SIRKKA MÖLLER

UMBRÜCHE IN DER FESTIVALLANDSCHAFT

FILMBRIEF

Als freiberufliche Kulturarbeiterin trage ich notwendigerweise verschiedene Hüte, und mangels einer einzigen, knackigen und zutreffenden Berufsbezeichnung trägt meine Visitenkarte einen ganzen Satz über mich: «Sirkka Möller curates, organises, and moderates film events and advises producers and directors on documentary projects.» Das ist in etwa die Essenz dessen, womit ich seit rund zwanzig Jahren mein Brot verdiene. Mir schien dieser Satz deutlicher und umfassender als ein vager Begriff wie Beraterin oder die schon inflationär gewordene Modebezeichnung der letzten Jahre – Kuratorin. Die folgenden Beobachtungen sind auf Reisen zu Festivals und in Gesprächen mit Kolleg/-innen entstanden, in der Auseinandersetzung mit einer Branche, deren bisherige Paradigmen jeden Tag aufs Neue in Frage gestellt werden. Manches an meiner Sicht auf die gegenwärtigen Zustände mag pessimistisch erscheinen, aber ich finde, es muss angesprochen und diskutiert werden, damit wir daraus lernen. Wir können die Entwicklung nicht aufhalten, aber wir können versuchen, sie selbstbestimmt zu formen.

Ein Festival ohne Zuschauer?

Die Umbrüche und Verwerfungen, welche die Filmbranche derzeit erschüttern, kommen unbemerkt und haben radikale Konsequenzen. Festivals, die seit Jahrzehnten ein sicheres Rezept zu haben scheinen, verlieren den Rückhalt in ihrer einheimischen Filmbranche. Im Juni war ich in Norwegen, am Norwegischen Kurzfilmfestival1 in Grimstad. Der Name führt etwas in die Irre, denn das Festival zeigt sowohl neue norwegische Kurz- und Dokumentarfilme als auch Musikvideos, ausserdem ein Wettbewerbsprogramm mit internationalen Kurzfilmen und einige überwiegend filmhistorische Sonderreihen, gerne auch mit langen Filmen. Selbst einige norwegische Spielfilme und die seit ihrer Erstausstrahlung vor vierzig Jahren nicht mehr gezeigte Fernsehserie Alberte des 1982 verstorbenen norwegischen Regisseurs und Theaterautors Sverre Udnæs fanden ihren Weg ins Programm.

Grimstad ist ein eher verschlafener Küstenort im Südosten des Landes, der vor allem für seinen Sportboothafen bekannt ist – also eigentlich ein idealer Festivalstandort. Nachdem Grimstads lokale Filmbranche an höchstens zwei Händen schnell abgezählt ist, reisen alle Branchenvertreter aus der Hauptstadt Oslo und anderswoher an, sind fern ihres Alltags und somit entspannt. Die drei Festivalkinos befinden sich praktischerweise unter einem Dach, man wohnt überwiegend in Ferienwohnungen, die Sonne scheint, die Talkshows mit den Regisseuren finden in der Open-Air-Bar vor dem Kino statt und jeden Tag gibt es die Möglichkeit zur geselligen Bootsrundfahrt mit frischen Krabben. Ideale Bedingungen, sollte man meinen.

In den 90er Jahren traf sich hier die gesamte norwegische Filmbranche, die Kinosäle waren notorisch überfüllt und es gab eine täglich erscheinende Festivalzeitung, in der sich unter anderem die Vorführer des Festivals mit den norwegischen Kurzfilmern über Qualitätsstandards bei der Videoproduktion auseinandersetzten. Aber nach 37 Jahren hat das Festival anscheinend den Anschluss verloren. Die Sonne scheint immer noch, die Stimmung ist tiefenentspannt, aber die Kinos sind halb leer, und die Jugend, die nach den Vorführungen in die Festivalbar strömt, besteht überwiegend aus den freiwilligen Festivalmitarbeitern. Mein erster Besuch in Grimstad fand im Jahr 2004 statt, und damals musste man in den kleineren Kinos noch rechtzeitig seine Plätze reservieren. Seitdem ist in Norwegen die Filmfestivalszene enorm gewachsen, heute gibt es in vielen Regionen des weitläufigen Landes eigene kleinere Filmfestivals, die mit regionalen Mitteln gefördert werden. Das hat die Festivallandschaft zersplittert und das Kurzfilmfestival hat bisher keine überzeugende Strategie entwickelt, um mit diesem Phänomen umzugehen. Die Nachwuchsfilmer kommen oft nur an dem Tag vorbei, an dem ihr eigener Film läuft, aber selbst das ist für viele nicht mehr selbstverständlich. Die Sonderprogramme sind von Torunn Nyen mit Sachverstand und Freude an der filmischen Vielfalt kuratiert, aber der Funke springt nicht mehr auf das Publikum über. Mein traurigster Moment in diesem Jahr war in einer Vorführung von Marguerite Duras’ India Song, bei dem wir nach 90 Minuten nur noch zu zweit im Kino sassen. Ich hoffe, dass das Festival mit seinem netten Team es schafft, den Trend umzukehren und das Festival für die norwegischen Filmemacher wieder zum wichtigsten Treffpunkt zu machen, bevor es zu spät ist.

Festivals und ihr Publikum

In Gesprächen mit Festivalkollegen, die wie ich viel reisen, wird deutlich, dass es auch anderen etablierten Festivals immer schwerer fällt, ein Publikum anzulocken. Fehlt die Neugier, oder hat sich der Filmkonsum einfach nur ins Private, Digitale verschoben? Es gibt Firmen2, die den Festivals anbieten, alle Filme zu digitalisieren, damit das Publikum sie zu einer beliebigen Zeit auf dem eigenen Endgerät sichten kann. Das klingt zunächst modern und komfortabel. Doch für mich und für viele Kolleg/-innen lebt ein Festival davon, dass die Filme gemeinsam, zu einer festen Zeit und in einem dunklen Raum, gesehen und im Anschluss mit den Filmschaffenden diskutiert werden, falls möglich. Viele Festivals bieten inzwischen online einen Profizugang zur Festival-Videothek an, oft auch noch mehrere Wochen nach dem Event – man muss also gar nicht mehr zu einem bestimmten Datum zu einem Festival reisen, um alle Filme zu sehen. Ein Festival ist dann vor allem noch Kurator und Aggregator von Inhalten, ein klassischer Schleusenwärter, der mit seiner Reputation die präsentierten Filme veredelt. Der Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen3, Lars Henrik Gass, hat in seinem sehr lesenswerten schmalen Band Film und Kunst nach dem Kino4 aufgezeigt, wie dem Film das Kino abhandenkommt und wie sich Schwerpunkte verschieben. Wir alle – Festivals, Kuratoren und Filmbranche – müssen darauf bedacht sein, nicht vor lauter Zukunfts-Euphorie und der realen Angst, den Anschluss zu verpassen, das Kino zu verlieren. Und jede/-r muss sich selbst fragen, wo der eigene Konsum von Bewegtbildern stattfindet und wie man die eigenen Prioritäten setzen will. Das Vorbild ist für mich die Frage, wo wir unsere Bücher kaufen: ob wir – mit dem Argument der Bequemlichkeit – Amazon und andere Onlinehändler nutzen, oder ob wir mit einem Einkauf beim «analogen» Buchhändler die Beratungskultur und die Existenz von unabhängigen Läden unterstützen wollen. Und wenn wir einen Film sehen wollen, gehen wir dann ins Kino, oder suchen wir eine Möglichkeit, den Film online zu sehen?

Avantgarde von gestern und morgen

Anfang Juli war ich in Südfrankreich, am 25. FIDMarseille5, einem Festival, das sich in den letzten Jahren unter der künstlerischen Leitung von Jean-Pierre Rehm und seinem Team neu erfunden hat. Das Festival hatte seinen alten Namen, Vue sur les Docs, nach der Trennung vom Fernsehmarkt Sunny Side of the Doc6 zuerst zu FID (Festival International du Documentaire) geändert, um dann 2011 den Untertitel Festival International de Cinéma de Marseille hinzuzufügen. Die Entwicklung vom reinen Dokumentarfilmfestival zum Kinofestival wurde damit im Titel verdeutlicht. Seit 2007 hat das Festival Spielfilme in sein überwiegend dokumentarisches Programm aufgenommen. Das Publikum ist extrem interessiert, cineastisch veranlagt, belastbar (ästhetisch wie inhaltlich) und nicht zuletzt höflich, denn selbst bei langen und schwierigen Filmen bleibt man beim FID meistens bis zum Schluss, manchmal selbst bei Nichtgefallen. Das Festival hat es geschafft, diese Zuschauerschaft zu pflegen und zu einer Gemeinschaft zusammenzuschweissen, die sich für eine Woche im Juli trifft, um das Kino zu feiern.

Seit letztem Jahr hat das Festival einen neuen Weg beschritten, indem es Retrospektiven grosser Filmschaffender ins Festival einbindet. 2013 präsentierte das Festival eine komplette Werkschau von Pier Paolo Pasolini, den das Team liebevoll PPP nannte, die in den Wochen vor dem Festival bereits in Marseille im Kino lief und während der Festivalwoche wiederholt wurde. Das bei vielen Festivals übliche Präsentationsformat, «alte» Filme im filmhistorischen Zusammenhang und zugleich abseits vom aktuellen Programm zu platzieren, wurde bewusst aufgebrochen. Die Filme Pasolinis wurden zu Themengebern für die diversen Nebenreihen des FID, die écrans parallèles. Die gegenseitige Befruchtung und Resonanz zwischen neuen Filmen und Klassikern hat gleichzeitig die Retrospektive wie auch die écrans parallèles aufgewertet.

In diesem Jahr ehrte das Festival die grosse französische Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Filmemacherin Marguerite Duras anlässlich ihres 100. Geburtstags und ihre Filme wurden in die Nebenreihen organisch eingebaut. In dieser Gegenüberstellung wurde deutlich, wie zeitlos viele ihrer Filme sind, nicht zuletzt der grossartige Le Camion mit dem jungen Gérard Depardieu, der in den 70er Jahren in mehreren Filmen von Duras mitspielte. Nach der fast schon privaten Duras-Vorführung, die ich in Grimstad erlebt hatte, war es befreiend, diese Filme mit einem Publikum zu erleben – so, wie Kino sein soll.

Die Auswahl in Marseille wird ein Publikum, das mit Fernsehdokumentationen, Arte-Themenabenden und den üblichen Musik- und Porträtfilmen des Kinobetriebs sozialisiert wurde, wahrscheinlich verstören und hoffentlich verzaubern. Hier lebt der Glaube an die Kraft des Kinos, hier kann man auch spröde Filme entdecken, die keine Massen bespassen wollen, und in der Gemeinschaft von Gleichgesinnten diskutieren.

Immer schneller, immer mehr

Nachdem ich mehr als die Hälfte meines Lebens für Filmfestivals arbeite, sind mir natürlich Veränderungen aufgefallen. Die digitalen Arbeitsmittel wie z. B. E-Mail, Onlinesichtungsmöglichkeiten und Downloads haben nicht nur Erleichterung gebracht, sie haben auch das Umsatztempo erhöht. Denn wenn man Dinge schnell und unkompliziert digital versenden kann, dann führt das natürlich auch oft zu einer Last-Minute-Einstellung – auf beiden Seiten. Produzenten schicken Materialien erst auf den letzten Drücker, und manche Festivals machen sich selbst mehr Arbeit als nötig, indem sie Deadlines sehr spät setzen.

Was definitiv komplizierter geworden ist, ist die Frage, wann und wie man sein Publikum am besten erreicht. Wie umfangreich und wann sollte man in welchen sozialen Medien werben – oder sind die erhofften Zuschauer eher über eine gedruckte Programmbeilage in der lokalen Tageszeitung zu erreichen? Wie langfristig oder kurzentschlossen planen Kinogänger/-innen überhaupt? Diese Fragen sind heute komplexer geworden, denn jeder Kommunikationskanal hat seine eigenen Regeln und will auf eigene Art bespielt werden. Manche Festivals sind darin inzwischen so gut geworden, dass die Realität im Kino fast schon enttäuscht angesichts der vorangegangenen hochprofessionellen Werbeattacken. Die amerikanische Film-Website Indiewire7 verkündet, dass es zwar einfacher und günstiger geworden sei, professionell zu produzieren, aber dass es gleichzeitig unendlich schwieriger geworden sei, angesichts der Konkurrenz sein Publikum zu finden.

Schöne, neue Bilderflut

In den letzten Jahren, seit digitale Produktionsmittel in professioneller Qualität (Kameras, Schnittprogramme, Speicherplatz etc.) günstiger und für eine breite Masse erreichbar geworden sind, ist damit auch die Produktion von Bewegtbildern enorm angestiegen. Und nicht nur für kurze Filme, die auf Vimeo, YouTube und anderen Webplattformen hochgeladen werden oder die für den privaten Gebrauch gedacht sind. Das bisschen Geld, das man braucht, kann man mit einem Händchen für populäre Themen und guten Kenntnissen der sozialen Medien problemlos über Crowdfunding finden, vorbei an den alten Schleusenwärtern der Förderinstitutionen und Fernsehredaktionen. Die meisten Filmfestivals ächzen unter der Menge der eingereichten Filme, und für die Sichtungskommissionen und Kurator/-innen wird die Arbeit immer umfangreicher. Denn die wenigsten Festivals haben auch mehr Leinwände und Programmplätze zur Verfügung, um das Angebotene zu zeigen. Ich möchte auch gerne diese Gelegenheit nutzen, um den unter Filmschaffenden beliebten Mythos aus dem Weg zu räumen, Auswahlgremien würden eh nur die Filme bekannter Namen sichten und den Rest ungesehen ablehnen. Im Gegenteil, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die meisten Festivals sehr daran interessiert, neue Filme und neue Talente zu entdecken, und unter Programmkollegen empfiehlt man sich gelegentlich sogar Titel oder Filmemacher, die man im eigenen Programm nicht unterbringen konnte.

Ein Zahlenbeispiel zur Verdeutlichung der Filmmengen, mit denen Festivals umgehen müssen: Die Kurzfilmtage Oberhausen8 publizieren in ihrem Katalog regelmässig Zahlen und Tendenzen für die Sektionen. Wenn man also liest, dass 2014 für den Internationalen Wettbewerb 3567 Beiträge eingereicht wurden und am Ende 61 davon ausgewählt wurden, dann kann man sich ausrechnen, dass das weniger als 2 % sind. Bei Langfilmfestivals sind die Zahlenverhältnisse nicht ganz so extrem, aber mehr als 10 % der eingereichten Filme sind selten bei einem Festival zu sehen. Deshalb habe ich wenig Verständnis für Filmemacher, die vor der Einreichung nicht recherchieren, ob ihr Film zumindest die Regularien erfüllt und ob er zum Festival passt. Mit diesen einfachen Massnahmen könnte die Filmschwemme vielleicht ein wenig besser kanalisiert werden, und Filmschaffende könnten zeigen, dass sie die Branche verstehen.

Mehr Schein als Sein?

Meine Beobachtung ist auch, dass die Menge der wirklich herausragenden Filme konstant bleibt – was aber enorm anwächst, ist die Anzahl der Filme, die zwar nichts falsch machen, die aber trotzdem nicht wirklich begeistern. Im Dokumentarfilm, mit dem ich mich überwiegend beschäftige, hat besonders die Entwicklung der filmenden Fotokameras mit Wechselobjektiven (z. B. von Canon) dazu geführt, dass die mit ihnen gedrehten Filme auf den ersten Blick «gut» aussehen. Die kleinen, unauffälligen Kameras werden von vielen Gefilmten nicht beachtet, weil sie wie Fotoapparate aussehen, eine besondere Nähe und Unmittelbarkeit entsteht, die durch die Tiefenschärfe und Farbintensität noch verstärkt wird. Aber nach dem ersten, positiven Eindruck merkt man auf den zweiten Blick, dass die Qualität der Bilder eigentlich nur die Qualität der Kamera ist, die eine fehlende Cadrage und fehlende künstlerische Entscheidungen kaschiert. Die Technik verschleiert die wahre Qualität – oder haben wir nur noch nicht gelernt, diese neuen Bilder mit kritischem Auge richtig zu lesen? Wenn alle Filme «automatisch» schick aussehen, muss sich das Können auf anderen Ebenen zeigen. Zu leicht wird das Äusserliche, der Look, mit dem Inhalt des Films verwechselt, und deshalb müssen wir alle genauer und kritischer hinsehen und die schönen Bilder hinterfragen – Filmschaffende wie Zuschauer/-innen.

Leider ebenfalls viel grösser geworden ist der Druck auf die Filmemacher/-innen, mit ihren Arbeiten in dieser schnellen, schicken Welt wahrgenommen zu werden. Viele setzen sich selbst unter Druck, wollen unbedingt auf die grossen Festivals und erwarten eine klassische Auswertung, in der Hoffnung auf internationale Preise und prestigeträchtige Kinostarts. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass Förderinstitutionen und Fernsehredaktionen oft Filme verlangen und finanzieren, die einfach nicht festivalgeeignet sind, was für Filmemacher/-innen frustrierend ist; denn ein Film, der angeblich im Fernsehen funktioniert, hat nicht unbedingt die gleichen Qualitäten wie ein Film, der auf Festivals und im Kino funktioniert. Auch der Zwang zur Exklusivität, den grosse wie kleine Festivals mit ihrer Premierenpolitik ausüben, ist aus meiner Sicht nicht hilfreich, weder für das Kino noch für die Filmemacher. Es gibt leider zu wenig seriöse Ressourcen, mit denen Regisseur/-innen lernen können, durch die Festivalwelt zu navigieren. Die persönliche Erfahrung und der Austausch mit Kolleg/-innen ist ein altmodisches Mittel, das aber derzeit noch am besten funktioniert. Und Filmschaffende sollten sich gelegentlich bewusst machen, dass sie Festivals durchaus auf Augenhöhe begegnen können, dass sie nicht nur Bittsteller sind – denn ohne Filme gibt es auch keine Filmfestivals.

Macht jeden Film so gut wie möglich!

Natürlich, wer jahrelang an seinem Herzensfilm arbeitet, macht sich die oben genannten Zahlenverhältnisse selten bewusst. Als professionelle Filmbetrachterin hingegen sind diese Zahlen mein Alltag. Wenn mir Filmemacher/-innen also eine neue Idee vorstellen, dann denke ich an die vielen, vielen Filme, die ich schon zu diesem oder einem ähnlichen Thema gesehen habe. Und in Beratungsgesprächen stelle ich oft fest, dass viele Filmschaffende, alte wie junge, sich wenig oder gar nicht mit den Arbeiten anderer Regisseur/-innen auseinandersetzen. Sie wünschen sich zwar Feedback, wollen aber eigentlich vor allem bestätigt werden, und sie sind oft nur bereit, das anzunehmen und umzusetzen, was sie ohnehin machen wollten. Oft habe ich auf behutsam geäusserte Zweifel an dramaturgischen Entscheidungen, die in meinen Augen den Film geschwächt haben, zur Antwort bekommen: «Wir wollten genau diesen Effekt.» Modeerscheinungen wie nichtlineare Erzählweisen oder eine episodische Erzählstruktur erscheinen mir oft nicht so sehr als bewusste künstlerische Entscheidung, sondern als Eingeständnis der Kapitulation vor dem selbst gewählten Thema. Die vehemente Ablehnung einer Dramaturgie erinnert mich manchmal an den Fuchs aus der Fabel, dem die unerreichbar hoch hängenden Trauben angeblich zu sauer sind. Oft werde ich im Anschluss an ein Beratungsgespräch über Filme und ihre Dramaturgie gebeten, eine Festivalstrategie vorzuschlagen. Das fällt mir schwer, denn oft ist der Film in meinen Augen noch nicht reif für die Leinwand – er könnte noch deutlich verbessert werden und damit seine Chancen auf eine erfolgreiche Auswertung erhöhen. Nichts ist schwieriger, als über künstlerische Entscheidungen zu diskutieren, denn vieles wirkt erst aus der Distanz eines unbeteiligten Zuschauers redundant oder oberflächlich recherchiert. Leider gibt es heute kaum genug Geld für Filmschaffende, um einen Film angemessen zu recherchieren und zu entwickeln, oft geschieht dies nebenher, und je länger der Prozess dauert, desto schwieriger wird es auch, sich von lieb gewonnenen Ideen zu trennen.

Mein praktischer Tipp an Filmschaffende: Verschickt möglichst keine unfertigen Filme, auch wenn Festivals das oft zulassen – denn die Rohschnitte konkurrieren immer mit polierten, fertigen Filmen. Im Zweifelsfall gilt euer Film dann, wenn er endgültig fertig ist, bei den Kuratoren und Programmern schon als alt, oder sie erinnern sich nur an eine vorläufige Fassung, die aber keine Ähnlichkeit mehr mit dem endgültigen Werk hat. Beugt euch dem Druck nicht ständig, arbeitet Sachen aus und, vor allem, behaltet genügend Energie, um nach der anstrengenden Produktionsphase den Film während ein bis zwei Jahren auf Festivals, grossen wie kleineren, auszuwerten. Es müssen ja nicht immer nur Cannes und die Berlinale sein.

Zweites Standbein

Um mit Film und Bewegtbild zu arbeiten, muss man eine gute Portion Begeisterung mitbringen – denn wirklich reich wird beim Film niemand, ausser natürlich die Hollywood-Studios und ein paar bekannte Schauspieler/-innen. Selbst etablierte Regisseure haben zweite oder dritte Standbeine (sie lehren z. B. an Filmschulen, haben reich geheiratet, betreiben Weingüter und Restaurants oder entwerfen Mode), mit denen sie ihren Alltag finanzieren. Diese Realität wird an Filmhochschulen praktisch nie angesprochen. An privaten Hochschulen will man die zahlenden Studierenden bei der Stange halten, und manche Professor/-innen der exklusiveren Filmakademien glauben fest, dass ihren handverlesenen Student/-innen internationale Karrieren wie die von Produzent Bernd Eichinger9 oder Regisseur Roland Emmerich10 bevorstehen. Dabei gibt es analog zur Filmschwemme auch eine Überproduktion an Absolvent/-innen von Film- und Medienhochschulen. Wesentlich realistischer ist der Ansatz des Produzenten Martin Hagemann11, der als Professor an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf12 lehrt: Er fordert die Studenten seiner Produktionsklasse dazu auf, kleine Kinos auf dem Land zu übernehmen, deren Gründer vor der Pensionierung stehen. So sollen sie gleichzeitig das Kinosterben ausserhalb der Grossstädte aufhalten und aus nächster Nähe lernen, was das Kinopublikum wirklich will. Nach fünf Jahren Kinobetrieb, so Hagemanns These, ist man dann auch als Produzent gereift und bereit für den Markt. Denn wir sollten das Kino nicht nur den grossen Entertainmentkonzernen überlassen, sondern dem Publikum Alternativen bieten, damit eine vielfältige Kinolandschaft mit Platz für künstlerische Filme erhalten bleibt.

Tod der professionellen Videoproduktion?

Im Radio13 höre ich einen Bericht über die Unconference14 Tech Open Air15, die (mit reichlich Pressebegleitung) im Juli 2014 in Berlin stattfand. Ein Zitat von Cathal Furey, dem Mitgründer von FanFootage16, lässt mich aufhorchen. Das Netzangebot von FanFootage will die Videoproduktion demokratisieren, indem Fans auf Konzerten gedrehtes Material hochladen und veredeln können. Sein Vortrag heisst provokant «The Death of Video Production». Wie zu erwarten, redet er darüber, dass jetzt jeder mit seinem Mobiltelefon Inhalte selbst produzieren kann. Für ihn besteht aber damit zugleich keine Notwendigkeit mehr für andere Produktionsformen und er sagt: «Es wird immer Nischen geben für professionelle Videoproduktionen.» Dieser Satz bleibt bei mir hängen. Ich teile seine Zukunftsvision nicht, denn die neue technische Entwicklung bringt zwar neue Geschäftsmodelle, das bedeutet vor allem mehr Vielfalt, nicht aber das Ende des bisherigen Filmschaffens. Ich weiss, dass es in Zukunft nicht nur professionelle Technik geben wird, die von jedem bedient werden kann, sondern dass es auch Menschen gibt, die sich über die reine Technik hinaus mit Dramaturgie, Filmästhetik, Cadrage und der Filmgeschichte auseinandersetzen und daraus neue Filme entwickeln.

Ich freue mich über alle klugen Filmemacher/-innen, denen es gelingt, komplexe Filme zu machen, altes und neues Material intelligent zu verbinden, ungewöhnliche Querverbindungen herzustellen. Denn je mehr Filme ich sehe, desto bewusster wird mir, wie schwer es ist, einen gelungenen Film zu machen. Provokant formuliert: Um gute Filme zu machen, muss man viele Bücher gelesen haben, sich für Geschichte, Soziologie, Musik und Kunst (und manches mehr) interessieren, weltoffen sein, Informationen gut verarbeiten, Empathie haben und wahrscheinlich auch gut kochen bzw. gern essen können.

Und ich freue mich auf das Kino, ich will überrascht und in andere Welten entführt werden, will mich einlassen auf radikale ästhetische Entwürfe und sehen, wie man den Film weiterdenken kann. Ich bin mir sicher, dass die Zukunft auch das bringt. Und dass es weiterhin Filmemacher/-innen gibt, die all die Strapazen auf sich nehmen, um einen wirklich tollen Film zu machen, der mein Auge erfreut, meinen Geist herausfordert und mein Herz erwärmt.

Mit herzlichen Grüssen von unterwegs

Sirkka Möller

Sirkka Möller
arbeitet seit 1988 organisatorisch und kuratorisch für internationale Filmfestivals (u. a. Berlinale, Sheffield International Documen­tary Festival, Fribourg IFF, DOK Leipzig, Kurzfilmtage Oberhausen). Sie hat Erfahrung im Weltvertrieb und als Moderatorin bei Film­events. Seit 2008 koordiniert sie das Project Lab Doc Station bei Berlinale Talents. Neben ihrer Arbeit als freie Kuratorin berät sie Fil­me­macher/-innen zu Projektentwicklung, Schnitt und Festivalstrategie.
(Stand: 2016)
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