RENÉ MÜLLER

WATERMARKS — THREE LETTERS FROM CHINA (LUC SCHAEDLER)

SELECTION CINEMA

Luc Schaedler (Angry Monk) hat für seinen Dokumentarfilm Watermarks – Three Letters From China drei Regionen in China besucht. In Zusammenarbeit mit dem Sinologen Markus Schiesser porträtiert der Regisseur Menschen in einem Land des Umbruchs.

«Obwohl ich ausserhalb arbeite, ist mein Herz bei meinen Eltern. Ich frage mich ständig, ob es ihnen gut geht. Ich mache mir Sorgen um sie. Zu Hause bei ihnen bin ich so glücklich», erzählt der 35-jährige chinesische Bauernsohn Wei Jihua. Seiner Frau zuliebe ist er vom unwirtschaftlichen Bauernbetrieb weg ins 600 Kilometer weit entfernte Kohlenbaugebiet von Wusutu in eine riesige, wohl erst kürzlich aus dem Boden gestampfte Arbeitersiedlung gezogen, um als Baggerfahrer Geld zu verdienen. Seine Frau, so sagt er, könne nur in dieser Industriezone, wo eine bessere Zukunft möglich scheint, glücklich werden – und das, obwohl sie ihren kleinen Sohn vorerst bei den Schwiegereltern zurücklassen muss. «Ein grosser Traum wäre unrealistisch. Ich habe keine Träume», bilanziert sie unter Tränen.

Eine weitere Station ist Jiuxiancun im Süden Chinas. Hier sprechen ein ehemaliger Landbesitzers und ein pensionierter Partei­sekretär über die Geschichte des abgelegenen Dorfes. Immer noch sieht man die Parolen der Kulturrevolution auf den Hausmauern, und nicht nur dadurch wird die Last der Vergangenheit deutlich. So erzählen die beiden Zeitzeugen von brutalen Morden und Bücherverbrennungen.

Der dritte Teil führt nach Chongqing in Zentralchina, einer Grossstadt am längsten Fluss des Landes. «Eine zaghafte Zukunft» nennt Schaedler dieses Kapitel. Hier steht die junge Frau Chaomei im Zentrum. Im Kon­trast zum einfachen Leben ihrer Eltern auf einem kleinen Fischerboot versucht die burschikose Chaomei, eigenwillig ihren Weg zu gehen und dabei möglichst selbstbestimmt zu bleiben, Spass zu haben und trotz der prekären Verhältnisse ein modernes Leben zu führen.

Luc Schaedler ist es gelungen, mit Watermarks – Three Letters From China ein faszinierendes und gleichzeitig unspektakuläres Bild von China zu zeichnen. Sein Fokus liegt ganz auf den einzelnen Protagonisten und ihren verblüffend persönlichen Erzählungen. Insofern kann man auch von «filmischen Briefen» sprechen, wie es im Titel angedeutet wird. Der Filme­macher lässt seinen Figuren sehr viel Freiraum. Hier wird Schaedlers Hintergrund als Ethnologe deutlich; von 2006 bis 2008 war er Leiter der Abteilung Visuelle Anthropologie an der Universität Zürich, eines Teilgebiets der Ethnologie, das sich mit der Produktion ethnographischer Bilder und mit der Analyse visueller Repräsentationen beschäftigt. Water­marks – Three Letters From China wurde 2013 am Internationalen Filmfestival Locarno in der Sektion Semaine de la Critique gezeigt.

René Müller
*1977, Studium der Filmwissenschaft, Publizistik und Neueren Deutschen Literatur in Zürich und Paris. Er ist beim Migros Museum für Gegenwartskunst für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Von 2007 bis 2012 Redaktionsmitglied von CINEMA.
(Stand: 2014)
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