ANNA-KATHARINA STRAUMANN

CHERRY PIE (LORENZ MERZ)

SELECTION CINEMA

«Zoé est passée», schreibt eine junge Frau mit dem Finger in den Schmutz auf einer Mauer und fügt «par là» hinzu. Zoe ist vorbeigegan­gen – aber wohin sie geht, bleibt unklar. Bei trübem Winterwetter irrt sie hinkend am Fluss entlang, an Raststätten vorbei und auf Pannenstreifen weiter. Sie lässt sich ein Stück mitnehmen, traumwandelt an fremden Häusern vorbei und übernachtet in einem Autowrack. Scheinbar planlos taumelt sie im Nirgendwo umher – und verfolgt dabei nur ein einziges Ziel: Sie will verschwinden, weg vom Freund, weg von den grauen Plattenbauten. Aber die Kamera rückt der Flüchtenden nah auf den Leib, folgt ihr erbarmungslos dicht auf den Fersen und lässt nicht ab von ihr. Von hinten verfolgt oder mit eng gerahmten Grossaufnahmen ist Zoé, die von Lolita Chammah, der Tochter von Isabelle Huppert gespielt wird, in fast jeder Einstellung zu sehen.

Als ihr die letzten Cents kaum mehr für eine Cola reichen, sieht Zoé eine Autofahrerin, die sich auf der anderen Strassenseite die Füsse vertritt. Zoé nähert sich dem Kofferraum, öffnet ihn und legt sich unbemerkt hinein. So gelangt sie als blinde Passagierin auf eine Fähre, die sie nachts über den stürmischen Ärmelkanal bringt. In der Früh am anderen Ufer ist die rätselhafte Autofahrerin verschwunden. Zoé nimmt die Reisetasche der Fremden, zieht deren Stöckelschuhe und Kunstfelljacke an; den eigenen alten Parka wirft sie auf den Müll. Neu eingekleidet reist sie mit dem Bus weiter in einen jener charakteristischen, aber saisonal ausgestorbenen südenglischen Badeorte. Im Hotelzimmer dürstet es Zoé statt nach Cola nun nach Alkohol. Statt (zu) sich selbst zu finden und sich zu einer handlungsfähigen Figur zu entwickeln, flüchtet die junge Frau in dieser rite de passage «im Rücklauf» in einen regressiven, rauschartigen Dämmerzustand. Was für ein erhabener Abschied aber schliesslich, bei Wind, Brandungsgetöse und Möwengekreische auf den schwindelerregenden Kreideklippen bei Beachy Head. Zoé est passée … par là.

Lorenz Merz, prämierter Kameramann von Giochi d’estate und Der Sandmann, hat mit Cherry Pie, der an den Festivals von Locarno, Rotterdam und Solothurn gezeigt wurde, sein erstes längeres Werk als Regisseur realisiert. Bereits für Un día y nada wurde er 2009 für den besten Kurzfilm mit dem Schweizer Filmpreis geehrt. Dass sich Merz, ursprünglich als Grafiker und Fotograf ausgebildet, nicht nur durch einen bewundernswerten visuellen Sinn auszeichnet, sondern auch durch eine ausgeprägte Experimentierfreude auf der Tonebene (u. a. eine wiederkehrende, phantomhafte voix acousmatique, die Russisch spricht), bestätigt er nun in seinem essayistischen Spielfilm. Anfangs offenbar lediglich als «Experiment» mit beschränkter Crew und ohne Skript geplant, überzeugt Cherry Pie nicht nur mittels nachhallender Bilder, sondern ebenso durch eine durchaus bescheidene, aber gerade dank ihrer Schlichtheit bezwingenden Geschichte.

Anna-Katharina Straumann
*1977, Studium an der Winchester School of Art & Design (WSA), University of Southampton, und der Anglistik, Filmwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Seit Herbst 2016 bei Pathé Films, davor sieben Jahre bei Xenix Filmdistribution und zwei bei Praesens Film als Presse- und Promotionsverantwortliche tätig. Von 2012 bis 2016 Teil der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2019)
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