DORIS SENN

ARGERICH (STÉPHANIE ARGERICH)

SELECTION CINEMA

«Ich bin die Tochter einer Göttin», sagt die Regisseurin einmal während des Films über ihre viel umschwärmte Mutter. Im Filmdebüt der in Bern geborenen Filmemacherin Stéphanie Argerich dreht sich denn auch alles um ihre Mutter, die grosse Pianistin Martha Argerich. In einem sehr persönlichen Porträt rollt die Tochter die Geschichte ihrer Familie und insbesondere die ihrer Mutter auf, die aus den Beziehungen mit drei verschiedenen Männern drei Töchter gebar – Stéphanie ist die jüngste von ihnen.

Locker zusammengewürfelte Episoden illustrieren, wie das Wunderkind Martha, das 1941 in Buenos Aires geboren wurde, schon in jungen Jahren zu Weltruhm kam. Wir erfahren von ihren drei Töchtern und deren Vätern – alle bedeutende Musiker – und Martha Argerichs unstetem, bohèmehaftem Alltag, in dem sich das Muttersein fast ebenso schwer mit ihrem Künstlerleben vereinbaren liess wie ihre Beziehungen. Der Film dokumentiert auch Stéphanies Annäherung an ihren Vater, Stephen Kovacevich, einen aus Kalifornien stammenden Pianisten und Dirigenten. Er enthüllt das «Geheimnis» um Marthas erstes Kind, das sie mit dem chinesischen Komponisten Robert Chen hatte: die Violinistin Lyda, die ihre Kindheit unter mysteriösen Umständen fern von ihrer Mutter in Heimen verbrachte.

Als Klammer für die Erzählung dient aber zuallererst die Beziehung von Mutter und Tochter (der Film beginnt im Gebärsaal, wo Stéphanie ihren zweiten Sohn zur Welt bringt). Wiederholt sucht die Filmemacherin augenscheinlich und in extremen Grossaufnahmen nach der physischen Nähe zur Mutter und Protagonistin: Es sind ungeschönte Bilder, die Martha Argerich morgens beim Aufwachen zeigen, die festhalten, wie sie – noch im Pyjama mit dem Kaffee in der Hand und in die Kissen gebettet – über ihr Leben, die Musik und die Beziehung zu ihrer Tochter sinniert oder wie sie (trotz ihrer lebenslangen Erfahrung) vor den Auftritten noch immer mit Lampenfieber kämpft. Martha Argerich wirkt dabei ungeniert und ungezwungen, zeigt ihren schalkhaften Charme und präsentiert sich mit ihrer grau gewordenen Löwenmähne zeitlos schön.

Die fragmenthaften Gespräche, die manchmal vom Off-Kommentar Stéphanies abgelöst werden, mäandrieren um eine vage Chronologie. Stéphanie Argerich bewältigt dabei nicht zuletzt einen grossen und disparaten Bildfundus – fliessen in ihre Erzählung doch immer wieder Homemovies und Ausschnitte aus vor Jahren gedrehten Filmen ein. Die Westschweizer Filmemacher Luc Peter (A l’est des rêves, CH 2000) und Vincent Pluss (On dirait le sud, CH 2002) unterstützten sie bei Kamera und Schnitt. So zeigt sich das skizzenhafte Familienporträt als sehr leichtfüssiger und intimer Einblick in das Leben einer der grössten Pianistinnen der Gegenwart und zeugt ebenso von der Nähe, aber auch der Distanz zwischen der Filmemacherin/Tochter und ihrer Mutter.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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