der Angst vor Verschiebungen in der Geschlechterkonstellation und er legitimierte die Neuherstellung alter Geschlechterordnungen und Rollenverteilungen.5 Die durch die Medialisierung des Ost-West-Konflikts geschürten Feindbilder und Bedrohungsszenarios liessen in breiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft einen weitreichenden soziokulturellen Konsens entstehen, der Familien- und Sexualitätsvorstellungen des 19. Jahrhunderts wiederbelebte.6

Im Klima der flächendeckenden Einführung des fordistischen Produktionsregimes galt die heterosexuelle Kernfamilie als Garant für die soziale Stabilität der Reproduktion der Erwerbsarbeit. Vor diesem Hintergrund wurde die traditionelle Rollenverteilung in der Familie mit wertkonservativen Vorstellungen wie Fleiss, Gehorsam und Lustverzicht konnotiert. Das Zielpublikum der sexualpädagogischen Lehrfilme waren hauptsächlich pubertierende Teenager. Im Fokus der Filme der sex education stand die Erziehung der ersten Nachkriegsgeneration von Jugendlichen, die im Krieg geboren wurden und Anfang der 1950er-Jahre in das entwicklungsphysiologische Stadium der Geschlechtsreifung kamen. Die Filme sollten die Mädchen zur Disziplinierung des eigenen Körpers erziehen, während bei Jungen die physische und mentale Entwicklung zum Mann in der Unterdrückung von deviantem Verhalten wie Homosexualität und Masturbation propagiert wurde.

Mental hygiene und social guidance

Unter den Schlagworten mental hygiene und social guidance entstanden in den USA der Nachkriegszeit mehrere tausend Lehrfilme, die in ihrer visuellen Didaktik auf die lebensformativ wirksame Steuerung von social-sex attitudes abzielten.7 Produziert wurden die 16-mm-Filme von kleinen Lehrfilmherstellern wie etwa Coronet Films (der grösste Produzent von educational films, gegründet von David Smart im Jahr 1946), Encyclopaedia Britannica Films (Produzent einer Filmreihe zum Thema mental hygiene), ETRI Films (einer der grössten Lehrfilm-Produzenten der 1930er-Jahre), Avis Films (Mittelbetrieb mit Schwerpunkt health education), Centron (Mittelbetrieb mit Schwerpunkt mental hygiene) und The Bell System (Schwerpunkte: safety film und mental hygiene). Während des Zweiten Weltkrieges kooperierten zahlreiche kleine Lehrfilmhersteller mit dem War Department und dem United States Information Service. Diese engen Kontakte schufen die Grundlage dafür, dass die Lehrfilmhersteller ihre guidance movies im Rahmen der Marshall Plan Aid zu einem Beitrag der kulturellen Amerikanisierung Europas stilisieren konnten. Damit gelang es den Lehrfilmherstellern auch, sich frühzeitig als multimediale Informationsanbieter im Bereich des pädagogischen Wissens auf dem europäischen Markt zu etablieren.

Sogenannte instructional films, also Trainingsfilme, die direkt auf die Verhaltensbeeinflussung und Verhaltensänderung ihrer Zuseherinnen und Zuseher abzielen, waren bereits in der Zeit des Zweiten Weltkrieges ein Instrument zur Steuerung massenkultureller Erziehung gewesen. Massgeblicher Auftraggeber der instructional films war das Office of War Information, das kleine Lehrfilmhersteller im Mittelwesten der USA damit beauftragte, audiovisuelle Zeichenregister zur effektiven Blickführung eines Massenpublikums zu entwickeln.8 Das vorherrschende Thema im sexualpädagogischen Film während des Zweiten Weltkrieges ist die sexuelle Hygiene und die Aufklärung des männlichen Soldaten über die Entstehung und die Folgen ansteckender Krankheiten bei ungeschütztem Sexualverkehr. Diese Formate über den Schutz vor Geschlechtskrankheiten wurden von den meisten US-Soldaten gesehen und haben in der Folgezeit ein Massenpublikum konstituiert, das das Medium Film mehr oder weniger als ein Instrument der Belehrung und Erziehung akzeptierte. Mit ihrem sozialtechnologischen Anspruch des attitude building haben die instructional films einen Rahmen sozial anerkannter Wahrnehmungsbedingungen geschaffen, welchen die Sex-Pädagogik der 1950er-Jahre nur noch zu erhalten hatte. In beiden Fällen zielten die Filme auf eine unmittelbare Verhaltensänderung und operierten auf der Bild- und Tonebene mit Stilmitteln der direkten Adressierung. Im Rahmen der direkten Adressierung wenden sich erstens fiktive Charaktere in belehrender Weise an das Kinopublikum und erfüllen somit eine Überbrückungsfunktion zwischen der Erzählwelt des Films und der interpretativen Praxis der Zuschauenden. Zweitens geben Off-Sprecherinnen und -sprecher die Argumentationslinie vor und erklären etwa einen Argumentationsblock, der durch Schaubilder illustriert wird.

Hollywood hatte mit der Produktion von sex education films nichts zu tun. Es spielten also keine Stars in den Filmen, sondern es wurde beim Casting darauf geachtet, Schauspielerinnen und Schauspieler mit einem «alltäglichen» und «gewöhnlichen» Erscheinungsbild auszuwählen, um die Authentizität und Glaubwürdigkeit der filmischen Inszenierung zu stärken. Die sex education films wurden für alle Altersklassen gedreht. Ein Film wurde oft in mehreren Versionen produziert, und so gab es unterschiedliche Filmskripte für Kinder, Teenager und Erwachsene. Dementsprechend wurden die Filme auch für diese Zielgruppen prädikatisiert. Das Ziel der Prädikatisierung war es, die Filme strikt auf die Bedürfnisse der Zielgruppen abzustimmen. In den Schulen wurden die Gruppen zusätzlich nach Alter, Geschlecht und Glaubensbekenntnis differenziert. Thematische Schwerpunktsetzungen im Genre der sex education films waren von 1945 bis 1960 dating- und popularity-Filme, von 1960 bis 1970 verlagerte sich der Schwerpunkt auf die Themen Drogen und highway safety. In sogenannten marriage-Filmen ging es darum, herauszufinden, ob ein Sachverhalt wie «Liebe» vorlag. In diesen Filmen trat in der Regel der Eheberater als pädagogische Autorität auf. Die grundsächliche Intention der marriage-Filme war es, vor Sex ausserhalb der Ehe zu warnen. Dabei wurde Sexualität per se abgewertet und pathologisiert. Die Darstellungen sexueller Themen beschränkten sich in diesem Zusammenhang auf anatomische und physiologische Wissensdiskurse, die von Ärzten und Krankenschwestern innerdiegetisch verkörpert wurden.

Wissensrepräsentationen von Sex/Gender

Sexualität im pädagogischen Kino der mental hygiene durfte nur unter ärztlicher, physiologischer und biologischer Aufsicht sicht- und sagbar gemacht werden. Die in den sex education films häufig angewandte trickgrafische Vivisektion des menschlichen Körpers hat aber nicht nur zur populären Verbreitung wissenschaftlichen Wissens geführt, sondern allererst einen Bezug auf unterschiedliche Bildrepertoires eröffnet, etwa auf die männliche Vorherrschaft des voyeuristischen Blicks (zum Beispiel der Blick durch das Mikroskop). Andererseits sollte der klinische und wissenschaftlich-technische Diskurs die legitimen Bilder des sexuellen Körpers liefern. Wenn die sex education films ins Zeichenregister der Cartoons und der Trickanimation wechselten, wurden sexuelle Handlungen zwar explizit angesprochen, gleichzeitig aber implizit unterdrückt, indem die sexuelle Darstellung aus der Realfilmaufnahme ausgeschlossen wurde. Die Realfilmaufnahme wurde unterdrückt, weil die Lehrfilmhersteller in ihr eine Gefahr der Realitäts- und Alltagsnähe mutmassten. Die Trickfilmdarstellungen thematisierten auch weniger sexuelle Paarbeziehungen, sondern reduzierten sexuelle Regungen immer auf physiologische und anthropologische Konstanten, die mit dem Individuum als «Instinkt» und «Natur» gegeben sind. In diesem Sinne konnten die sexuellen Körper entindividualisiert und in ihrer abstrakten Anatomie und Funktionalität verallgemeinert werden. Neben den Expertinnen und Experten wie Ärzten, Krankenschwestern, Sportlehrern, Hauswirtschaftslehrerinnen oder Psychologen, die auf der Leinwand Wissen verkörperten, gab es einen weiteren filmischen Stil zur erklärenden Kommentierung des Dargestellten: die Verwendung von Schemata und Grafiken. Zeichensysteme trickgrafischer Aufnahmen wurden häufig zur Plausibilisierung des Dargestellten eingesetzt.

So bedienten sich didaktisch operierende Filme wie die sex education films unterschiedlicher Zeichensysteme zur Wissensrepräsentation von Fakten, Daten und Informationen in einem rhetorischen und argumentativen Kontext. Sie trugen zur Stabilisierung von Wissen und zur Veranschaulichung von Zusammenhängen bei und zeichneten sich insgesamt durch eine ausgeprägte Intermedialität aus. Im Kino der sex education drehte sich alles um die Frage, wie Adressierungsfunktionen von Wissen effektiv eingesetzt werden können. Vor diesem Hintergrund etablierte die Sexualpädagogik der sex education films medienspezifische Stile der Wissensrepräsentation, welche die filmische Rezeption der Zuschauerinnen und Zuschauer mit filmischen Verfahren (zum Beispiel Dialogszenen im Schuss-Gegenschuss-Verfahren, Kadrierung, Zoom, Stopptrick, Zeitlupe) und Erzählformen (zum Beispiel Montage, Figuren, Bildraum) konditionieren sollten.

Die Realfilmaufnahme wurde in den sex education films dann eingesetzt, wenn es darum ging, die Nähe zum fiktionalen Film und seinem Identifizierungsangebot vermittels der Schauspielerinnen beziehungsweise Schauspieler herzustellen. Die Aufgabe der Schauspielerinnen und Schauspieler bestand darin, Identitäts- und Rollenangebote zur Verfügung zu stellen. Schalteten die Filme hingegen auf einen neuartigen didaktischen Modus, dann wechselten sie das filmische Zeichensystem und setzten andere filmische Register ein. Dabei handelte es sich um abgeschlossene Zeichenräume, in denen ein gelehriger Blick auf seine pädagogische Zweckmässigkeit hin geschult wurde. Es entstanden multimediale Vorstellungsräume und medienspezifische Stile der Wissensrepräsentation, welche die Wahrnehmung des Betrachters auf spezifische Weise konditionierten (Abb. 1). Eine der zentralen Aufgaben der grafischen Visualisierungen war es, Seriosität und wissenschaftliche Glaubwürdigkeit zu simulieren und den wissenschaftlichen Blick auf den Körper in seiner theoretischen Dichte und Tiefe zu inszenieren. Arrangements ikonischer Repräsentationen wie zum Beispiel Karten, Graphen, Gemälde, Fotografien, Tricksequenzen und bildstatistische Anordnungen von Daten wie etwa statistische Tabellen und Diagramme etablierten reine Zeichenräume, mit denen Sexualität auf abstrakte und idealisierte Weise für eine massenkulturelle Rezeption aufbereitet wurde. Mikroskopische Realfilmaufnahmen vom Inneren des menschlichen Körpers wurden vereinzelt für Evidenz- und Authentisierungszwecke eingesetzt und häufig vermittels aufmerksamkeitssteuernder Techniken wie der Schiebeblende und der Kreisform zu imaginären Räumen perfekter Organisiertheit stilisiert. Mit den unterschiedlichen Narrativen und Trickanimationen der sex education films entstand eine neuartige Wahrnehmungskultur des Körpers und des Sozialen, die in imaginären Räumen des Wissens filmisch konstruiert wurde.9

Trickgrafik ermöglichte die Herstellung vereinfachter und übersichtlicher Bilder, geeignet für eine massenkulturelle Rezeption. Die Konjunktur tricktechnischer Verlebendigung körperlicher Vorgänge war eng verbunden mit der Entstehung marktwirtschaftlich organisierter, wissenschaftlich-technischer Bilder, die durch Anbieter von Lehrfilmwissen am Wissensmarkt angeboten wurden. Die Hersteller von Lehrfilmen übertrugen wissenschaftliches Wissen von einem Medium in andere Medien. Damit veränderte sich der jeweilige epistemische und didaktische Status von Wissen. Im visuellen Education-Management wurde also permanent Übersetzungsarbeit geleistet: von der Schrift zum Film; vom Ton-Kommentar zur Grafik; von der von Schauspielern verkörperten Spielfilmszene zur mikroskopischen Aufnahme; von nummerischen Aufzählungen zu Fotografien und Trickfiguren. Mit Bruno Latour können diese medialen Übertragungen von einem filmischen Zeichensystem in andere als «Inskriptionen» beschrieben werden. Mit ihnen kann auf die Verarbeitungen des vieldeutigen Ausgangsmaterials in ein wissenschaftsfähiges Bild verwiesen werden.10

Mit der visuellen Technik des anatomischen Schnittes wurde der ärztlich-klinische Blick für die populärkulturelle Wahrnehmung adaptiert. Die Tricktechnik erzeugte in Zusammenarbeit mit der schematischen Zeichnung Signifi­kanten der Raumorientierung: Pfeile erzeugten Richtungen, Strecken, Wege, Verläufe und produzierten damit kleine Anekdoten und situative Beschreibungen menschlicher Körperfunktionen (Abb. 2–3). Mit den tricktechnisch animierten Pfeilen, Vektoren, Tabellen, Diagrammen, Schaubildern, Übersichtstafeln, Querschnitten und in Verbindung mit Kameraeinstellung und Kameraführung sollten die didaktischen Verfahren des Lehrfilms also immer auch neue Möglichkeitsräume der Blickführung erschliessen und idealiter determinieren.

Unterstützt durch didaktische Signifikanten wie Bildmaske und Kreisform (Abb. 4) gab sich eine medienspezifische Rhetorik des Lehrfilms zu erkennen, die den Blick des Publikums auf die wesentlichen Punkte fokussieren wollte. Für die ästhetische Umsetzung von Statistik wurde Trickgrafik beinahe ein unverzichtbares Visualisierungsmittel. Dabei ging es darum, die Multidimensionalität kombinatorischer Möglichkeiten aufzuheben und determinierte, notwendige Situationen zu schaffen, die visuell untermauert werden konnten. In Tricksequenzen animierte Bildelemente sollten eo ipso die Form einer Argumentation übernehmen, die auf der Ebene der Anschauung erfolgte. Dabei schlüpften sie in die Rolle eines innerdiegetischen Erzählers, dessen narrative Glaubwürdigkeit (vor der Einführung des Tonfilms) zusätzlich mit schriftlichen Hinweisen verstärkt werden sollte.

Mehr als nur eine didaktische Hilfestellung oder eine ästhetische Dekoration evozierten Tricksequenzen ideale Vorstellungen von Gleichzeitigkeit, logischen Abfolgen und kontinuierlicher Regelmässigkeit. In Verflechtung mit anderen visuellen Präsentationstechniken (Schaubilder, Pfeilen, Hinweisschildern) zeigten tricktechnisch motivierte Kreislaufbilder das Leben als Paradigma des Methodischen und des Sukzessiven. Tricktechnik mobilisierte den betrachtenden Blick und simulierte eine lückenlos planbare Organisation des Lebens und eine vollständige Beherrschbarkeit sämtlicher Lebensäusserungen. Jedes Detail des grafischen Zeichens sollte dabei mit Bedeutung aufgeladen werden. Intensitätsdifferenzen wie die Strichbreite, der Duktus, die Farbe sorgten für überdeutliche Differenzierungen und suggerierten Zusammenhänge, die es nur innerhalb der Trickfilmanimation geben sollte. In der Welt der animierten Dinge schien jede Neuerung und jede Modifikation eine Bedeutungsproduktion zu bewirken. Das Dünne, das Dicke, das Fette transformierten den Zeichenkörper des Vektors und schufen neue Bedeutungen: das Beachtliche, das Neue, das Einleuchtende.

Die sex education films sind Tonfilme. Mit dem Tonfilm wurde die traditionelle Vermittlungspraxis der Lehrperson als vermittelnde Wissensinstanz in den Film verlegt. Auf der Tonebene sorgte die sogenannte Voice of God, das ist eine männliche Kommentarstimme aus dem Off, für die zusätzliche didaktische Führung des Publikums. Mit der Dominanz der männlichen Off-Kommentatoren erhielt der auktoriale Erzähler in der filmischen sex education eine spezifische Geschlechterrolle. Der Dokumentarfilmtheoretiker Bill Nichols verortet den Erzählstil des Off-Kommentars im klassischen Repräsentationsmodus des «Erklärdokumentarismus», das ist die vorherrschende Form des Dokumentarfilms der Grierson-Tradition der 1930er-Jahre.11 Dieser Stil kontextualisierte die Bilder der «realen Welt» durch Voice-over-Kommentar in einem rhetorischen und argumentativen Rahmen.

Der männliche Voice-over-Kommentar sorgte für die Adressierung des Publikums, interpretierte den Film und gab seine innere Logik vor.12 Er verknüpfte die Einstellungen zu Sequenzen, Segmenten und im Hinblick auf die Gesamterzählung, wies den anderen Elementen wie Originalton, Musik und Bild ihre Funktionen zu. Das Subjekt des Sprechens blieb indes für den Betrachter unsichtbar; es befand sich im absoluten Off, konnte aber jederzeit als Stimme auftreten und die Entwicklung der Erzählung beeinflussen. Damit sollte der Eindruck einer imaginären Allgegenwart des Voice-over-Erzählers entstehen.

Die Voice of God erzeugte im didaktischen Raum der sex education einen hermetischen und in sich abgeschlossenen Diskurs.13 Was bedeutet die Konzeption einer «körperlosen Stimme» für den Geschlechterdiskurs? Erzählerische Verfahren wie die Voice of God begründeten Subjektpositionen im filmischen Kontext und trugen entscheidend zur Verteilung der diskursiven Macht im Film bei. Die Position der Off-Stimme nahm in den sex education films beinahe ausschliesslich der männliche Experte ein, der sich für die Frage der Bedeutungsproduktion stillschweigend «zuständig» erklärt und die erzählerische Logik der Bilder «gewährleistet». Wenn die männliche Stimme Garant wissenschaftlicher Seriosität war, dann bedeutete dies im Umkehrschluss, dass weibliche Stimmen als «unwissenschaftlich» angesehen werden sollten.

Praktiken der Desubjektivierung

Im Zentrum der filmischen Sexualpädagogik der sex education films stand der Teenager als ein sexuelles Wesen, dessen Verhalten einer spezifischen sexuellen Selbstbearbeitungstechnik bedürfen sollte. Die Filme demonstrierten damit einen spezifischen Regierungsstil, der an den Subjekten ansetzte und vermittels eines wissenschaftlich angeleiteten sexualtherapeutischen Diskurses versuchte, selektiv und transformierend auf regierbare und selbstregierungsfähige Subjekte einzuwirken. In diesem Zusammenhang versuchten die Aufklärungsfilme mithilfe spezifischer filmischer Wissensrepräsentationen, ein normatives Leitbild der Fremd- und Selbstbeobachtung aufzubauen.

Susan K. Freeman zeigt in ihrer Studie Sex Goes to School aber auch auf, dass die Aufführungen der sex education films immer auch zu kontroversen Diskussionen in den Klassenzimmern führten, in der die Kritik an der Darstellung der im Film gezeigten Geschlechterstereotypen einen grossen Stellenwert hatte:

On the other hand, girls of the decade were also surprisingly wary of being manipulated by these images and by similar representations of women in the media. Young women were even encouraged by instructors to critique this iconography in classroom discussion.14

Die Widersprüche und Ambivalenzen der sex education films müssen nicht erst durch eine film- und medientheoretisch geschulte Aufdeckungsarbeit blossgelegt werden, sondern sind bereits diskursive Partikel historischer Praktiken, die deutlich vor Augen führen, dass die Sexualpädagogik der 1950er-Jahre keineswegs einen eindimensionalen und friktionsfreien Medienkanal vom Sender zum Empfänger formierte. Die Lehrfilme tradierten anachronistische Rollenbilder sowie lustfeindliche Körperbilder – sie provozierten in ihrer reaktionären Tendenz aber auch «unguided discussions», die vom Lehrpersonal oft als «rebellious» und «disrespectful» beschrieben wurden.15 Um die widerspenstigen Diskussionen teilweise zu unterdrücken, wurde den Klassenlehrerinnen und -lehrern in beigelegten Broschüren empfohlen, schriftliche Fragelisten auszuteilen, die eine «beruhigende» Wirkung auf die Schülerinnen und Schüler ausüben sollten. Trotz dieser Beschwichtigungsversuche blieb der Klassenraum der 1950er keineswegs ein homogener Raum gleichgeschalteter Individuen, die den Lehrfilmen passiv und unvorbereitet gegenüberstanden.16 Obwohl in den Lehrfilmen eine hetero­nor­mative Blickordnung institutionalisiert und spezifische, asymmetrische Geschlechterordnungen verstärkt wurden, entzündete sich in den US-amerikanischen Klassenräumen ein diskursiver Raum des Widerspruchs, in dem die in den Lehrfilmen auf passive Subjekte der Belehrung reduzierten Mädchen dem sozial erwünschten Rollenbild widersprachen und ihre filmischen Identifika­tionsangebote infrage stellten. In diesem Sinne produzierten die sex education films nicht-intendierte geschlechtliche Widerstandslinien in den Klassenräumen und machten auf widerstrebende Weise die Ein- und Ausschlussmechanismen zwischen Macht, Diskurs und Geschlecht sicht- und sagbar.

Vgl. Robert Eberwein, Sex Education: Film, Video, and the Framework of Desire, New Brunswick 1999.

Vgl. zum strategischen Zusammenhang von Subjektformierung und Wissensproduktion Michel Foucault, Der Wille zum Wissen: Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1977.

Vgl. Elaine Tyler May, Homeward Bound: American Families in the Cold War Era, New York 1988, S. 3.

Vgl. Claudia Nelson (Hg.), Sexual Pedagogies. Sex Education in Britain, Australia, and America 1879 – 2000, New York [u. a.] 2004, Introduction, S. 19.

Uta Fenske, Mannsbilder: Eine geschlechterhistorische Betrachtung von Hollywoodfilmen 1946–1960, Bielefeld 2008, S. 10f.

Vgl. John D’Emilio / Estelle B. Freedman, Intimate Matters: A History of Sexuality in America, Chicago 1999, S. 7f.

Vgl. Janice M. Irvine, Talk about Sex: The Battles over Sex Education in the United States, Berkeley 2002, S. 77.

Vgl. David H. Culbert, Information Control and Propaganda: Records of the Office of War Information, Frederick, MD, 1986, S. 423 – 488.

Vgl. Geneviève Jacquinot, Image et pédagogie: analyse sémiologique du film à intention didactique, Paris 1977, S. 21ff.

Vgl. Bruno Latour, «Drawing Things Together», in: Michael Lynch / Steven Woolgar (Hg.), Representation in Scientific Practice, Cambridge/Mass. 1990, S. 19 – 68, hier: S. 40f.

Vgl. Bill Nichols, «The Voice of Documentary», in: Alan Rosenthal (Hg.), New Challenges for Documentary, Berkeley / Los Angeles / London 1988, S. 48 – 63.

Guy Gauthier, Le documentaire, un autre cinéma, Paris 1995, S. 49 – 51 und S. 59 – 61.

Vgl. zur «Voice-of-God’s authority» Carl R. Platinga, Rhetoric and Representation in Nonfiction Film, Cambridge 1997, S. 101ff.

Susan Kathleen Freeman, Sex Goes to School: Girls and Sex Education before the 1960s, Urbana 2008, S. 122.

Vgl. Freeman (wie Anm. 14), S. 14f.

Ebd.

Ramón Reichert
Univ.-Prof., Professor für Neue Medien am Institut für Theater-, Film- und Medienwis­senschaft der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Soziale Medien, Digitale Kultur, Bildkulturen des Wissens.
(Stand: 2013)
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