HANS J. WULFF

FINALE ALL’OPERA — WENN FILME OPERNHAFT ENDEN

ESSAY

Dass am Ende von Geschichten noch einmal zusammengefasst und -geführt wird, worum es gegangen ist, gehört zu den Grundregeln jeder Dramaturgie. Geschichten versickern am Ende nicht, sondern werden zu einer Lösung der Konflikte verdichtet, von denen das Vorhergehende handelte. Der Bösewicht im Krimi wird gestellt, die Tragödie kulminiert in finalem Tod, Geister und Monster werden besiegt oder besänftigt, Familien finden wieder zueinander oder verlieren sich endgültig. Das Finale führt das Ende herbei, die Zeitgestalt der Geschichte wird geschlossen. Nun geschieht aber am Ende mancher Kinogeschichten etwas Eigenartiges: Auch wenn die Geschichte bis dahin normal-realistisches Spiel war, sind es immer wieder musikalisch untersetzte Szenen, ja sogar bühnenhaft entfaltete musikalische Aufführungen, die das Ende herbeiführen, die selbst das Ende sind oder die noch nach dem Ende der Geschichte Zeit geben, die hohe Spannung des eigentlichen Endes abzubauen, sie ausschwingen zu lassen oder einem finalen Affekt Raum zu geben (vor allem in Melodrama und Tragödie).

Das glückliche und das tragische Ende

In der Geschichte der Oper unterscheidet man zwei Arten, in denen die Geschichte auf der Bühne zu Ende geführt wird: das lieto fine (das versöhnliche Ende) und das tragico fine (das tragische Ende). Das lieto fine erscheint als ebenso natürliche wie notwendige Krönung des dramatischen Geschehens. Gerade in der Tradition der komischen Oper gilt: Die Figuren sind flach, die dramatischen Konflikte eindeutig und darum auch lösbar. Traditionellerweise kommt es am Ende zu einer Zuspitzung und Engführung der Handlung. Die Akteure des Spiels kommen idealerweise alle noch einmal auf der Bühne zusammen, sodass auch alle einzelnen Konflikte noch einmal manifestiert werden. Sodann kommt es zu einer oft sehr schnellen Lösung der Konflikte (als einer Art dramaturgischen Showdowns) und zum Übergang in eine Diegese jenseits der Handlung (gelegentlich zu Massenhochzeiten, zu grossen Festen o. ä.; operngeschichtlich spricht man dann auch vom «Ensemble-Finale»). Die Konventionalität dieser Enden ist ebenso durchsichtig wie ihre Fiktionalität – sie beugen sich der Anforderung des Genres, unterstreichen die komischen Elemente und akzentuieren am Schluss noch einmal den Tonfall der Leichtigkeit und der Versöhnlichkeit.

Ein bekanntes Beispiel aus der frühen Tonfilmgeschichte, das der Annahme, dass der Film Formelemente des Musiktheaters adaptiert, natürlich nahesteht, ist das Finale von Die drei von der Tankstelle (Wilhelm Thiele, D 1930), das die Konflikte noch einmal bündelt und in einer Art sechsminütigem «Lösungsrausch» auflöst, zu dem alle Beteiligten im Büro der Tankgesellschaft aufmarschieren: die junge Frau, die ihren Geliebten durch einen Einstellungsvertrag, der tatsächlich ein Ehevertrag war, in die Falle gelockt hatte, der nun unterschrieben werden soll; der Mann weigert sich, der Vater des Mädchens interveniert, will es mit dem Rohrstock züchtigen. In einer Art Polonaise folgen alle der jungen Frau, die vor ihrem Vater flieht, der sie mit dem Stock in der Hand verfolgt – bis der Mann, den sie ausgetrickst hatte, eingreift, ihr seine Liebe erklärt («Liebling, mein Herz lässt dich grüssen ...»). Auch die drei Freunde, deren Freundschaft durch die gemeinsamen Affinitäten zu der jungen Frau zerbrochen zu sein schien, versöhnen sich wieder («Ein Freund, ein guter Freund ...»). Und – in einer Nebenhandlung – kommt es endlich auch zur Heirat des Vaters der jungen Frau mit einer Freundin, eine Verbindung, die die Tochter bis dahin immer hintertrieben hatte. Dass am Ende das zentrale Paar auf die Kamera zulaufend aus der Kulisse heraustritt, bis sich hinter ihm ein Vorhang schliesst, verdeutlicht noch einmal die Fingiertheit des Geschehens (was aber der Wirkung kaum abträglich ist, vielmehr das Ende der Erzählung umso mehr herausstreicht).

Die Tradition des lieto fine ist in allen Phasen der Tonfilmgeschichte gebräuchlich. Ein sehr bekanntes neueres Beispiel ist Dirty Dancing (Emile Ardolino, USA 1987), das drei Konfliktlinien entfaltet: den Konflikt des Paares, das unterschiedlicher Herkunft ist und sich erst finden muss, den Generationenkonflikt der Protagonistin mit ihrem Vater und den Schulkonflikt über die Kontrolle darüber, wie das Abschlussfest gestaltet werden soll. Mit dem improvisierten Bühnenumbau und dem Paar, das auf der Bühne den Tanz beginnt, setzt die Finalsequenz ein, die mit dem Ende des Liedes ausklingt und in den Abspanntitel übergehen wird. Die dramaturgische Anklammerung des Finales an die Konfliktlinien des Stücks ist von Beginn an strikt beachtet:

— Auf der Bühne findet sich das Paar. Die Tanzbewegungen sind deutlich lesbar als adressiert an den anderen, als Verführungs- und Berührungsgesten, die nicht allein den Tanz umsetzen, sondern zudem beziehungskommunikative Zusatzqualitäten haben. Auch die Blicke unterstreichen die sozusagen «private» Bedeutung, die die Tanzenden füreinander in die Tanzbewegungen einfliessen lassen (sodass auch manche Bewegungen als orgiastische Bewegungen lesbar sind, die auf einen sublimierten und im Tanz symbolisierten Beischlaf hindeuten). Unterstützt wird diese erste Bedeutungsebene durch die Kamera – ein Teil der Kamerapositionen ist eindeutig dem Paar gewidmet, die Höhe dieser Einstellungen ist die Augenhöhe der Tanzenden.

— Dem steht von Beginn an eine zweite Kameraregion gegenüber, die aus der Sicht der Gäste im Saal das Bühnengeschehen registriert. Der dramatische Raum ist in eine klare Opposition von Bühne und Saal getrennt – allerdings drängen sich im Hintergrund des Saals Mitschüler, die den Takt der Musik aufnehmen, sich in den Rhythmus der Musik einschwingen; und auch an den Tischen finden sich immer mehr jüngere, später auch ältere Gäste, die nach der anfänglichen Irritation oder sogar Abwehr des Songs den Rhythmus aufnehmen. Eine ganze Serie von Aufnahmen, die einzelne Gästegruppen zeigen, unterstreicht den Prozess der situativen Anpassung, des Überhandneh­mens der Musik des Tanzes. Als der Protagonist die Bühne verlässt, wird die bis dahin klare Gliederung des Raums in Bühne und Saal aufgebrochen. Der Tänzer bewegt sich auf die Mitschüler im Hintergrund zu, die dann – in einer umgekehrten Bewegung (die an die choreografierten Gruppen in den Tanzszenen der West Side Story von Jerome Robbins und Robert Wise (USA 1961) erinnert) – in den Gang ausschwärmen, der von der Bühne zum Saal­ausgang führt und die Sitzreihen der Zuschauer trennt. Von nun an breitet sich der Impuls, sich in den Tanz einzugliedern, wie eine epidemische Bewegung auf das ganze Publikum aus. Dabei wird die Region der Kamerapositionen auf der Bühne aufgegeben.

— Bereits einige der Publikumsaufnahmen zeigten den Vater der Heldin mit seiner Familie, der mit eisigem Gesicht signalisiert, dass er die Provokation, die die Tochter vollzieht, versteht. Aber in der allgemeinen Begeisterung verändert sich auch seine Haltung, er akzeptiert das Tun der Tochter – die flüchtige Um­armung signalisiert den Umschwung.

Die Szene endet mit einer Rückfahrt auf den Saalausgang zu und zeigt noch einmal die tanzende Masse. Wie in einer letzten Rückerinnerung an das Paar, das nach allen Konflikten diese neue musikbezogene Harmonie von Eltern und Schülern ausgelöst hatte, wird es mit einem flüchtigen Spotlicht aus der Menge der Körper herausgehoben, als das Bild eine fast panoramatische Aufsicht auf das Gesamtgeschehen bietet. Die Geschichte ist so in einer furiosen Engführung der Einzelkonflikte zu Ende erzählt. Ganz im Rahmen der Dramaturgie des lieto fine sind so alle Konflikte des Dramas zu einem glücklichen Ende geführt – und zugleich ist das zentrale Paar noch einmal gegen die Masse aller anderen (heraus-) konturiert, als letztes formales Zeichen der Hervorhebung.

Unübersichtliche Intrigen, entflochtene Wirrnisse

In manchen Filmen ist das Geflecht der Intrigen noch komplizierter, es scheint die Handlung ganz zu dominieren. Ein Beispiel ist die Musical-Komödie Romance in the High Seas (aka: It’s Magic; Zaubernächte in Rio, Michael Curtiz, USA 1947), die von der Eifersucht des Ehepaares Kent erzählt – und einem Verwechslungsreigen, der am Ende in einem klassischen lieto fine aufgelöst wird: Zum dritten Hochzeitstag hatten die Kents bereits eine Seereise gebucht, als er – aus geschäftlichen Gründen – absagen muss. Sie glaubt nicht an geschäftliche Gründe, sondern vermutet eine andere Frau dahinter. Um ihren Mann in flagranti ertappen zu können, heuert sie eine junge Sängerin an, die an ihrer Stelle die Reise antreten soll; sie selbst bleibt heimlich in New York, um ihren Mann zu überwachen. Als ihr Mann wiederum erfährt, dass seine Frau die Reise allein machen will, vermutet er seinerseits einen anderen Mann im Spiel und engagiert einen Privatdetektiv, der seine Frau beschatten soll. Keiner von den Männern weiss, dass die falsche Mrs. Kent an Bord die Sängerin Georgia Garret ist (Doris Day in ihrer ersten grossen Rolle). Nun können die einzelnen Problem- oder Konfliktlinien ausgelegt werden:

— Während der Reise verlieben sich die Sängerin und der Detektiv. Keiner weiss vom anderen, dass er nicht der ist, der er zu sein vorgibt.

— Die Sängerin feiert unter falschem Namen an Bord so grosse Erfolge, dass sie ein Engagement in Rio bekommt, um in der Show eines erfolglosen Komponisten (gespielt von Oskar Levant) unter dem Namen der prominenten New Yorkerin Elvira Kent aufzutreten. Der Finanzier der Revue stimmt zu, weil er davon überzeugt ist, mit einer Frau aus der New Yorker Prominenz das Publikum neugierig machen zu können.

— Mrs. Kent hat in New York herausbekommen, dass ihr Mann treu und tatsächlich geschäftlicher Gründe wegen zurückgeblieben ist. Sie fliegt nach Rio, telegrafiert noch vorher, er solle sie in Rio treffen. Mr. Kent ist immer noch misstrauisch und beschliesst tatsächlich, mit einer Privatmaschine nach Rio zu fliegen, sodass er noch vor seiner Frau dort sein wird. In Rio entdeckt er nicht nur die Ankündigung der Revue mit seiner Frau, sondern gerät in ein Verwechslungsspiel hinein, in dessen Verlauf er selbst nicht mehr sicher zu sein glaubt, wer wer ist. Alles sei ein «Tohuwabohu», stöhnt einer der Beteiligten, ein liebenswürdiger Onkel der Mrs. Kent, der das falsche Spiel kannte und lange mitgetragen hat – die Knoten sind nun geschürzt.

Erst mit dem finalen Konzert lassen sich die Intrigen lösen: Es beginnt mit einer Aufnahme auf eine kleine Rumba-Tanzinszenierung. Aus einer hohen Raumtotale sieht man die Revuegirls, die grosse Bündel knallbunter Luftballone halten. Der Auftritt der «Mrs. Elvira Kent» soll beginnen. Beide Frauen – die echte und die falsche – nähern sich der Bühne, die eine in ein schwarzes, die andere in ein weisses Abendkleid gehüllt, die Katastrophe scheint programmiert. Erst als die «richtige» Frau Kent als erste am Ort der Sängerin auftaucht, klärt sie die Identität der anderen Frau auf, die nun ins Rampenlicht tritt und dort das (später Oscar-nominierte) It’s Magic anstimmt, das von begeistertem Applaus abgeschlossen wird (Text des Liedes: Sammy Cahn, Komponist: Jule Styne). Für ihren Komponisten ist es ein grosser Erfolg geworden. Nach dem Auftritt kann die Sängerin auch noch ihren Privatdetektiv umarmen. Hier – wie auch in anderen Beispielen des lieto fine – sind es die Reaction Shots auf Einzelne, die die Massenszene an die Konfliktstruktur rückbinden (hier die Grossaufnahmen des Detektivs und des Komponisten insbesondere). Anders als in den anderen Beispielen steht keine Heraushebung des zentralen Paars, sondern das Geschehen geht in ein kollektives, orgiastisch anmutendes Fest über: Der Auftritt von Elvira Kent alias Georgia Garret mündet unmerklich in eine begeistert durchgeführte Polonaise, an der Gäste ebenso wie die Revuetänzerinnen des Theaters teilnehmen; die Kamera fährt dabei diagonal bis in die Höhe der Raumtotale, bunte Luftballons schweben über den zum ausgelassenen Rhythmus der Rumba-Tanzenden.

Lieto fine, erfreuliches Ende: Die dramaturgische Strategie, eine Geschichte versöhnlich ausklingen zu lassen, auch wenn alle Wahrscheinlichkeit der Handlung dafür ausser Geltung gesetzt werden muss, findet sich nicht nur in Geschichten, die dem Musiktheater nahestehen. Liverpool, Anfang der 1980er Jahre, eine abgewirtschaftete Music Hall, die der junge Manager retten will, indem er einen Sänger zum Wiederauftritt bewegt, einen legendären irischen Tenor, der nach einer Steueraffäre vor 25 Jahren in Irland untertauchte und seitdem keine Bühne mehr betreten hat. Ein Double ist bei ausverkauftem Haus schnell entlarvt, die Investoren springen ab, der Bankrott scheint unabwendbar – als sich der Manager mit einem Freund in Irland auf die Suche macht. Die Rede ist von Hear my Song (GB 1991, Peter Chelsom), der seine Geschichte bis in die Tiefen des Versagens ausführt, als es den Freunden aber doch noch gelingt, den Tenor auf einer Viehauktion aufzustöbern, sein Vertrauen zu gewinnen und ihn zu einem Comeback in Liverpool zu überreden. Joe Locke, der Tenor, wird nicht nur mit der Steuerbehörde konfrontiert werden, sondern auch seine damalige Geliebte wiedersehen, die er einst schmählich verlassen hatte. Die Music Hall ist zu einer Ruine heruntergekommen, als doch noch das Konzert angekündigt wird, draussen stehen bereits die Bagger mit den Abrissbirnen bereit. Das Haus ist ausverkauft, es sind vor allem Zuschauerinnen, die angetreten zu sein scheinen, dem Schwarm ihrer Jugend Tribut zu zollen. Und auch die Polizei nimmt ihre Positionen ein, Locke wird das Gebäude nicht verlassen können. Doch im Schlusslied des Konzerts schwingt von oben eine riesige Abrissbirne durch das Dach auf die Bühne, Locke besteigt sie, entschwebt durch das nun zerstörte Dach der Halle, die letzten Töne des finalen Liedes singend, begleitet von frenetischem Jubel seiner Fans und irritierten Blicken der Polizisten, die aus der Halle ins Freie stürmen. Draussen können sie Locke verhaften. Was sie noch nicht ahnen: Es ist der falsche Locke, der Doppelgänger, der einmal in seinem Namen aufgetreten war; er hat mit dem wahren Locke auf dem Dach den Platz getauscht.

Auch dieses Ende ist als musikalische Performance realisiert. Und es ist ein erfreuliches Ausschwingen der Handlung – der Held wird gerettet, und mit seiner einstigen Geliebten ist er vereint; zudem hat der junge Manager gezeigt, dass die Music Hall als Publikumsmagnet immer noch funktioniert. Doch dieser Schluss ist melancholisch zugleich, weil er das Ende der Music-Hall-Kultur inszeniert, einen heute aus der Mode gekommenen musikalischen Stil noch einmal als Musik der Massen wieder aufleben lässt und die Listigkeit derjenigen feiert, die an der sozialen und ästhetischen Bedeutung der Music Hall festhalten. Es ist nicht nur ein Happy End, sondern öffnet sich zu einer viel weiteren Emotionalität, greift aus auf die Vergänglichkeit der Vergnügungskulturen und ihre tiefe biografische Bedeutung, die sie für manche im Publikum hat.

Finale Anrührungen

Am Ende kehrt Ruhe ein. Die treibende Kraft der Narration, die fortwährendes Voranschreiten von einem Geschehen zum nächsten fordert, wird ausgesetzt, weil die Konflikte, die das alles in Gang gesetzt haben, sich auflösen und weil damit die Zeit in einen Zustand gedehnter Gegenwart übergeht. Gerade das finale Fest fordert kein Danach mehr, die weitere Entwicklung bleibt diffus und verschwommen. Für den Zuschauer wird es Zeit, sich von seinem narrativ gestützten «Engagement der Erwartungen» zu verabschieden, er kann Distanz gewinnen, resümieren, ausschwingen lassen, was sich an Anrührungen durch den Gang der Handlung aufgebaut hat. Manchmal gar tritt die Emotionalität des Schlusses vor alle anderen dramaturgischen Funktionen, die Film-Enden haben können. Man könnte dann fast von einem finale sensitivo sprechen, als einer Abschattung des heiteren Endes. In Stanley’s Gig (Marc Lazard, USA 2000) will ein chancen- und perspektivloser Ukulele-Spieler für und mit einer schwarzen Jazzsängerin, die er in einem Altersheim kennengelernt hat und die seit dem Tod ihres Mannes am Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gesungen hat, in einem seit langem geschlossenen schwarzen Blues- und Jazzclub ein Konzert geben. Doch die Sängerin kollabiert während einer Probe, der Sänger muss allein auftreten (und bekommt einen Job auf einem Kreuzfahrtschiff – die glückliche Wendung, die auch zum Film gehört und die Melancholie des zweiten Endes umso mehr unterstreicht). Die Sängerin stirbt, während das Konzert noch läuft; der Film zeigt sie, wie sie in einen Song einstimmt, der an ganz anderem Ort gesungen wird – und der Film wechselt sogar die Zeitstufe, zeigt die Sängerin als junge Frau, konzentriert sich ganz auf sie. Das Konzert wird zum Übergang in eine Bildfolge, die auch in der sich nun ausbreitenden, sentimentalen Zuschaueremotion die Geschichte verlässt, eine andere Haltung zu den Figuren einnimmt. Aber das Konzert bildet weiterhin den zeitlichen Rahmen, in dem die Frau stirbt.

Eine nochmals andere Wendung nimmt der schwedische Film Så som i himmelen (Wie im Himmel, Kay Pollak, S 2004), dessen Protagonist ein schwedischer Dirigent ist, der nach einem Herzinfarkt seine Karriere aufgibt und in das nordschwedische Dorf zurückgeht, in dem er aufwuchs. Auf Drängen eines Jugendfreundes nimmt er die Kantorenstelle in der örtlichen Kirche ein und übernimmt den kleinen Chor, eine Sammlung von Aussenseitern, gebrochenen Seelen, Opfern ehelicher Gewalt – und einer jungen Frau, die zur letzten grossen Liebe des Helden werden wird. Es kommt zum Bruch mit der Kirchenleitung, doch steht der Chor inzwischen so solidarisch zu seinem Leiter, dass die Proben als private Treffen weitergeführt werden. Als wolle er die Intensität der Beziehungen im Chor noch weiter fördern, meldet einer die Gruppe zu einem europäischen Wettbewerb der Chöre an. Der Dirigent zögert kurz, stimmt dann aber zu, die Gruppe fährt mit dem Bus nach Innsbruck. In der Nacht vor dem Auftritt kann er auch der Frau gestehen, dass er sie liebt. Am nächsten Morgen fährt er mit dem Fahrrad durch die Stadt, vergisst dabei fast den Auftritt, kommt im letzten Moment an – und erleidet einen Herzinfarkt. Der Chor beginnt zu improvisieren, ein schwebender vielstimmiger Klangteppich entsteht, in den auch die anderen Chöre einstimmen, die sich erhoben haben. Vom gleichzeitigen Sterben des Helden auf einer Toilette des Hauses wissen sie nichts: Das ist eine Parallele, die nur für den Zuschauer im Kino zugänglich ist.

Mag diese Konstellation des sterbenden Helden und der Gruppe, die sich bedingungslos mit ihm solidarisiert hat und die durch ihren Kantor zu jener Not- und Trostgemeinschaft geworden ist, die den Einzelnen Schutz bieten kann, allein schon Grund genug für eine tiefe sentimentale Reaktion des Zuschauers sein, so scheint das Einschwingen aller im Saal in den gemeinsamen Klang eine Dialogzeile aufzunehmen und musikalisch-szenisch auszuführen, die kurz vorher vom Helden geäussert worden war, mit der auch die biografische Krise, die er bewältigen musste, zu Ende geführt wird: Er habe seinen Traum gefunden, gesteht er einem alten Freund, es gehe darum, die Herzen der Menschen durch Musik zu verbinden, sie zu tiefem inneren und sozialen Frieden anzuleiten. Doch die Musik des Endes ist nicht nur lebendiger Beweis kollektiver Vereinigung (und musikalische Utopie eines umfassenden sozialen Friedens), sondern zugleich auch eine Art Requiem für den Helden, der selbst nicht mehr teilnehmen kann.

Eine allgemein-allegorische Bedeutung wie in der Operngeschichte haben diese Schlüsse nicht mehr, auch wenn an ihnen fast immer ein (allerdings oft nur unklarer oder verdeckter) sozialutopischer Impuls abzulesen ist. War das lieto fine noch im barocken Musiktheater Zeichen einer Apotheose der Mächte der Vorsehung und einer grundlegenden Versöhnung der Handelnden mit sich und der Welt, eine Hinwendung zu einer Harmonie, die die Ordnung der Welt wiederherstellt, so wandert diese Dramaturgie der Finalisierung im 18. und 19. Jahrhundert in die komödiantischen Erzählformen des Musiktheaters (insbesondere in die Operette) ab.

Allerdings deuten die filmischen Beispiele nicht nur auf die opern- und operettengeschichtliche Formtradition hin (am deutlichsten in Die Drei von der Tankstelle, der ja sogar als Tonfilmoperette gilt), sondern auch auf einen grundlegenden Unterschied zweier Formen des lieto fine: Im Falle der Massenhochzeiten werden die einzelnen Figuren in den Stand versetzt, sich in der nicht weiter ausgeführten Fortsetzung des Geschehens ihres individuellen und privaten Glücks bedienen zu können. Die Ordnung eines bürgerlichen Normal­lebens wird wiederhergestellt. In den Fällen der sentimentalischen Enden werden dagegen die einzelnen Figuren ganz aus dem Zusammenhang der Handlung und der dargestellten Sozialwelt herausgeschält, ihr biografischer Kontext tritt zurück, die Zusammenschau ihres Lebens kann zum Objekt der Reflexion oder der mitfühlenden Trauer werden. Eine soziale Ordnung, die die Lebensgrundlage für Zukünftiges werden kann, oder eine Individualisierung, die nicht nur die Geschichte, sondern auch die Figur finalisiert, sind nicht mehr im Spiel. Die beiden Spielarten des lieto fine stehen in dieser Hinsicht einander diametral gegenüber, auch wenn sie gemeinsam auf der Aussetzung der Konflikte und auf dem Übergang der Zeit der Erzählung in eine andere Form beruhen.

Viele der Beispiele vertrauen darauf, dass sich die Lösung am Ende auch dann als glücklich erweist, wenn dazu das Register der Erzählung gewechselt werden muss. Es mag der musikalische Vollzug sein, der auch solche Konflikte mildert oder sogar aufhebt, die unlösbar schienen. Man mag diesen Schlüssen anlasten, dass sie den Realismus der Erzählung aussetzen: Das Geschehen nimmt eine Wendung ins Märchenhafte, die Erzählinstanz greift ein, um das Geschehen zu einem gütlichen Ende zu bringen. Das Fiktionale wird greifbar, die ästhetische Distanz zum Zuschauer erhöht (auch wenn sich paradoxerweise dadurch die Intensität seiner emotionalen Anrührung steigt). Die Filme nutzen die Differenz der Register und schwenken sie vom einen in das andere, muss der Zuschauer seine Beziehung zur Erzählung neu sortieren. Die Beispiele deuten darauf hin, dass er die Bindung, die sich auf die Erzählung selbst richtet, lockert, in einen anderen, zweiten und wesentlich fiktionaleren Modus der Anteilnahme umschaltet. Hier bedarf es keines Deus ex Machina, keiner Erzählinstanz, die an Drähten aufgehängt in die fingierte Welt eingreift – hier ist es der Modus der Repräsentation selbst, der signalisiert: Hier ist’s zu Ende, und ’s ist gut gewesen!

Den Formen des glücklichen Endes steht das heroische zur Seite, wenn die siegreichen Truppen zurück in die Stadt kommen und mit einem Siegesmarsch gefeiert werden. Doch davon war hier nicht die Rede.

Anmerkung

So prominent die an den oben gegebenen Beispielen durchdeklinierte Dramaturgie auch ist, Geschichten mit musikalischen Szenen ausklingen zu lassen, die ihrerseits wieder an die Formengeschichte des lieto fine im Musiktheater rückerinnern, so wenig ist darüber bis heute nachgedacht worden. Auf eine Auseinandersetzung mit der schmalen Literatur aus der Operngeschichte habe ich hier ebenso verzichtet wie auf die Untersuchungen zum Spielfilmende. Verwiesen sei explizit auf Thomas Christen, Das Ende im Spielfilm: Vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen, Marburg 2002, bes. S. 94 ff. (Zürcher Filmstudien 7), der auf die vielen Schlüssen innewohnende Selbstreflexivität hinweist. Erwähnung verdient auch Catherine Russel, Narrative Mortality: Death, Closure, and New Wave Cinemas. Minneapolis 1995, S. 192 ff., die auf das manchen zynisch anmutende Ende von Robert Altmans Nashville (USA 1975) eingeht, das mit einem Zusammenbruch der offiziellen Fassade des finalen Festes einsetzt und von dem Song It Don’t Worry Me überlagert wird. Zum musikalischen Filmschluss vgl. meinen eigenen Artikel: «Über das Ende der Erzählung hinaus [...] Filmmusik und die Finalisierung von Texten», in: Archiv für Musikwissenschaft 70/1, 2013, S. 1–16. Zur musikhistorischen Analyse des lieto fine vgl. neben den Beiträgen in dem Sammelband von Ursula Kramer (Hg.), Lieto fine? Musik-theatralische Schlussgestaltung um 1800 [...], Tübingen 2009 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 40), auch John Platoff: «Musical and Dramatic Structure in the Opera Buffa», in: The Journal of Musicology 7/2, Spring 1989, S. 191–230.

Für seine kritischen Hinweise zum Text danke ich Jürg Stenzl.

Hans J. Wulff
Professor für Medienwissenschaft an der Universität Kiel. Zahl­reiche Veröffentlichungen zur Film- und Fernsehtheorie und zur Populär­kultur. Autor von Psychiatrie im Film (1995), Darstellen und Mitteilen (1999), u.a. Mitherausgeber von Montage/AV. Lebt und arbeitet in Kiel und Western­kappeln.
(Stand: 2018)
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