ULRIKE HANSTEIN

ZERFALLENDE ZUKUNFT — MELANCHOLIA ODER DAS PATHOS DES ZEITERLEBENS

ESSAY

An einem kühlen Spätnachmittag kollidiert der Planet Melancholia mit der Erde und beendet alles Leben ein für allemal. Lars von Triers Film Melancholia (DK 2011) läuft unaufhaltsam auf diese kosmische Katastrophe zu. Für die Figuren geht die Geschichte böse aus. Bei einem Film von Triers ist auch nichts anderes zu erwarten. Mit Melancholia entwirft der Regisseur imposante Bilder vom Ende der Welt. Dabei setzen der Verlauf der Geschichte und der ausweglose Plot die Zeiterfahrung der Zuschauer unter besondere Bedingungen: Die dargestellte Zeit und die Zeit der Darstellung erscheinen als rettungslos vergehende, der Vernichtung entgegendrängende Zeit. Die Dauer des Filmerlebens wird zum spannungsvollen Aufschub in Erwartung des katastrophalen Endes, das sich weit im Voraus ankündigt, sich für ein paar spektakuläre Augenblicke hinzieht und schliesslich den Film abrupt zum Abschluss bringt, zum Abbruch zwingt. Nach der Katastrophe bleibt nichts mehr zu erzählen. Die Figuren sind tot. Der Schauplatz ist vernichtet. Die Bilder des Films blenden ins Schwarz.

Mit diesem exzessiven Schluss verabschiedet der Film die zukunftsorientierten happy endings des klassischen Kinos. Er setzt sich auch von den offenen Enden des modernen Kinos ab. Dort weisen die unabgeschlossenen Aktionen und sichtbaren Bewegungen der Figuren häufig über die Ränder des Films hinaus – so, als endeten lediglich die Bilder des Films, und die Geschichte der Figuren ginge unbeobachtet weiter. Bei aller Verschiedenheit von Genres und Darstellungsweisen sind Filmenden immer autoritäre Gesten. Sie unterwerfen alles Vorangegangene ihrer finalen Bedeutungsstiftung. Sie schaffen eine geschlossene narrative Einheit und setzen die fiktionale Welt, ihre Bilder und Töne, in ein bestimmtes Verhältnis zur Wirklichkeit, zur Welt nach dem Film und ausserhalb des Kinos.

In Melancholia zeichnen der angekündigte Untergang und der zerstörerische Schluss die Erfahrung einer unveränderlichen, zukunftslosen und geschlossenen Zeit vor. Meine Betrachtung von Melancholia stellt das Ende an den Anfang und wendet sich den Erscheinungsweisen und Eindrücken dieser filmischen Endzeit zu. Die Zeitdarstellung und die zeitliche Form der Bilder möchte ich unter drei Gesichtspunkten erhellen. Zunächst soll es um das melancholische Erleben eines Ausgeliefertseins an eine zerfallende, unlebendige und zukunftslose Zeit gehen. In einem zweiten Schritt werde ich zeigen, dass die planetarischen Bilder in Melancholia den Zeithorizont und das Zeitbewusstsein der Figuren überschreiten. Genauer zu bestimmen sind dabei die unvermittelten Wechsel zwischen figurengebundenen (subjektiven) und kosmologischen (objektiven) Perspektiven auf die Zeit. In einem dritten Schritt möchte ich offenlegen, dass die Zeitbezüge der Bildfolgen und die Zeitsprünge der Montage die besondere Zeitlichkeit des Mediums Film vor Augen stellen. In Melancholia erscheinen mit der in der Zeit dynamisch veränderlichen Form der filmischen Bilder Konfigurationen, in denen jeweils bestimmte Beziehungen zwischen gerichtet voranschreitender, vergehender und begrenzter Zeit auffällig werden.

An der Zeit leiden

Der Filmtitel Melancholia spricht eine besondere Erfahrung der Zeit an. Er benennt einen Zustand des Leidens an einer verlorenen Zeit. Genauer lässt sich die Verfassung der Melancholie als eine schmerzlich erlebte Stimmung kennzeichnen, die von einem nicht bewältigten Verlust in der Vergangenheit herrührt, der die Gegenwart noch immer bestimmt. Mit Blick auf die Handlung des Films steht der Titel Melancholia einerseits für den gleichnamigen Planeten, der sich der Erde nähert und somit die Entscheidungen und Geschehnisse der Erzählung vorantreibt. Andererseits verweist der Titel auf ein Drama der Zeit, das von der depressiven Handlungsohnmacht der Hauptfigur Justine (Kirsten Dunst) seinen Ausgang nimmt. Meine nachfolgende Betrachtung und Deutung des melancholischen Leidens an der Zeit zielt nicht darauf ab, eine pathologisierende Erklärung für den mentalen Zustand der Hauptfigur vorzustellen. Vielmehr geht es mir um das Pathos – das passive Erleiden – eines in der Zeit zerfallenden Selbst, das die gesamte Erscheinungsweise der filmischen Welt überformt.

Im Rückgang auf Michael Theunissens negative Konzeption der Zeit lässt sich die Auffassung einer Erlebnisweise der Zeit als Widerfahrnis und passives Erleiden eingehender begründen. Für Theunissen stellt sich die Frage, wie und in welcher Hinsicht die Erfüllung oder das Scheitern einer selbstbestimmten Existenz von unserer Aufmerksamkeit gegenüber der Zeit abhängt bzw. durch unsere individuellen Umgangsweisen mit der Zeit bestimmt wird. Gemäss dieser Auffassung wird die lineare objektive Zeit, die Individuen vorfinden, als etwas verstanden, das durch die zeitliche Selbsterfüllung des Subjekts modifiziert wird. Das Subjekt vermag die objektive lineare Zeit in die Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufzuspannen. Theunissen zufolge kann diese subjektive Transformation der Zeit gelingen, wenn das Individuum mit ungeteilter Aufmerksamkeit in bewussten Vollzügen die Zeit verwirklicht. Diese aktive Realisierung von Subjektivität bedeutet für Theunissen, dass die Erfüllung der Zeit und die Verwirklichung des Selbst zwei Dimensionen des gleichen Prozesses sind. Die praktische Anstrengung, den eigenen Entwurf einer Existenzweise umzusetzen, ermögliche eine vorausschauende Beziehung zur offenen eigenen Zukunft, die nicht durch konkrete Bedürfnisse und Pläne vorherbestimmt sei.

In seinem Buch Negative Theologie der Zeit geht Theunissen von der Annahme aus, dass die subjektive Zusammenführung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enge Verbindungen zwischen objektiver und subjektiver Zeit knüpft.1 Um den weiten Spielraum menschlicher Zeiterfahrung vorzustellen, befasst sich Theunissen eingehender mit Formen eines leidvollen Zeiterlebens, das der individuellen Unfähigkeit, sich Zeit in bedeutungsvoller Weise anzueignen, entspringt. Theunissen greift in seiner Argumentation auf psychopathologische Studien zu Depression und Schizophrenie zurück, unter anderem von Viktor Emil von Gelbsattel, Erwin Straus und Eugène Minkowski. Während diese Arbeiten aus der Beschreibung von Syndromen zu einer diagnostischen Erklärung übergehen, verfolgt Theunissen in seinen Lektüren der in den klinischen Schriften aufgenommenen Patientenberichte ein anderes Ziel. Er sucht offenzulegen, in welcher Weise die depressiven Patienten ihrem Leiden an einer veränderten Erlebnisweise der persönlichen Zeit Ausdruck geben. So stellt Theunissen als ein wiederkehrendes Thema der Berichte den Zwang heraus, die Zeit als vergehende zu denken. Beherrschend seien die Auffassung der Zeit als ein Vorübergehen, das der eigenen Kontrolle entzogen ist, und das Erleben der Zeit als unaufhaltsame Bewegung, durch die alles Gegenwärtige Vergangenheit wird. Theunissen zufolge gibt die sich darin artikulierende Angst vor der entgleitenden Zeit zwei Vorstellungen zu erkennen. Erstens drücke sich in der Angst vor der Zeit die Angst vor dem eigenen Tod aus und die Angst davor, dass alles, was in der Zeit existiert, verlöscht. Zweitens gehe es um die angstvoll erlebte, entgegengesetzte Vorstellung einer ewig andauernden, stehenden Zeit, die keine Veränderung kennt und an kein Ende gelangt. Theunissen erklärt den melancholischen Zerfall der Bindung zwischen objektiver und subjektiver Zeit als scheiternde Integration der objektiven Zeit in die persönlichen dynamischen Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Unfähigkeit, mit Ereignisfolgen Schritt zu halten und zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem zu unterscheiden – so Theunissen –, führt zu einer Fragmentierung der Zeit in unveränderliche, monotone, nicht voneinander unterscheidbare Einheiten. Der Zusammenbruch einer wechselseitig aufeinander bezogenen Relation zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft münde in das Erleben einer bedeutungslosen Jetztzeit, die nicht mehr als Element eines umfassenderen zeitlichen Zusammenhangs erlebt werde. Folglich könne das melancholische Subjekt keine neuen (handlungsbezogenen, wertenden oder emo­tionalen) Haltungen gegenüber der Vergangenheit aus seiner gegenwärtigen Position heraus einnehmen.

Wie Theunissen darlegt, versperrt diese Vorherrschaft einer unveränderlichen Vergangenheit über die Gegenwart auch die Möglichkeit, Entwürfe und Pläne für die Zukunft zu entwickeln. Daher erscheine die Zukunft als von der Vergangenheit vorherbestimmt und auf eine endlose Wiederkehr des Gleichen reduziert. Theunissen kommt zu der Einschätzung, dass in der melancholischen Erfahrung der Zeit die dimensionale Ordnung der Zeit auf die Vergangenheit zusammenschrumpft, die vom Selbst abgetrennt bleibt und dem Subjekt aus der Zukunft entgegenzukommen scheint. Um diese Unmöglichkeit einer Öffnung auf eine noch unbestimmte Zukunft zu verdeutlichen, zitiert Theunissen aus den Berichten von Patienten Aussagen wie: «Ich fühlte mich [...] wie zurückgesetzt, als ob Etwas, das vergangen sei, gewissermassen auf mich zu­käme»2 oder: «The future looks cold and bleak, and I seem frozen in time.»3

Theunissen hebt hervor, dass das melancholische Zeitbewusstsein durch eine affektentleerte und beschränkte Zukunft gekennzeichnet ist. Diese stehe dem praktischen Handlungs- oder Veränderungswillen des Subjekts unzugänglich entgegen. Die Gegenwart erscheine dem Subjekt nur als andauernder Beweis zwar vergangener, doch unerledigter Geschehnisse, die mit starken Schuldgefühlen verbunden seien. Folglich sei die Zukunftsorientierung des Subjekts durch die Vergangenheit vorgezeichnet und beschränke sich auf die Erwartung einer ewigen Bestrafung. Theunissens Darstellung des melancholischen Zeiterlebens misst dem Zusammenbruch der Zeitdimensionen in der Negativität der Vergangenheit eine besondere Bedeutung bei.

Theunissens Ausarbeitungen zur Pathologie des Zeiterlebens betonen das Leiden an und in der Zeit. Die Zeit, so Theunissens Beschreibung, erscheint dem melancholischen Bewusstseins in Form des Verlusts der subjektiven Zeit und daher als Zerfall des Selbst in die lineare, objektive Weltzeit. Sein Konzept der negativen Zeit legt nahe, dass die Verwirklichung unseres Selbst auch Formen des Pathos, der Passivität oder des Ausgeliefertseins an die lineare Zeit an­nehmen kann.

Aus der Zeit fallen

Die Erzählung von Melancholia verknüpft auf irritierende Weise die menschliche Handlungswelt, ihre begrenzten Schauplätze und Zeitmasse, mit der überaus grossen Zeit- und Bewegungsordnung der Planeten. Mit den Bildern von Erdlingen und Himmelskörpern treten unvereinbare Grössenordnungen und gegensätzliche Zeitvorstellungen nebeneinander. Von Triers filmisches Universum setzt eine Frage in Szene, die am Anfang des philosophischen Nachdenkens über die Zeit steht – nämlich, ob Zeit ein an sich seiendes, an die Planetenbewegungen gebundenes, objektives Geschehen ist oder eine subjektive Struktur, die einer zählenden Seele bzw. einem individuellen Bewusstsein entspringt.

Die Bilder in Melancholia deuten den Zusammenhang zwischen objektiver und persönlicher Zeit im Sinne eines melancholischen, zukunftslosen Zeiterlebens. Die Darstellung des Zerfalls der Zeit kann dabei nicht einfach als ein Effekt von figurengebundenen Wahrnehmungsperspektiven beschrieben werden. Vielmehr wird durch den Zusammenbruch von Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen objektiven (kosmologischen) und subjektiven (endlichen) Perspektiven auf die Zeit der gesamte Film als melancholisch fragmentierte Zeit erfahrbar. Der von Theunissen beschriebene melancholische Zerfall der Zeitdimensionen lässt sich anhand des Plots, der Zeitbezüge und Tempi der Bilder und anhand der trennenden Montage eingehender bestimmen.

Von Triers Film beginnt mit einer halluzinatorischen pre-title sequence. Die malerisch leuchtenden Bilder des Prologs pulsieren in extremer Zeitlupe. Sie werden nur zögernd als Bilder von Bewegungen und als sich verändernde Bilder wahrnehmbar. Zu der fast erliegenden Bewegungsillusion der Bilder ertönt berückende spätromantische Musik. Zu hören ist Richard Wagners Vorspiel aus dem ersten Akt von Tristan und Isolde. Die musikalische Form bindet die sichtbaren Szenen an die Zeit vor der Erfindung des Kinos zurück. Die Ikonographie spielt auf noch deutlich ältere Darstellungsweisen an: auf Porträts humanistischer Gelehrter. So erinnert der Bildaufbau einzelner Einstellungen an Renaissance-Malerei, wie beispielsweise Lucas Cranachs d. Ä. Bildnis des Dr. Johannes Cuspinian (1502/03) (Abb. 1). Bei Cranach weisen bestimmte Attribute der Landschaft die abgebildete Person als eine unter dem kalten Planeten Saturn geborene aus und bezeichnen sie somit als einen melancholischen und kontemplativen Charakter. Die Anspielung des Films auf eine ikonographische Tradition, die ein humoralpathologisches Wissen vom menschlichen Körper mit einem horoskopischen Charakterbild verbindet, wird in Melancholia verstärkt durch das hochgradig künstliche Arrangement von Figuren und Hintergrundlandschaften. Das mit den einzelnen Einstellungen dargebotene Ensemble von Figur und Umraum erscheint nicht als fotografisch-realistischer Ausschnitt aus einem kontinuierlichen Zusammenhang (Abb. 2–3). Vielmehr wirken die Bilder aus ungleichartigen Elementen tricktechnisch zusammengefügt. Der Prolog von Melancholia zeigt in einer Serie von statischen, sich intern verändernden Einstellungen Personen, sterbende Tiere, die von Kratern zerklüfteten Oberflächen von Planeten, ein unbelebtes Interieur, eine Sonnenuhr im Park, die ebene Wiese eines Golfplatzes und einen Wald. Zudem lässt die Folge der Bilder unterschiedliche Jahreszeiten, Wetterbedingungen, elektrische Phänomene der Atmosphäre, Nordlichter und verschiedene Positionen der Sonne, des Mondes und des Planeten Melancholia sehen. Die extreme Zeitlupe treibt alle Bewegung an die Grenze des Erstarrens. Dadurch scheint die körperliche Bindung der Figuren an den Raum aufgehoben und ihre lebendige Beziehung zur Zeit erloschen.

Die ersten Eindrücke der filmischen Welt verkehren die Richtung der Zeit: Die voranschreitende Abfolge der Einstellungen gibt eine Vorschau auf den zukünftigen Untergang. Der Prolog greift aber auch zurück auf den überlieferten Bildbestand der Filmgeschichte. Durch ihr Motiv und ihre Komposition erscheinen einzelne Einstellungen als Wiederaufnahmen der bekanntesten «Zeit-Bilder» des modernen Kinos, aus Alain Resnais’ L’année dernière à Marienbad (F/I 1961), Andrej Tarkowskijs Solaris (UdSSR 1972) und Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (GB/USA 1968). Der Prolog überschreitet die konventionellen Formen, mit denen am Filmanfang die Zeit, der Schauplatz und die Figuren der Erzählung eingeführt werden. Die Bilder scheinen zugleich der Vergangenheit anzuhängen und der Zukunft zu entstammen. Die Einstellungen weisen den Figuren bestimmte Schauplätze zu. Dennoch bleiben die Beziehungen der Figuren zueinander und die umfassende räumliche Ordnung des Sichtbaren unverständlich. Die Bildschnitte stiften keine Verbindungen, sondern halten die Orte und Figuren auf Abstand.

Die Eröffnung des Films nimmt die Kollision des Planeten Melancholia mit der Erde vorweg. Bevor die Geschichte überhaupt beginnt, ist die Katastrophe schon geschehen. Schliesslich werden die Zuschauer die finale Zerstörung mit den Figuren noch einmal – und noch einmal anders – erleben. Der Plot ordnet das Geschehen in einer kreisförmigen Zeitstruktur. Der Film beginnt mit dem Tod der Figuren und die sich entwickelnde Erzählung wird zu diesem Punkt der Erzählung zurückkehren. Während der Prolog die menschliche Wahrnehmung überschreitende Blicke aus dem Weltall vorstellt, dramatisieren die folgenden beiden Teile des Films die Veränderungen des Himmels aus einer erd- und figurengebundenen Perspektive. Im Zentrum der beiden an den Prolog anschliessenden langen Rückblenden stehen die Schwestern Justine und Claire (Charlotte Gainsbourg). Der erste Teil des Films zeigt überwiegend in unruhigen Handkamera-Aufnahmen das Hochzeitsfest von Justine und Mi­chael (Alexander Skarsgård). Die Feier endet für Justine in Zerwürfnissen und Enttäuschungen. Am Ende der Nacht hat sie ihre Arbeit hingeworfen und den Ehemann aufgegeben. Das einzige, was (wieder) da ist, ist die Lähmung, die Leere, die Depression. Der zweite Teil des Films – durch einen Zwischentitel und ein anderes Farbschema deutlich abgehoben – zeigt nach der gescheiterten Hochzeit das Zusammenleben von Justine, Claire, deren Mann John (Kiefer Sutherland) und ihrem Sohn Leo (Cameron Spurr). Ihr sorgenfreies Leben auf dem weitläufigen Landsitz wird getrübt durch Justines schwere Melancholie und die beängstigenden wissenschaftlichen Prognosen zur Flugbahn des Planeten Melancholia. Ob Melancholia tatsächlich mit der Erde kollidieren wird und wie man das Ende etwas schöner machen kann, sind die Ängste und Wünsche, die Claire antreiben. Justine hingegen gewinnt angesichts des sich nähernden Planeten an Tatkraft und Klarsicht. Ängste und Wünsche kennt sie nicht mehr. Der Planet Melancholia und die Gestimmtheit von Justine scheinen durch uneindeutige Anziehungskräfte aufeinander einzuwirken. Die Betrachtung des Nachthimmels und die Blickachsen der Figuren verstärken die Korrespondenzen zwischen der Mikro- und der Makroebene der Handlung. In der dreizehnten Filmminute hebt Justine ihren Blick zum Himmel und bemerkt in der einsetzenden Dämmerung einen rot leuchtenden, unbekannten Stern. Später betrachten die Figuren die sich verändernden Positionen der Himmelskörper durch ein Teleskop. Point-of-View-Einstellungen präsentieren die Beobachtung des Himmels mit einem von Leo selbstgebastelten Instrument, das die Entfernung des Planeten Melancholia anzuzeigen vermag. Zudem zitieren die Bilder wiederholt Objekte, Schauplätze und Situationen, die im Prolog zu sehen waren. Dadurch wird die Aufmerksamkeit der Zuschauer immer wieder auf die begrenzte verbleibende Zeit gelenkt und die spannungsvolle Erwartung des angekündigten Endes wird gesteigert. Auf der Tonspur unterstützt die Wiederholung von Motiven aus Wagners Vorspiel die Erinnerung an das schon Gesehene.

In Melancholia übersteigt die kosmologische Vorstellung der Zeit die erlebte Zeiterfahrung der Figuren. Für die Zuschauer sind der Zeithorizont und die mögliche Zukunft der Figuren begrenzt. Das Ende – so wissen die Zuschauer durch den Prolog – ist greifbar nahe. Der Plot negiert durch die Zusammenfaltung von Anfang und Ende die Zeit. Die wiederkehrenden Bilder des Prologs unterbrechen die voranschreitende Handlung, sie rufen die Eindrücke der Zuschauer von der endgültigen Katastrophe auf und begrenzen dadurch die Imaginationen einer möglichen Zukunft der fiktionalen Welt. Die Zuschauer erwarten die Kollision der Planeten, die sie am Filmanfang bereits gesehen haben, an die sie sich erinnern und auf deren Wiederkehr in der Zukunft sie warten. Dieser Eindruck einer vorherbestimmten Zukunft wird dadurch verstärkt, dass die Bewegungsbahn des Planeten mit der chronologischen Vorwärtsbewegung des erzählten Geschehens und mit der unumkehrbar vorübergehenden Laufzeit des Films synchronisiert ist. Zum Schluss beendet die Kollision als Handlungshöhepunkt die Figuren und ihre Welt zuerst. Dann bringt eine enorme Explosion auch die Bilder zum Verlöschen.

Sich im Planetarischen verlieren

Die melancholische Fragmentierung der Zeitdimensionen lässt sich auf der Ebene der Darstellung der Erzählhandlung bestimmen. Doch der Zerfall von Zeitbezügen und Zeitformen umfasst auch die ungleichmässige Geschwindigkeit und Dauer bei der Darstellung von Bewegungen und Dialogen. Die Zeit der Darstellung erscheint oft unmotiviert und ihre Tempowechsel geraten in Spannung zum Dargestellten. In Melancholia finden sich Intervalle der Dauer, die über jegliche dramaturgische Begründung hinaus ermüden, sowie plötzliche Abbrüche und verwirrende Auslassungen. Die Montage ordnet die Sequenzen und ihre zeitlichen Beziehungen zu auseinandertreibenden, unregelmässigen und unvorhersehbaren dynamischen Mustern.

Die Montage unverbundener Fragmente lässt sich an einer Szene ab der 49. Minute des Films verdeutlichen, in der Justine am Abend ihres Hochzeitstages den Nachthimmel beobachtet: Eine Folge von impulsiv unruhigen Handkamera-Aufnahmen hält die Aufmerksamkeit auf dem Gesicht der Hauptfigur in einer Gruppe von Hochzeitsgästen, die sich um ein Teleskop versammeln. Die Kadrierung begrenzt den sichtbaren Raum und erkundet in einer intimen Nähe das Gesicht der Figur. Der beschränkte sichtbare Raum öffnet sich für die Dauer einiger Totalen, die eine Ansicht vom Nachthimmel geben und die schwebende Aufwärtsbewegung einiger Papierballons erfassen. Eine unscharfe Grossaufnahme isoliert dann wiederum das Antlitz von Justine mit geschlossenen Augen (Abb. 4). Der Massstab und die Entfernung der folgenden Einstellungen führen einen abrupten Bruch mit der Wahrnehmungsperspektive der Figur ein. Diese Bilder zeigen Sternenkonstellationen, Galaxien und Gassphären im Weltraum (Abb. 5). Die Aufnahmen bleiben in der Einstellungsfolge der Sequenz isoliert und übersteigen eindeutig die physiologischen Grenzen der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Die Abfolge der Einstellungen löst die begrenzte und endliche Wahrnehmungsperspektive der Figur auf in der linearen, objektiven Zeit. Unklar bleibt bei den Bildern des Kosmos, ob es sich um innere Vorstellungsbilder der Figur handelt oder um eine objektive visuelle Beschreibung des Universums der Erzählung.

Die Auflösung von subjektiven Zeitbezügen in die objektive Zeit lässt die zeitliche Komposition des Mediums Film hervortreten: Die fortwährende Neuverknüpfung von Bildern in der Zeit, die Zeitlichkeit des sichtbaren Wandels und die technische Konfiguration von Zeitbezügen werden selbst als Gegenstand der Wahrnehmung auffällig. In Melancholia werden den Zuschauern durch den Zerfall der filmischen Zeitordnung ihre eigenen Wahrnehmungsprozesse bewusst und ihre Anstrengung, mit den vom Film gegebenen Eindrücken und Empfindungen Schritt zu halten. Das Bemühen, die aufeinanderfolgenden audiovisuellen Geschehnisse bedeutungsvoll zu verknüpfen, findet immer wieder eine Grenze an den unvermittelbaren, isolierten Zeiteinheiten der einzelnen Einstellungen. Die Bildfolgen sind affiziert von einer melancholischen Fragmentierung und Entleerung der Zeit. Die zeitliche Ausdehnung und trennende Montage der Bilder überschreiten die Logik eines subjektiven, dynamisch synthetisierenden Zeiterlebens und lösen diese auf in der objektiven Zeit der Planetenbewegung. Auch die synthetisierende Wahrnehmung und Erfahrung der Zuschauer finden an diesem inkohärenten und diskontinuierlichen Zeitzerfall eine Grenze. Als Pathos des Zeiterlebens treten in Melancholia die Angst vor dem Zeitvergehen und die Angst vor einer unveränderlichen Zeit hervor. Die Zeitlichkeit der filmischen Bilder wird als Vergehen einer geschlossenen, vorherbestimmten Zeit – als technische Laufzeit des materiellen Filmbandes – auffällig. Das Andauern des filmischen Universums ist dabei als ein Vergangenheit-Werden ohne Zukunft in Szene gesetzt. Der dramatische Schluss des Films negiert die vorangegangenen Ereignisse und ihre wirkungslos bleibende, keine Rettung herbeiführende Ausdehnung in der Zeit. Die melancholische Fiktion vom Ende der Welt und vom Ende der Zeit verweist auch auf die melancholische Bestimmung des Mediums Film. Schliesslich ist das Zeiterleben im Kino geprägt von den in der Vergangenheit festgeschriebenen Bildern und von der Unmöglichkeit des Films, zur Gegenwart der Anwesenden aufzuschliessen.

Vgl. Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M. 1991.

Sche. (ein Patient von Franz Fischer), zitiert nach Theunissen (wie Anm. 1), S. 53.

Anonymer Patientenbericht aus einer psychiatrischen Studie von Frederick Towne Melges, zitiert nach Theunissen (wie Anm. 1), S. 269.

Entnommen aus: Anne-Marie Bonnet, Gabriele Kopp-Schmidt (Hg.), Die Malerei der deutschen Renaissance, München 2010, S. 134.

Ulrike Hanstein
* 1976, Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, Promotion in Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin, 2013–2014 Fellow am Getty Research Institute (Los Angeles), zur Zeit Lehrbeauftragte an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig.
(Stand: 2017)
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