DORIS SENN

TABLEAU NOIR (YVES YERSIN)

SELECTION CINEMA

Es ist ein Bild aus vergangenen Zeiten – buchstäblich: Die Gesamtschule von Derrière-Pertuis, in einer sanften Hügellandschaft westlich des Chasseral gelegen, gibt es nicht mehr. Ein gutes Dutzend Kinder zwischen sechs und elf Jahren ging jeweils zu Gilbert Hirschi in die Schule, der sein Amt als Lehrer 41 Jahre lang ausübte und drei Generationen heranwachsen sah. Der 70-jährige Regisseur Yves Yersin, der mit dem grossartigen Les petites fugues 1979 (!) seinen bislang letzten Film drehte, präsentiert mit Tableau noir ein einnehmendes Porträt von Schule und Lehrer. Ohne jeglichen Kommentar – mit einer Fülle assoziativ geschnittener Szenen aus dem Schulalltag.

So beginnt Tableau noir mit dem Schuleintritt im September und schliesst mit dem Ende des Schuljahrs im folgenden Sommer. Als Erstes erleben die Erstklässler eine Art Taufe im Schwimmbecken, bei der die Älteren die Neulinge in der Schwebe halten müssen: Die Jüngeren sollen lernen, den Älteren zu vertrauen, und diese, ihre Verantwortung gegenüber den Jüngeren wahrzunehmen. Ein symbolhaltiges Bild für die kleine Schule. Es folgen die ersten Lektionen in Rechnen und Schreiben, Zeichnen und Singen, das Einüben des Weihnachtsspiels, die ersten Erfahrungen auf Skis und Schlittschuhen. Hirschi verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz: Die trockene Materie baut er in einen möglichst anschaulichen Kontext ein.

Mehr als 1200 Stunden Material soll Yersin gemeinsam mit seinem Kameramann Patrick Tresch gefilmt haben. Dies erklärt zum einen, weshalb die Kinder sich so ungezwungen vor der Kamera verhalten. Zum anderen lässt es ob der Fülle die enorme Arbeit in der Montage erahnen. Dies und die schwierige Produktion des Films (Yves Yersin übernahm schliesslich selbst den grössten Teil der Kosten) trugen dazu bei, dass die Fertigstellung so lang dauerte und die Aufnahmen für Tableau noir ebenso wie die Schliessung der Schule nun schon mehr als sechs Jahre zurückliegen.

Dabei sollte der Film ursprünglich die Auseinandersetzung zwischen dem Schulmeister und vier Familien dokumentieren, deren Kinder sich durch denselben eingeschüchtert fühlten und nicht mehr zur Schule gehen wollten. Doch dann war Yersin so fasziniert von den Methoden des mit Leib und Seele unterrichtenden Lehrers, dass er seinen Fokus auf das Schulzimmer verlagerte. So präsentiert Tableau noir die ungetrübte Faszination für diesen Mikrokosmos – mit unvermeidbaren Anklängen an den brillanten Vorläufer des «Genres», Être et avoir (F 2002) von Nicolas Philibert, oder auch das intimistische Porträt der Kinder vom Napf (CH 2011) von Alice Schmid. Tableau noir ist aber auch ein melancholischer Abgesang auf eine ebenso eigenwillige wie antizyklische Unterrichtsform, die in Derrière-Pertuis ein tränenreiches Ende gefunden hat.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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