MATTHIAS GÖRITZ

ÔKÔCHIS GARTEN

ESSAY

Ich bin’s. Ja, jedenfalls, nein. Ich. Velder. Ich … nein, lass mich ausreden … liebe …

Die Verbindung war unterbrochen. Velder warf das Telefon aufs Bett. Er konnte nicht schlafen. Love is a drug, war das nicht eine Filmzeile? Oder ein Song? Ja, ein Song, Brian Ferry, Roxy Music, Love is the drug / I’m thinking of / oh oh, can’t you see / love is the drug for me. Velder sah sich das offizielle Video von 1980 auf Youtube an. The drug, wie wahr! Nicht, dass der elegante Ferry in seiner hellen, cremefarbenen Weste inmitten der Band und den hübschen Tänzerinnen nicht attraktiv gewesen wäre, aber Velder fand, dass man das anders machen müsste, einen richtigen visuellen Trip um den Song herumbauen, den ganzen Sex, das ganze Begehren durch ein paar Bilder über die Haut perlen lassen, Ferrys Stimme mit den richtigen Farben bemalen, aus den Bildern heraus ein Gefühl erzeugen, dass man glaubte, die Liebe riechen zu können, die Droge schmecken, man müsste eine Szene drehen, die nicht bloss Sex zeigte, sondern selbst sexy war – und zwar so sehr, dass beim Zuschauer die Nervenzellen des Zwischenhirns Oxytocin ausstiessen wie nach einem Orgasmus und man sich, Mann oder Frau, trans-, homo-, metrosexuelles Wesen, was auch immer, danach binden wollte, an diese Szene, an diesen Film, an diese Stimme, für immer. Auch Träume sind irgendwie alle gemacht.

Velder nahm noch einen Schluck Suntory Whisky und hörte in seinem Kopf die übermüdete dunkle Honigstimme von Bill Murray aus Lost in Translation: «For relaxing times make it Suntory time», dann hörte er sich kichern. Und dann fiel ihm ein, dass Baz Luhrmann das ja schon gemacht hatte für seine Lolli-Version letztes Jahr von The Great Gatsby. Den Song als Satchmo-Dixie-Deep-House Version aufgezogen, die Beats bloss rückübersetzt, mit leicht ironischem Banjoschmalz ganz im Hintergrund. Die trübe Version gegen die Depression, Marke Jazz-Zeitalter. War nicht gut gewesen. Er trank das Glas aus und setzte sich aufs Bett. Er fühlte sich leer.

Genauso leer, wie sie es ihm vorgeworfen hatte. Du bist leer, hatte sie gesagt, genauso leer wie deine Filme. Er schnaubte und schenkte sich wieder zwei – grosszügig bemessene – Fingerbreit Whisky ein. Leer. Leer und schön. Das hatte sie gesagt. Eine Projektionsfläche, sonst nichts. Und sie hatte recht, verdammt noch mal, sie hatte recht! Ob er denn niemals glücklich wäre? Glücklich! Seine Grossproduktion des Golem-Films steckte fest. Die Barrandov-Studios waren gemietet gewesen, aber Hugh Jackman war mit einem gebrochenen Arm in Prag aufgetaucht, und sie hatten Ersatz gebraucht. Zu allem Überfluss wollte Kirkland nicht mehr, den er extra als Aussenseiter und Independentfilmer hatte dabeihaben wollen. Wahrscheinlich bloss, um Mut zu beweisen, denn so cool waren seine artsy fartsy Kunstfilme in L. A. ja nun auch nicht gewesen, ein bisschen Sundance, ja ja, ein bisschen Wir-mischen-die-Branche-auf und Ringelpiez-mit-Anfassen-Kommune-Feeling à la Fassbinder drumherum, ja! Nur, was da bisher rausgekommen war, hatte das nicht letztlich doch bloss den Charme einer Waldorfschulaufführung? Und jetzt kam der und sagte ihm, gut, ohne Jackman, das Ganze wäre ihm sowieso viel zu sehr in Richtung kommerziell gegangen. Kommerziell! Bei einem 100-Millionen-Budget, träumte der denn? Die Bavaria, das ZDF, Canal+ und die Paramount waren dabei, abzuspringen. Besser Geld in der Vorbereitung verlieren als ein weiteres Desaster, erinnerte der sich denn an Van Helsing? Ja, er erinnerte sich, aber. Nichts aber. Nicht weiter. Nicht mehr.

Die Golem-Story war gut gewesen, das Drehbuch, das Storyboard. Kirkland, der ja eigentlich Comiczeichner war, hatte ein Meisterwerk abgeliefert, nun, er konnte sie alle noch kriegen, sie mussten sich nur beruhigen, er musste sich beruhigen, die Frage war nur, ob er den Magen dafür hatte, das durchzustehen? Scheisse, dachte er, du denkst schon denglisch.

Love is a drug for me. Dieser Scheissdruck. Dieser DruckDruckDruckDruck. Warum hatte Heloisa nicht noch ein paar Wochen durchgehalten? Glück. Er wollte sie doch sehen! Er wollte ... aber eben, das war’s. Wollen und tun. Zwei unterschiedliche Dinge. Da waren Worte wohl nicht mehr genug gewesen.

Er knallte das Glas an die Hotelzimmerwand. Glück war auch nur eine Art zu fallen. Der Tumbler zerschellte nicht, fiel nur dumpf auf den Teppichboden. Der goldbronzene, 18 Jahre alte Whisky lief die Ramie-Tapete herab. Die Struktur war schön. Richtig wie eingekleistertes Gras oder handgeschöpftes Papier. Er stolperte zum Glas, hob es auf, überlegte einen Moment lang, ob er es nicht in den überdimensionierten, gewölbten Flachbildschirm werfen sollte, der ihn gestern Nacht mit «Hello, Mrs Dierks sana» begrüsst hatte. Velder als Frauenname, hatten die ihn nicht gegoogelt? Oder war das ein automatisches Computerprogramm gewesen? Der Bildschirm würde nicht mal implodieren, er könnte dann auch noch die Flasche durch die Scheibe schleudern, die scheissschicken Designermöbel dazu, das Zimmer verwüsten, aber das war ihm zu Rockstar. Irgendwie zu leicht. Zu leer.

Dabei war Leere doch das Prinzip hier in Kyoto, oder nicht? Garten-Zen, Steine harken, Wasser und Felsen. Sich leer machen. Nippon. Das ganze Programm. Fuhren die Leute nicht hierher, um sich diese Gegensätze anzusehen? Das Volle, Hypermoderne, und das Alte, überaus Aufgeräumte? Er setzte das Glas neben der Flasche ab, überlegte, ob er sich noch einen einschenken ... schüttelte dann den Kopf, genug, er hatte das Gefühl, dass sein Gehirn wie in einer unheimlich zähen Flüssigkeit schwamm, sich langsamer und quasi zeitverzögert im Schädel drehte, ihm wurde übel. Er ging ins Bad. Die Luxussuite im 14. Stock mit Blick über den Bahnhof und zum Kiyomizu-Tempel weit hinten an den Hängen von Higashiyama bot ihm ein Pärchen-Set Hausgäste-Kimonos zur Auswahl, von denen er den grösseren anzog. Er kam sich vor wie ein fetter Bär. Ein Filmmonster. Walfisch und Affe. Im Spiegel sah er sein übermüdetes Gesicht. Eine fremde Erscheinung, eine weit entfernte Erinnerung an sich selbst. Warum hatte sie Schluss gemacht? Hatten sie es nicht draufgehabt? Die Nächte im Rausch, die Geschichten über das, was ihre Körper miteinander machen würden, wenn sie sich das nächste Mal sahen, das Gefühl, dass, selbst wenn sie sich einmal betrögen, diese Liebe zwischen ihnen unsterblich sei. Unsterblich. Dass sie ihm alles verzeihen würde, alles. Solange sie sich doch nur ...

Sie hatten sich in Cannes kennengelernt, sie hatte ihr erstes grosses Spielfilmprojekt auf dem Filmemarkt vorgestellt, letztlich mehr oder weniger bloss gepitcht, versucht, Geldgeber aufzutreiben. Er war damals noch Journalist gewesen. Wie lange war das her? Kaum eineinhalb Jahre. Er hatte ein Porträt machen wollen über Erlenberg, den Erlenberg, den Herrscher über die Firma des Lichts, die Phoenix Productions. Ihn und seinen letzten Film, über den damals alle redeten, den Gleiwitz-Fall. Was daraus geworden war, war einfach unglaublich. Sie hatten sich angefreundet, Erlenberg und er, vielleicht mehr, jedenfalls war er sein treuer Begleiter bei dem ganzen Gleiwitz-Projekt geblieben, hatte den Mann nicht nur interviewt, sondern war ihm näher und näher gekommen, irgendwann so nahe, dass der in seinen Armen gestorben war. Und ihn zum Erben seines Unternehmens eingesetzt hatte. Einfach so. Und er hatte geliefert, er, Velder, der Erbe. Hatte Gleiwitz fertiggemacht und zum Erfolg geführt. Jedenfalls einem kleinen. Und bei all dem hatte er getan, was er konnte, um die Liebesgeschichte, die damals in Cannes zwischen Heloisa und ihm angefangen hatte, am Laufen zu halten.

Unsterblich. Er spuckte ins Becken. Sie könne das einfach nicht, sein Leben, eine Beziehung über solche Distanz. Sie wüsste nicht, was er machte, wenn er ohne sie sei, was er eigentlich an ihr finde, wie er sich ihre Zukunft denke, sie hätten wohl grundsätzlich andere Vorstellungen davon, was das sei: Liebe. Zu zweit sein. Kinder haben. Ein Leben. Das waren ihre Anklagepunkte gewesen, Wutgesichter über Skype, die er nicht sofort als grosse Enttäuschung, als verzweifelte Forderung und Suche nach seiner Nähe gesehen hatte. Er hätte sich ins Flugzeug setzen müssen, sie zum Kampf auffordern, sie umarmen, mit ihr schlafen. Aber das war mitten in der Golem-Krise gewesen, ein paar Wochen her, Gott, was für Wochen; er hatte die Produktion geschmissen, den Stab aufgelöst, die paar Millionen würden ihn nicht mehr killen, und er konnte es darauf schieben, dass Jackman den Stunt bei dieser anderen Produktion unbedingt hatte selber machen wollen, sodass er sich eben den Arm gebrochen hatte, das lief ja dann wohl über deren Versicherung! So weit, so gut, machte er den Golem ein anderes Mal, nicht mit Kirkland, alles andere war gut. War schlecht. Nach Caracas war er nicht geflogen.

Zu Hause in München hatte er zu saufen angefangen, drei Tage lang, dann einen Tag Pause und weitere zwei. Er hatte sich Pizza und Sushi kommen lassen, auf dem Klo immer kichernd die alte Nummer der Für Sie durchgeblättert, in der er mit einem Interview vertreten war. Die Titelgeschichte Wie man aus Krisen Kraft schöpft hatte es ihm angetan, so viel geballte Lebensweisheit für drei Euro fünfzig. Er hatte den Wein-, Whiskey- und Biervorrat in der alten Villa in Bogenhausen vollkommen vernichtet und binnen einer Woche sämtliche guten Samurai-Filme geschaut, die er in seiner Bibliothek und auf den Stream-Portalen finden konnte. Wie im Rausch. Nein, im Rausch. Der einsame Wolf mit dem Jungen alle fünf Teile, dazu die TV-Serie über Ito Ogami, den Scharfrichter des Shogun aus den Siebzigern, alles von Kurosawa, drei alte Verfilmungen über das Leben von Zatoichi, dem blinden Samurai. Er war gelangweilt gewesen vom hochgelobten Samurai der Dämmerung, zu realistisch, was interessierte ihn Alltag mit Reismattenausklopfen und Leben im Dorf! Er war genervt gewesen von den niedlichen Kinderwitzen in der Manga-Version der sieben Samurai und begeistert von den Musashi-Filmen, sowohl den dreien von Hiroshi Inagaki mit dem Superstar Toshiro Mifune als auch denen von Tomo Uchida – ein Taugenichts mutiert zum Helden; das war ganz seins. Beim nihilistischen Sword of Doom hatte er sich eine Riesen-Tüte gebaut und zu einer ganzen Flasche Yamazaki geraucht und danach die Sushi-Platte Nr. 11 für vier Personen den Göttern der Wasserspülung geopfert. Denjiro Ôkôchis Meisterwerke aus den 20ern hatte er sich für den Schluss aufbewahrt, er schaute sie die ganze Nacht vor seinem Abflug, war besoffen ins Flugzeug gestiegen und in Osaka von den überraschten Japanern, einer Delegation der Toho-Filmgesellschaft mit einer sehr schönen Übersetzerin, gleich in die Stretchlimousine und dann ins Hotel verfrachtet worden. Er solle doch ausschlafen, solch eine transkontinentale Reise sei doch immer sehr anstrengend, erklärte man höflich. Der Übersetzerin hatte er auf den Kimono gereihert. Aber er war hier. Gesicht verloren hin oder her, er wollte sich die Produktion über diesen Ôkôchi ansehen. Unbedingt. Das lenkte ab. Und den alten Freund von Erlenberg, Daigoro Tanaka, der hinter dieser Produktion steckte, mit dem Erlenberg noch kurz vor seinem Tod die Beteiligung der Münchner Phoenix an der Ôkôchi-Sache ausgeheckt hatte, kennen lernen. Diese blöde Fotze in Venezuela würde schon sehen. Leer!

Als er am zweiten Tag im Hotel endlich aufwachte, war es viertel nach zwölf. Er fand drei – höflich in Kuverts gesteckte und unter seiner Zimmertür durchgeschobene – Nachrichten, man habe ihn nicht stören wollen, er solle sich doch ruhig richtig ausruhen, so eine Zeit-, Kultur- und, ja, auch Klimaverschiebung sei ja nun mal nicht ohne, er könne am Abend doch mit dem Produktionsleiter essen gehen. Frau Imiko, die angekotzte Übersetzerin, stünde ihm jederzeit zur Ver­fügung, und man wolle ihm nur sagen, Herr Tamagiro erwarte ihn ab 17 Uhr unten. Man habe im Kitcho Arayashima reserviert, drei Sterne, ganz nah bei Ôkôchis Villa, und der Direktor des Anwesens würde am Abend nur für ihn den Gar­ten erleuchten, mit Lampions, zum Tee vor dem Essen, wie zu Ôkôchis Zeiten.

Der Ôkôchi sei ja so ein toller Hecht gewesen, so hatte ihm sein Mentor, Erlenberg, immer wieder erzählt. Erlenberg war oft in Japan gewesen, nicht dass er das Land verstanden hätte, wie er immer wieder betonte, die Verbeugungen allein, da bekäme man ja Hexenschuss, und dieses Meister-haut-Schüler-eins-hinter-das-Ohr-Lehrprinzip, das sei doch vulgär. Wenn man die Leute so Filme machen lassen würde, trial and error, bis etwas Gescheites bei rumkomme, und sonst tausendmal hinter die Löffel, was solle man da erwarten, eigentlich? Aber man müsse schon zugeben: der japanische Film! Ozu! Kurosawa! Ja, und selbst diese Monsterfilme von Honda mit ihren Männern in den zentnerschweren Gummikostümen, die hätten doch was – unerhört rätselhaft, wie das gelänge. Aber beim ersten Godzilla hätte er wirklich wie ein Kind geweint.

«Vergessen wir mal diese bonbonfarbenen fliegenden Motten, die singenden Inselzwerge und die ganzen irreführenden deutschen Verleihtitel! Frankenstein und die Monster aus dem All, Weltraumbestien mit diesem maulwurfartigen Roboter, Das Grauen schleicht durch Tokio, mit diesen Tropfen, die alles in Schmiere verwandeln, King Kong hier, Frankenstein da, alles Etikettenschwindel, lustiges, psychedelisches Grauen mit dem sich die sararimen die Abende versüssen. Nichts dagegen einzuwenden, aber ...»

Und für dieses «aber» hatte Velder den alten Erlenberg geliebt, deshalb hörte er sich die alten Aufnahmen, die er auf seinem Laptop und dem iPhone hatte, wieder und wieder an. Man fand immer ein Aber. Und dieses Aber, dieser Einspruch der Person gegen den ersten Eindruck, das war, was zählte. Der erste Godzilla-Film mit den Modellen von Tsuburaya, dessen Propagandafilme über die Pazifikschlachten der kaiserlichen Marine von den amerikanischen Besatzerbehörden misstrauisch wie Dokumentarfilme beäugt worden waren, und der schaurig-düsteren Musik von Akira Ifukube hätte ihn umgehauen! Aber umgehauen. So viel «aber» musste man sich erst mal trauen!

«Da ist alles drin, die ganze Angst vor der Strahlung, vor Nagasaki, Hiroshima, den damals aktuellen Wasserstoffbombentest, eingefangen in einem Film!» Ob er denn wüsste, dass der Name Godzilla – Gojira eigentlich, im Japanischen – eine Zusammensetzung aus den Worten für Affe und Walfisch sei? Gut! Er wolle ihm das mit der Furchterzeugung erläutern. «Zum Beispiel als dieser gehandicapte Wissenschaftler, wie hiess der noch?, Dr. Serizawa, ja, von seiner Angst berichtete, weil er diese unglaubliche Zersetzungswaffe, den oxygen-destroyah – hören Sie? Denglish gab’s immer schon, als Japenglisch! – entwickelt hatte, die alles Leben in seiner Umgebung zerstören kann. Aber als er die ungeheure Zerstörung sieht, die das Ungeheuer, für das er sich als Wissenschaftler, die Atombombe funktioniert ja ähnlich, mitverantwortlich fühlt, da setzt er seine Waffe ein, nimmt sie und ihr Geheimnis mit ins kühle Grab, schafft sich und Godzilla, von dem man nur noch die blanken Knochen sieht nach dem Einsatz des destroyah, aus der Welt. Schuld gegen Schuld. Fleisch für Fleisch. Ein Leben für ein Leben. Das war Kult!» Das wären auch Werte und letztlich die Art der Geschichten vor allem in den Samurai-Filmen gewesen, ein Austausch archaischer Ethiken. Und die waren ja noch besser! Vor allem die Bilder. Einfach, poetisch, voranschreitend, wie bei einem Kampf oder beim Ballett, Filmen, das einer Umkreisung glich, einem grossen, gestisch präzisen Theater, das den Spannungsaufbau aus ganz simplen rituellen Szenen bezog und dann, blitzschnell, ins Herz der Personen stiess. Da könnten sich Tarantino und Sergio Leone aber mal eine Stange von abschneiden oder sich wenigstens mal bedanken bei den Meistern des jidai-geki und dem chan-bara-Schwertfilm, bei Kobayashi, Okamoto und Kurosawa. Ja! Die Japaner dächten eben nicht fotografisch, es ging nicht ums blosse Festhalten von Etwas, ums Einfangen. Sie kamen von Kabuki her, die ersten Schauspielergiganten des Films waren alle Kabuki-Stars gewesen, das Publikum nahm die ersten Filme als Verlängerung des Theaters wahr. Er müsse sich das irgendwann alles einmal ansehen, sein alter Freund Tanaka warte nur auf ihn, Velder. Der würde ihm das nicht bloss erklären. Man müsse es erleben, müsse es sehen. Es ging um die Schönheit des Handelns, ein Schauspieler musste präzise sein, es kam auf die Gesten an, fast wie bei der Teezeremonie.

Japan war ja spät erst zum Kino gekommen, aber was für Enthusiasten waren das, was hatten die dann geschaffen! In ein paar Jahren in den 20ern zum Weltmarktführer aufgestiegen, das war das japanische Kino! Und alles hätte hier in Kyoto angefangen. Kein Wunder, dass die da Samuraifilme gemacht hätten ohne Ende.

Der alte Mann fehlte ihm.

Es sei leer gewesen, hatte sie geschrien, Heloisa, über Skype, Mail, Facebook, WhatsApp, sein Handy, ihre schnellen Nächte in den Hotels, die kurzen Begegnungen auf Reisen und Durchreisen. Ihr sei es immer vorgekommen, als wäre sie nur so seine Hotelschlampe, sein fucktoy. Und jetzt? Er selbst sei doch bloss eine Kopie, angefüllt mit den Ideen seines toten Meisters. Na und? Was war so schlimm daran? Bloss eine Kopie, aber wenigstens war er jemand! Wenn er kam, dann verbeugten sich diese Japaner, alle, das ganze Set! Eine Riesenchoreografie, für ihn! Es war fünf Uhr, er ging runter in die Lobby. In seinem braunen Yamamoto-Anzug mit den überbreiten Schultern fühlte er sich wie eine Skulptur.

Der Wagen hielt vor dem Tor der Villa. Sie stiegen aus. Er hatte sich bei Frau Imiko entschuldigt, mit einem im Internet nachgeschlagenen, wahrscheinlich völlig falsch ausgesprochenen Satz auf Japanisch. Einen Moment lang hatten ihre Mundwinkel unangenehm gezuckt, dann hatte sie wieder gelächelt und sich verbeugt. Er half ihr aus dem Wagen. Rechts rauschte ein leichter Wind durch den Bambuswald, das letzte Licht zog Striche und Punkte in das Gewoge der Stämme, ein grünes, biegsames Meer. Hatte das in Ang Lees Hidden Tiger & Crouching Dragon nicht ähnlich ausgesehen? Aber das war ein chinesisch angehauchter Hollywoodfilm, und Velder hörte die Stimme von Heloisa süffisant in seinem Kopf: Du kennst doch alles nur aus Filmen, dein ganzes Leben ist nur ein Bilderrausch aus zweiter Hand. Er schüttelte den Kopf und seine Begleiter fragten ihn, ob alles in Ordnung sei. Er nickte und sie führten ihn durch das Tor.

Ôkôchis Garten war hell erleuchtet. Er hatte seinen Begleitern gesagt, er wolle eine Weile allein herumgehen. Sie hatten sich verbeugt, er hatte sich verbeugt, hatte er das richtig gemacht? Dann war er gegangen. Die beginnende Dämmerung legte sich über die kleinen, sich um künstliche Hügel windenden Wege, die Azaleen, die Kirschbäume, die vielen Pinien und japanischen Ahornbäume. Dreissig Jahre hatte Ôkôchi Denjiro in diesen Garten gesteckt, nein, in das ganze Anwesen. Ein Vermögen hatte er ausgegeben. Ôkôchi war schnell reich geworden, er war einer der grössten Kinostars der 20er Jahre. Besonders beeindruckt war Velder von dem ikonischen Filmplakat gleich am Eingang, das Ôkôchi mit seinem weiss geschminkten Gesicht und der furchtbaren Narbe zeigte, die ihm das rechte Auge ausgehöhlt hatte. Seine Paraderolle, ein grimmiger Kämpfer gegen das Nichts. Hier in seine Villa hatte er sich dann vor seinem Erfolg zurückgezogen. Oder brauchte er das für seinen Erfolg? Er hatte den Garten selber geplant und gepflanzt, er sollte zu allen vier Jahreszeiten die Schönheiten der Natur erfassen, ein kleines Reich, in dem der Mensch umhergeht, nicht wie ein Herrscher, sondern, ja, wohl wie ein Gast, wie ein Gärtner. Behutsam musste man wohl sein, um so etwas Lebendiges zu schaffen. Velder machte an den kleinen Steingarten unterhalb der Kuppe von Ôkôchi Gelände halt. Fein geharkte Kiesel, einige grössere Felsen, wirklich das Meer und die Inseln, Japan, wenn man sich nicht anstrengte, sondern einfach nur schaute. Nur sah. Velder schämte sich. Er schämte sich, solange betrunken gewesen zu sein, mit Heloisa beschäftigt, so beschäftigt, wie man als Teenager beschäftigt war, die Trennung so traurig nicht wegen des Anderen, den man vergötterte, sondern weil der Gott oder die Göttin einen zurückwies. Kindisch, dachte Velder. Er stieg die letzten Stufen auf die Hügelkuppe, zur Aussichtsplattform und sah auf der einen Seite das ganze Anwesen unter sich, auf der anderen den Fluss.

Velder fragte sich, ob Ôkôchi wohl glücklich gewesen war. Glücklich, hier oben sitzen zu können, auf seine Arbeitsräume in der Villa im Momoyama-Stil zu blicken, auf das Teehaus, den kleinen Tempel. Sich abends umzusehen, so wie Velder jetzt, das letzte Licht verhauchen zu spüren über den Bergen von Arayashima, und links, ja, das musste der Affenfelsen sein, auf den er da blickte, und unten der glitzernde Hozu-Fluss, dessen weisser Schaum rasch über die Steine sprang. Er musste einfach glücklich gewesen sein. Unten wurden die Lampions und die Steinlaternen angezündet. Wie Glühwürmchen wirkten sie von hier oben. Wundervoll. Er würde den Regisseur nachher fragen, nachher beim Essen, den Toho-Produzenten, Erlenbergs alten Freund und den Drehbuchautor. Aber jetzt noch nicht. Eine Weile würde er noch hier sitzen. Allein. Er war froh, dass er sich das gegönnt, herausgenommen hatte. Das war es, was er empfinden wollte, die Frage, wie jemand das aushielt, das Leben, ganz gleich, ob als Samurai-Star oder als Produzent. Er blickte auf den Steingarten unter sich.

Ja, die Leere war wirklich schön.

Matthias Göritz
*1969 in Hamburg, ist Lyriker, Übersetzer und Romancier und lebt bei Frankfurt am Main. Zuletzt erschienen der Gedichtband Tools, Berlin Verlag 2012, und der Roman Träumer und Sünder, C.H. Beck Verlag München 2013. Träumer und Sünder spielt in der Filmbranche und wurde mit dem Robert Gernhardt-Preis ausgezeichnet.
(Stand: 2016)
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