THOMAS HUNZIKER

FRÜHZUG (DELIA HESS)

SELECTION CINEMA

Dunkel ist es im Zimmer, bis der erste Zug vorbeifährt. Der dient dann auch gleich als Wecker für den Mann und die Frau, die im Bett liegen. Doch während der Mann aufsteht, zieht sich die Frau noch einmal unter die dicke Decke zurück, stiehlt sich noch ein paar Minuten und entschwindet in einen Traum, der stark von ihrer unmittelbaren Umgebung geprägt wird. Die Linien auf der Bettdecke sind auch die Linien oder Wellen eines Flusses, auf denen sich die Frau davontreiben lässt. Als der Wind das Fenster aufstösst, wird die Frau im Traum weggeblasen, bis sie schliesslich mit einem leeren Schlucken von unter der Decke auftaucht und sich noch einmal vor dem Ertrinken retten konnte. Der Mann hingegen ist unterdessen schon im nächsten Frühzug unterwegs.

Es sind die Geräusche, die im kurzen Animationsfilm Frühzug von Delia Hess die Übergänge von der Wirklichkeit zum Traum vorgeben: das Knarren des Parketts, das Plätschern des Wassers, das Gurgeln des Abflusses, das Rattern des Zugs oder das Pfeifen des Windes. Hess beschreibt in diesem betörenden Kurzfilm die Momente zwischen Wachen und Schlafen, diese Augenblicke, in denen noch einmal kurz die Augen geschlossen werden dürfen, der Alltag aber bereits in das Bewusstsein eindringt und allmählich den Schlaf verdrängt.

Hat Hess zuletzt in Partition (mit Eleonora Berra, Shami Lang-Rinderspacher, CH 2011) im Rahmen ihrer Ausbildung mit Puppenanimation eine Welt erschaffen, wählte sie für ihren Abschlussfilm Frühzug die Zeichenanimation. Die Transformationen von Gegenständen erinnern dabei unweigerlich an die Arbeiten von Georges Schwizgebel, der sich dieses Spiel mit den steten Verwandlungen zum Markenzeichen gemacht hat. Doch mit dieser Übereinstimmung enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Während bei Schwizgebel in der Regel ein klassisches Stück Musik den Takt vorgibt, so sind es bei Hess eben in erster Linie die realen Geräusche, welche die Verwandlungen vorantreiben. Dem Zustand der Frau zwischen Traum und Wirklichkeit entsprechend zerbrechliche Musik taucht nur ganz sanft zwischendurch auf.

Klar unterschiedlich ist auch der Stil der Animation. Schwizgebel setzt für gewöhnlich auf dominant bunte Szenen, Hess beschränkt sich derweil auf eine reduzierte Farbpalette. Besonders zu Beginn sind in der Dunkelheit Schwarz und Weiss vorherrschend, und auch die Traumlandschaften sind, wie es sich für die angeblich farblosen Träume gehört, zunächst mehrheitlich in Grautönen gehalten. In die Szenen, in denen zu sehen ist, wie sich der Mann auf den Weg macht, dringen dann auch dezente Farben ein, braunes Parkett, blass-blaue Fliesen, die auch auf den Traum abfärben. Es ist eine zärtlich-melancholische Stimmung, die Hess durch diese poetischen Bilder aus vertraut fremden Traumlandschaften eingefangen hat.

Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)
www.schueren-verlag.de
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