SASCHA LARA BLEULER

CYANURE (SÉVERINE CORNAMUSAZ)

SELECTION CINEMA

Mit ihrem Erstling Coeur animal, der ihr 2010 den Schweizer Filmpreis einbrachte, hat sich Séverine Cornamusaz einen respektablen Platz in der hiesigen Filmlandschaft verschafft. Die düstere Liebesgeschichte vermochte auch in nicht heimischen Kinosälen zu begeistern: Der Film wurde an über dreissig Filmfestivals gezeigt und von Kritikern gelobt. Cornamusaz bewies mit ihrer Inszenierung der archaisch-sadistischen Berglerbeziehung das richtige Gespür für die emotionale Orchestrierung stiller Unterwürfigkeit und berstender Leidenschaft und schaffte so zwischen ihren Hauptfiguren eine Intensität, die ihresgleichen sucht.

Auf den ersten Blick erscheint der zweite Film der welschen Regisseurin wie von einem anderen Planeten. Formal überrascht die Coming-of-Age-Geschichte mit einer temporeichen Montage, schriller Pop-Ästhetik und animierten Sequenzen in japanischem Manga-Stil. Aus der Perspektive des 13-jährigen Achille erzählt, tauchen wir in eine kindliche Welt ein, die dramatisch, laut und grell ist. Cyanure ist aber alles andere als ein Kinderfilm und der junge Protagonist Achille ein scharfer Beobachter der psychologischen Widersprüche um ihn herum.

Er wartet sehnlichst auf die Rückkehr seines Vaters Joe, der kurz nach seiner Geburt im Gefängnis landete. So verliert er sich in Fantasiewelten, in denen sein Vater heldenhaft das Herz der Mutter zurückerobert und – mit Hilfe seines unbesiegbaren Sohnes – den verhassten Loser-Freund der Mutter gleich aus dem Weg räumt. Achilles Mutter Pénélope gibt zwar nach aussen vor, nach dessen Entlassung nichts mehr mit dem Taugenichts-Vater zu tun haben zu wollen, doch ihre erotischen Tagträume, zu denen sie sich genüsslich selbst befriedigt, zeugen von einer unbändigen Anziehungskraft jenseits jeglicher Vernunft. Die Amour fou und die archaische Leidenschaft, die Joe und Pénélope verbinden, erinnern dann doch unweigerlich an die Mischung aus Aggression und Sinnlichkeit, die auch die Hauptfiguren von Coeur animal umtrieb.

Die Figurenzeichnung ist teils grotesk überspitzt, doch bei genauerem Hinschauen ist die formale und inhaltliche Handschrift der Filmemacherin klar erkennbar. Achille erhält grösste psychologische Aufmerksamkeit und auch Joe entwickelt sich vom anfänglich bewusst reduzierten Rüpel-Macho zu einem Sym­­pathie­trä­ger, der innerhalb seiner beschränkten Mög­lichkeiten versucht, ein guter Vater zu sein. Entschwebt der Film kongruent zur lebhaften Fantasie seines Protagonisten zuweilen arg ins Märchenhafte, reisst Cornamusaz die Geschichte immer wieder auf den Boden der Realität zurück – und hier werden irdische Triebe voller Lust, Schmerz und Schmutz ausgelebt. Die allesamt überzeugenden Schauspieler prallen wie Moleküle aufeinander, und diesen menschlichen Reigen von Anziehung und Ablehnung mitanzusehen ist ein Genuss.

Sascha Lara Bleuler
*1977, Schauspielausbildung am Lee Strasberg Theatre & Film Institute in New York. Studium Anglistik, Filmwissenschaft und Fran­zösi­sche Literatur an der Universität Zü­rich. Lehrtätigkeit in Englisch, Filmtheorie und Schauspiel. Freie Journalistin für Filmzeitschriften. Kuratorin von Filmreihen. Programmation der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur und des Dokumentarfilmfestivals Visions du Réel. Schauspielerin in Film- und Theaterproduktionen. Lebt in Zürich und Tel Aviv.
(Stand: 2017)
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