SASCHA LARA BLEULER

HARRY DEAN STANTON: PARTLY FICTION (SOPHIE HUBER)

SELECTION CINEMA

«Harry was?» «Harry Dean Stanton, wenn du ihn siehst, kennst du ihn!» Diesen Dialog zwischen Filmgeeks mag man zurzeit an vielen Festivals hören, an denen der erfrischende Dokumentarfilm Harry Dean Stanton – Partly Fiction über den talentierten, doch weitgehend unbekannten Schauspieler Harry Dean Stanton gezeigt wird. Obwohl er in mehr als 250 Filmen mitgewirkt hat, darunter in Meisterwerken wie Paris, Texas, Alien und A Straight Story, kennt kaum jemand seinen Namen. Doch innerhalb einer kleineren Arthouse-Fangemeinde im Dunstkreis von Kultregisseur David Lynch erhält der Schauspieler die Ehre, die ihm gebührt.

Die Schweizerin Sophie Hunger, die seit vielen Jahren in L. A. lebt, gehört zu Stantons Bewunderern, was sie sich mit ihrem anfänglich etwas naiven Fragenkatalog auch anmerken lässt. Doch bald realisiert man, dass diese Arglosigkeit und bewusst entspannte Interview­situation in Stantons Wohnzimmer psychologisches Kalkül birgt. Harry stellt schon zu Beginn des Gesprächs klar, dass er hier keinen Seelenstrip hinlegen wird. Am liebsten würde er einfach nur schweigen, sagt der melancholische Eigenbrötler später bei der nächtlichen Taxifahrt, und sein zerfurchtes Gesicht sieht plötzlich sehr traurig aus. Es sind Sätze wie diese, die Stantons grosse Verletzlichkeit durchschimmern lassen. Und es waren diese schmerz­li­chen Abgründe, die ihn einen nahezu stummen Travis in Wim Wenders Paris, Texas – seiner einzigen Hauptrolle – so unvergesslich beklemmend verkörpern liessen.

Die Kameraführung von Seamus McGarvey ist erwartungsgemäss grandios: Ruhige Einstellungen rahmen das Gesicht des Protagonisten wie eine kontrastreiche Seelenlandschaft in Schwarz-Weiss, die feinkörnigen Bilder in Stantons Wohnung kontrastieren mit Farbtönen seiner nächtlichen Fahrten und den grellen Innenaufnahmen seiner Stammknei-pe, wo der heute 86-Jährige seit über vierzig Jahren am Tresen hängt.

Gesprächig ist der kettenrauchende Stanton eigentlich nur, wenn er, von Jamie James Gitarre begleitet, mit sanfter Stimme Lebenskrisen besingt – so füllen die Liedtexte der Country- und Folksongs die Lücken, die seine Erzählungen offenlassen. Kris Kristofferson feiert mit «He’s a Pilgrim» den rastlosen «womanizer» Stanton, der sich nie binden wollte, und gibt mit seinem Songtext («He’s a walkin’ contradiction, partly truth and partly fiction») dem Film seinen Untertitel. Es fällt Stanton leichter, über seine berühmten Kumpel Marlon Brando oder Jack Nicholson zu sprechen, und doch fügen sich letztendlich seine anekdotischen Geschichten, verwoben mit zahlreichen Filmausschnitten, zu einem stimmigen Ganzen zusammen, sodass man am Ende das Gefühl hat, dem besten Nebendarsteller Hollywoods ein klein bisschen näher gekommen zu sein.

Sascha Lara Bleuler
*1977, Schauspielausbildung am Lee Strasberg Theatre & Film Institute in New York. Studium Anglistik, Filmwissenschaft und Fran­zösi­sche Literatur an der Universität Zü­rich. Lehrtätigkeit in Englisch, Filmtheorie und Schauspiel. Freie Journalistin für Filmzeitschriften. Kuratorin von Filmreihen. Programmation der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur und des Dokumentarfilmfestivals Visions du Réel. Schauspielerin in Film- und Theaterproduktionen. Lebt in Zürich und Tel Aviv.
(Stand: 2017)
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