DORIS SENN

BON VENT CLAUDE GORETTA (LIONEL BAIER)

SELECTION CINEMA

«Viel Glück, Claude Goretta!» oder auch «Gute Reise!» heisst der Titel dieses Dokumentarfilms übersetzt, der eine poetische Hommage von Filmemacher zu Filmemacher ist. Das Porträt ist einem bedeutenden Vertreter des Neuen Schweizer Films, Claude Goretta, gewid­met und stammt von einem jungen, nicht minder innovativen Regisseur: dem West­schwei­zer Lionel Baier.

Claude Goretta – 1929 in Genf geboren – gründete mit Alain Tanner, Jean-Louis Roy, Michel Soutter und Yves Yersin in den 50er-Jahren die Groupe de 5, die den neuen Schweizer Film mitinitiierte und insbesondere in den 70er-Jahren in die Welt hinaustrug.

Der Kurzfilm Nice Time (1957), den Goretta mit Tanner in London drehte, erntete früh Preis und Lob in Cannes. Dorthin sollte Goretta später nicht minder erfolgreich mit L’invitation (1973), La dentellière (1977) und La mort de Mario Ricci (1983) zurückkehren. Der Regisseur von Bon vent Claude Goretta wiederum – Lionel Baier – wurde 1975 in Lausanne geboren und gehört seinerseits zu einer neuen Generation Westschweizer Filmemacher, die mit Bande à part films (nach einem Film von Jean-Luc Godard benannt) 2009 ihre eigene Produktionsfirma gründeten und sowohl national als auch international grosse Beachtung finden.

Der Film Bon vent Claude Goretta nun liefert jenseits solcher Fakten eine sehr persönliche Annäherung an den Menschen und Filmemacher Claude Goretta, der vom Alter gezeichnet ist, aber durch sein nach wie vor jugendlich-charmantes und schalkhaftes Lächeln besticht. Bescheiden und informativ erzählt er aus seinem Leben und von den Dreharbeiten zu seinen Filmen. Baier liefert dazu einen lyrisch-essayistischen Kommentar und eine ebenso wirblige wie pointierte Collage mit Bildern und Episoden aus Gorettas Filmen (Schnitt: Pauline Gaillard). Diese ergänzt Baier mit erfrischenden Zwischenszenen eines Schauspielertrios, welche die Reflexionen untermalen oder als kleine Reinszenierungen Filmausschnitte von damals in die Aktualität holen.

So erfahren wir Exemplarisches aus Gorettas Leben – etwa, wie Filmemachen und Musik für ihn zusammenhängen, wie die seiner Ansicht nach «schönste Frau der Welt» aussieht oder wie sein Tonmeister die Sprinkleranlage in seinem legendären L’invitation mit minimalsten Mitteln nachsynchronisierte. Nebenbei zeigt der Film aber auch, dass der Regisseur mit den ganz Grossen des französischen Kinos drehte – dem blutjungen Gérard Depardieu etwa, mit Nathalie Baye oder Isabelle Huppert, aber auch mit den renommierten Genfern Jean-Luc Bideau und François Simon.

Ein wunderbar leichtfüssiges Porträt, das vor allem zweierlei macht: Lust und neugierig, das Werk des Altmeisters, das sich so herzerfrischend modern, politisch und avantgardistisch präsentiert, (neu) zu entdecken.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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