VERA CUNTZ-LENG

ALLES IM FLUSS? — ZUR VERWANDLUNG IN DER HARRY POTTER-FILMSAGA

ESSAY

Die Geschichte Harry Potters folgt einer insbesondere für Hollywood-Filmdramaturgien verbreiteten monomythischen Struktur, wie sie – mit der Zielsetzung, universell gültige und verständliche Bedeutungen zu vermitteln – von Odysseus bis zu aktuellen Beispielen wie Django Unchained (Quentin Tarantino, US 2012) oder Guardians of the Galaxy (James Gunn, US/UK 2014) tausendfach erzählt worden ist. Die Handlung ist daher rasch zusammengefasst: Waisenkind wächst unter prekären Bedingungen auf, erfährt mit Eintritt ins Jugendlichenalter die eigene tragische Geschichte, nimmt seine Rolle als ‹Bekämpfer des Bösen› an, findet Verbündete und trifft auf Feinde, triumphiert schliesslich in einem hingebungsvollen altruistischen Akt über den Erzbösewicht und rettet die Welt. Im Verlauf dieser Heldenreise wird der Protagonist mit Aufgaben und Hindernissen konfrontiert, deren Lösung ihn mit dem notwendigen Rüstzeug ausstattet, sich selbst für das ‹greater good› zu opfern und das Böse zu besiegen.

Trotz der dramaturgischen Simplizität dauert er beinah zwanzig Stunden, so ein Harry Potter-Filmmarathon mit allen acht Episoden der erfolgreichen Fantasysaga. Während dieser kleinen Ewigkeit können die Zuschauer/-innen nicht nur die Emotionen, Affekte und Motivationen des Protagonisten intensiv kennenlernen, sie begleiten insbesondere auch Harrys Entwicklung vom Kind zum Teenager und schliesslich zum Erwachsenen über einen Zeitraum von sieben Jahren hinweg. Zwar macht dieses konsequente und konsistente Mitaltern der Figuren in Harry Potter ein Stückweit den Charme der Filme aus, dennoch bleibt letztlich eine deutliche Verwunderung darüber, dass Harrys Entwicklung vergleichsweise unspektakulär vonstatten geht und er am Ende der Saga genaugenommen noch der gleiche Junge mit der kreisrunden Brille und der Blitznarbe auf der Stirn geblieben ist: sensibel und mutig, aber auch launisch und kurzsichtig in seinen Handlungen, mit kaum ersichtlichem Interesse an Sexualität, androgyn, mit nur wenig Körperbehaarung, von kleinerer Statur als die anderen Heranwachsenden, bekleidet mit den immer gleichen, leicht ausgeleierten Baumwollshirts kombiniert mit Karohemd, biederem Strick oder Sweatjacke in Grau, Blau oder Weinrot. Diese Verwunderung ob Harrys Beständigkeit ist umso stärker, da sich alles um den Protagonisten herum in stetigem Wandel befindet und sich beinah alle den Helden umgebenden Figuren durch instabile Identitätskonzepte auszeichnen. Ihrer Plausibilität ist das fantastische Setting immens zuträglich, ergeben sich doch aus den Eigenheiten der magischen Welt vielgestaltige Möglichkeiten zur Schaffung von Dichotomien und Unschärfen1: Hermine ist Muggel-Geborene (die erste magisch Begabte in einer Familie nicht magisch begabter Menschen); Voldemort und Snape sind Halbblüter (Nachkommen einer Hexe und eines nicht magisch begabten Mannes); Hagrid ist Halbriese (Mutter war eine Riesin, Vater ein Mensch); Minerva McGonagall und die sogenannten Rumtreiber sind Animagi, sie haben also sowohl eine menschliche als auch eine tierische Identität; Remus Lupin ist ein Werwolf; Nymphadora Tonks ist ein Metamorphmagus, der physische Attribute wie Haarfarbe und Körperteile verändern kann. Zudem ist es durch die Verwendung von ein paar magischen Hilfsmitteln binnen weniger Minuten möglich, dass eine Figur ihr Aussehen, ihr Geschlecht, ihre Identität wechselt. Des Weiteren liefern magische Medien wie etwa Tom Riddles Tagebuch keinen fixierten Text aus einer fernen, heute unveränderlichen Vergangenheit, sondern sind zu Kommunikation und Partizipation mit den Lesenden fähig. Auch ein Artefakt wie die Karte des Rumtreibers bildet nicht nur starr die Topografie eines Ortes ab, sondern bebildert in Echtzeit seine Veränderungen, die auf ihn einwirkenden Kräfte, und kann sich mit dem richtigen Befehl wieder in ein unbeschriebenes Pergament zurückverwandeln. Selbst das Gebäude des Zauberinternats Hogwarts ist mit seinen beweglichen Treppenhäusern ein unzuverlässiger und instabiler Ort permanenten Wandels. Transfiguration ist in Hogwarts gar ein eigenes Schulfach, das passenderweise von McGonagall unterrichtet wird. Die häufigen und wiederholten Verwandlungen werfen in Harry Potter Fragen auf: Welche Funktion und Bedeutung hat dieser häufig aufgerufene Topos des Instabilen, Fluiden und Wandelbaren in Harry Potter? Welche Konsequenzen folgen daraus, dass Harry Potter Vorstellungen von in Stein gehauenen, widerspruchsfreien und allzeit kohärenten Identitätsdefinitionen herausfordert und infrage stellt? Und welche Bedeutung hat es, dass – wie eingangs beschrieben – ausgerechnet der Protagonist kein Teilnehmer in diesem fortdauernden Transformationsprozess und dem Spiel mit Identitäten ist?

Kerstin Brandes stellt fest, dass in der Kunst als «queere Körper solche Repräsentationen von Körpern gelten, die sich einer geschlechtlichen Eindeutigkeit widersetzen oder sichtbare Spuren der Transformation tragen»,2 und Shelley Chappell argumentiert, dass Metamorphosen sowohl als «vehicle for adolescent sexuality and sexual maturity, as well as queer and transsexual bodies»3 funktionieren. Daraus lässt sich ableiten, dass Queerness unmittelbar mit dem (menschlichen) Körper und seiner Fähigkeit bzw. seinem Potenzial zu Uneindeutigkeit und Transformation in Beziehung steht. Queerness an sich lässt sich unter Bezugnahme auf Karen Barad als eine «begehrende radikale Offenheit»4 verstehen, die dualistische Denkstrukturen (z. B. Mann/Frau, Kultur/Natur) herausfordert und infrage stellt. Queersein ist demzufolge nicht auf sexuelle Orientierung, Begehrensformen oder Fragen nach einer Geschlechtsidentität beschränkt, sondern findet sich überall da, wo etwas mit normativen, dominanten und gesellschaftlich legitimierten Mustern und Annahmen bricht.5 Queerness beschreibt daher weniger eine bestimmte Zuschreibung (zum Queeren) oder Identität (eine queere), vielmehr artikuliert sich im Konzept des Queeren eine generelle Ablehnung gegenüber dieserart festgelegten Zu- und Einschreibungen.6 Queersein ist somit selbst ständig im Fluss, in stetig wandelnder Positionierung zu Strukturen und Vorstellungen, die zur Norm erhoben werden. Vor dieser Folie lassen sich die vielfältigen Transformationen und Instabilitäten in den Harry Potter-Filmen einer Analyse aus queer-theoretischer Sicht unterziehen. Diese Herangehensweise lässt sich als sogenanntes Queer Reading – gegen den Strich lesen – benennen, wie es als literaturwissenschaftliche Methode von Eve Kosofsky Sedgwick entwickelt und von Alexander Doty für den Film nutzbar gemacht worden ist.7 Queer Reading kann und soll dazu dienen, einen neuen Blick auf Texte zu werfen – hier konkret auf ‹Verwandlung› in Harry Potter – einen Blick, der nicht durch heteronormative Konventionen verstellt ist und durch den eine generelle queere Durchdrungenheit von Populärkultur (und die Konsequenzen hieraus) erfahrbar wird.

Instabile Identitäten und magische Verwandlungen

Neben den quasi-ethnischen Doppelidentitäten von Hermine, Hagrid oder Snape zeichnen sich insbesondere jene Figuren durch eine instabile Verfasstheit aus, deren Körper aufgrund ihrer magischen Disposition willent- oder unwillentlich zu Verwandlung fähig sind: Werwölfe, Animagi und Metamorphmagi. Die Anleihen bei Lori Petty in Tank Girl (Rachel Talalay, US 1995) sind offensichtlich, wenn Nymphadora Tonks ihren ersten Auftritt in Harry Potter and the Order of the Phoenix (David Yates, GB/US 2007) hat: mit violettem, unordentlichem Haar, engem Lederhalsband, Nieten an der lässigen Jacke und schweren Boots an den Füssen. Sie ist ein Tomboy, ein jugendliche Rebellin, ein Punk. Ihr Habitus signalisiert, dass wir es mit einer Figur zu tun haben, die sich selbst ausprobieren will und auf der Suche ist. Als Metamorphmagus ist Tonks zudem die einzige Figur, die vorsätzlich und nach Belieben ganz gezielt einzelne, ausgewählte körperliche Attribute verändern kann – eine Fertigkeit, die sie in Harry Potter and the Order of the Phoenix sehr zum Vergnügen anderer Figuren vorführt. Tonks verändert im eigentlich ernsthaft-bedrückenden Setting des Hauptquartiers der Anti-Voldemort-Untergrundorganisation die Physiognomie ihres Gesichts in einem fliessenden Prozess von Mensch zu Schwein zu Ente (Abb. 1–2). Durch die Übertreibung und Komik wird diese Szene zu einem jener Momente, in denen die latente Camp-Ästhetik der Saga überdeutlich zum Ausdruck kommt. Die Perfektion der digitalen Morphingeffekte macht die Illusion einer fluiden Körperlichkeit vollkommen.

Verdichtet kommt somit in Tonks eine der zentralen Botschaften des weisen Mentors Albus Dumbledore an Harry (und an die Zuschauer/-innen) zum Ausdruck: «It is our choices … that show what we truly are, far more than our abilities». Welche bewussten Entscheidungen Tonks trifft, um ihre Identität zu gestalten, macht sie weit mehr aus als ihre Befähigung zur Verwandlung an sich, welche ihr als Metamorphmagus ganz selbstverständlich zur Verfügung steht. Mit Blick auf die Queer Theory signalisieren dieses Credo und Tonks’ Verwandlungen, dass Identitätszuweisungen oder körperliche Einschreibungen wie menschlich/nicht menschlich, weiblich/männlich, heteronormativ/queer, kindlich/erwachsen usw. bewussten Entscheidungen des Individuums unterworfen und keine vorgegebenen unveränderlichen Attribute sind. Abgehoben wird daher insbesondere auf die Prozesshaftigkeit von Identität und in der Konsequenz auch von Geschlecht, die Tonks’ Kontinuum von Verwandlungen in unterschiedliche Wesen indiziert. Tonks ist, wenn man so will, die Personifikation des doing gender-Konzepts, das die generelle Konstruiertheit und Performativität von Geschlecht beschreibt.8

In Harry Potter and the Half-Blood Prince (David Yates, GB/US 2009) findet Tonks im Werwolf Remus Lupin einen Partner, dessen Körper ebenfalls zu Transformation in der Lage ist. Doch diese ist im Gegensatz zu Tonks’ Fähigkeit unfreiwillig und brutal. Sie ist kein Scherz, sondern etwas Gefährliches und Monströses. Dabei ist der Betroffene selbst nicht nur nach Blut dürstender Täter, sondern gleichzeitig hilfloses Opfer der Verwandlung, die sich vollständig seiner bewussten Kontrolle entzieht. Der Werwolf ist ein «defector from the social contract, one who can transform himself into something that is primeval and outside convention in both form and morality».9 Die Dechiffrierbarkeit des Werwolfs als Metapher für AIDS sowie für die Repression gegenüber queerer Sexualität ist an anderer Stelle bereits ausführlich adressiert worden.10 Sein Stören der gesellschaftlichen Ordnung geht über das harmlose Mass von Experimentieren, jugendlicher Rebellion und Punk hinaus. Daher kann auch die Verbindung von Lupin mit Tonks nur wenig überzeugen – kaum unterschiedlicher könnten die Figuren hinsichtlich ihres Alters, Blicks auf die Welt oder ihres Lebensentwurfs sein. In der Konsequenz kann ein Happy End diesem aus zwei queeren Individuen bestehenden Paar, das eine irritierend heteronormativ-konventionelle Form der Beziehung versucht, daher nicht beschieden sein.

Die Möglichkeit der Verwandlung ist in der magischen Welt aber nicht nur diesen Figuren vorbehalten: Vielsafttrank ist ein Gebräu, mit dem sich jede Person, die es einnimmt, für einen begrenzten Zeitraum optisch in eine andere Person verwandeln kann. Nicht nur Harry und seine Freunde, sondern auch ihre Gegenspieler setzen den Trank an verschiedenen Stellen ein. Die auf die Einnahme des Tranks folgenden körperlichen Verwandlungen sind nicht nur ein dankbares Moment, um die visuellen Qualitäten des Films und seiner Spezialeffekte auszuspielen, sie steigern durch geschickte Verwirrspiele auch die narrative Komplexität der Handlung. Herausgegriffen sei an dieser Stelle der Beginn von Harry Potter and the Deathly Hallows: Part I (David Yates, GB/US 2010), wo der Vielsafttrank Teil eines Tricks wird, um Harry unbemerkt von Voldemorts Schergen in ein sicheres Versteck zu bringen. Zu diesem Zweck finden sich sieben Hexen und Zauberer ein, die freiwillig Vielsafttrank konsumieren, um dann in Harrys Körper transformiert als Lockvögel agieren zu können (Abb. 3).

Eine exponierte Inszenierung in der Verwandlungsszene findet hier insbesondere bei der Transformation der hübschen und eleganten Fleur Delacour statt, die – gerade frisch mit Bill Weasley verlobt – prototypisch für heteronormative Weiblichkeit stehen kann. Hier zeigt sich die inhärent queere Qualität von Verwandlung sehr deutlich. Für Fleur sind sowohl der Akt der Transformation als auch ihr neuer (Harrys männlicher) Körper mit Scham behaftet. Dieser Effekt wird noch verstärkt, weil die Verwandlung nur den Körper, nicht aber die Kleidung betrifft. Demzufolge trägt Fleur nach ihrer Verwandlung in Harrys Gestalt noch ihren Büstenhalter. Hieraus resultiert eine travestitische Gleichzeitigkeit von Weiblich- und Männlichkeit im Bild, die mit konventionellen Vorstellungen von unverrückbaren, eindeutigen Geschlechtsidentitäten bricht. Gemäss der Erfüllung ihres Rollenbilds wendet Fleur in einer passivierenden Geste den Blick ab, wird zum Objekt und sagt verzweifelt: ‹Bill, look away, I’m hideous!› (Abb. 4). Doch da ein Blicktabu meist eine implizierte Aufforderung zum Gegenteil, nämlich zum aktiven Hinschauen, ist und Fleur anders als die anderen Doppelgänger, die sich unscharf im Bildhintergrund bewegen, in exponierter Weise im Bildkader platziert wird, sind ihre Abscheu und Scham Weisungen zum Ansehen. Somit wird nicht nur Harrys Körper über den Umweg der Verwandlung objektiviert und zum Gegenstand der Schaulust, sondern gleichermassen der travestitische Körper.

Alles bleibt, wie es ist?

Die beiden ausführlicher beschriebenen Beispiele der Figur Tonks und der Sieben-Potter-Szene sollten nicht nur exemplarisch verdeutlichen, dass Verwandlung ein zentraler Topos der Harry Potter-Filmsaga ist und seine Inszenierung einen hohen Stellenwert einnimmt, sondern dass sich in der magischen Welt – im Gegensatz zur nicht magischen Welt der Muggel – alles im Fluss befindet und permanent die Frage gestellt werden muss, inwiefern das, was man sieht, echt oder beständig ist. Diese Variabilität und fehlende Konstanz haben zur Folge, dass, in einen queertheoretischen Blick genommen, die Wahrnehmung einer generellen queeren Verfasstheit der magischen Welt befeuert wird.

Ausgenommen von den Verwandlungen scheint, wie eingangs bereits erwähnt, Harry selbst zu sein. Auch in der Szene mit den sieben Potters wird sein Körper zwar zum Gegenstand, nicht aber selbst zum Schauplatz der Verwandlung. Harry bleibt hier passiver Beobachter. Auch sonst ist auffällig, dass Harry körperlich kaum reift, sondern kindlich-androgyn bleibt.11 Es ist dieser Rückgriff auf das Konzept des ewigen Knaben – eines Peter Pan gleichen Jünglings, der nie zum Mann heranwächst –, das die Identifikation mit Harry auf der einen Seite erleichtert, andererseits ist Harry das Kind, das durch eine zwangsweise abgesprochene Heterosexualität inhärent queer ist: Betrachtet vom Standpunkt ‹normaler› Erwachsener ist das Kind «always queer. It is ‹homosexual› [...] or, despite our culture’s assuming every child’s straightness, the child can only be ‹not-yet-straight›, since it, too, is not allowed to be sexual. This child who ‹will be› straight is merely approaching while crucially delaying [...] the official destination of straight sexuality, and therefore showing itself as estranged from what it would approach.»12 Das Sexualitätsverbot und die Negation von sexuellem Begehren in Bezug auf das Kind führen zu seiner queeren Disposition nach heteronormativen Massgaben. Dass für den puer aeternus Harry Potter dieses Ziel zunächst nicht vorgezeichnet scheint, lässt ihm eine Offenheit, die immanent queer ist. Weil er aber bis zum Sieg über Voldemort keinen Wandlungsprozess hin zu einem heterosexuellen oder zu einem queeren Erwachsensein vollzieht, den das Publikum hätte begleiten können, befindet er sich auch in einer Art Limbus, der ihn von der sich stetig wandelnden magischen Welt abgrenzt.

Ausgehend von der Beobachtung also, dass Harry in seiner Kindlichkeit von Wandlungsprozessen ausgenommen ist, muss im Hinblick auf die Szene mit den sieben Lockvögeln umso nachdrücklicher festgehalten werden, dass er selbst keine instabile Identität aufweist, sein eigener Körper in diesem Moment unverwandelt bleibt und er mehr als aussenstehender Beobachter dem Prozess beiwohnt. Harry bleibt, wie er ist; es sind die Körper der anderen Figuren, die transformiert werden. Spannend ist aber, dass die Sequenz impliziert, Harrys Körper sei ein Ort, der objektiviert und der sich aktiv angeeignet werden kann – sowohl von Frauen als auch von Männern. Dies hat nicht nur Konsequenzen für Harrys Status als Subjekt/Objekt. Es verhält sich auch deckungsgleich mit anderen Faktoren der Uneindeutigkeit, die Harry definieren. So zeigen auch andere Beispiele – wie etwa, wenn Draco Malfoy sich auf der Karte des Rumtreibers Harrys Blick und damit auch seiner Macht entzieht –, dass Harrys für die Heldenfiguren des Fantasygenres sonst so typischer Status als männlicher Held und als Subjekt nicht dauerhaft oder selbstverständlich ist. Tatsächlich ist er Gegenstand vieler Aushandlungsprozesse. Auch andere Faktoren weisen auf eine Gleichzeitigkeit von Weiblich- und Männlichkeit in der Figur Harry Potters hin, die ihr eine konsequente Uneindeutigkeit einschreibt, welche ganz unabhängig von tatsächlichen körperlichen Verwandlungen oder Attributen gegeben ist. Zu nennen sind hier beispielsweise Harrys biblisch anmutende Beziehung zu Schlangen und die offensichtliche Penetrierbarkeit seines Körpers. Diese kommt insbesondere in der durch Voldemort zugefügten Blitznarbe auf Harrys Stirn zum Ausdruck, aber manifestiert sich auch bei der Strafarbeit mit Umbridge oder im Okklumentikunterricht mit Snape. Beim Nachsitzen bei Umbridge in Harry Potter and the Order of the Phoenix ist Harry gezwungen, mit einer magischen Feder immer wieder den Satz ‹I must not tell lies› aufzuschreiben, der sich dann als tiefe Verletzung direkt vom Pergament in seine Haut einschreibt. Im Okklumentikunterricht sind es seine Gedanken und Erinnerungen, in die von Snape auf geradezu brutale Weise eingedrungen wird, bis sich Harry wehren kann und umgekehrt den Geist seines Lehrers penetriert. So übernimmt Harry schliesslich die Kontrolle über die Situation. Gleichzeitig besitzt er eine aussergewöhnliche Macht über bestimmte hypermaskuline Objekte, wie das Schwert Godric Gryffindors, mit dem er den Basilisken in Harry Potter and the Chamber of Secrets (Chris Columbus, GB/US 2002) besiegt; als Champion im Quidditchspiel ist er Beherrscher des phallischen Besens und schliesslich umso mehr noch Meister des mächtigen Elderstabs in seiner Funktion als ultimativem Phallus. Hinzu kommt, dass Harry nicht nur diametrale Konzepte von Geschlecht in sich vereint – da ihre Gleichzeitigkeit keinerlei Identitätskrisen oder -konflikte auslöst, bringt er sie miteinander in Einklang.

Der Protagonist ist von Verwandlungen also nicht etwa ausgenommen, weil er starr für einen bestimmten Männlichkeitsentwurf oder für eine normative sexuelle Orientierung steht, sondern weil ihm nichts Konkretes, sondern etwas dauerhaft Unkonkretes, andauernd Unterdeterminiertes immanent ist. Er muss sich nicht verwandeln, um (auch) queer zu sein. Harry kann immer für alles stehen. Hierin gründet letztlich sein Triumph. Denn so ist es doch sein Kontrahent Voldemort, der eine absolut determinierte Welt- und Werteordnung der sogenannten Reinblüter anstrebt, der er wiederum selbst aufgrund seiner Abstammung und andauernden Transformation nicht genügen kann. Sein Fall erscheint daher tatsächlich unausweichlich. Dass Voldemort, der selbst als Sohn einer Hexe und eines Muggels geboren wurde, der seine Seele aufgespalten und in diverse Objekte verteilt hat, der in diversen Erscheinungsformen auftritt, nach einer kohärenten Struktur strebt, die er der magisch-queeren Welt überstülpen will, ist mehr als vermessen. Harry wiederum akzeptiert und repräsentiert ihre Vielheit, wobei er eben gleichzeitig über ihre Spannungs- und Konfliktpotenziale erhaben ist.

Welcome to heteronormativity, Harry

Seit ihrem ersten Zusammentreffen im Hogwartsexpress war Harrys Begleitern Ron und Hermine ein gemeinsames heteronormatives Eheglück vorgezeichnet. Doch obwohl sich Harry einer geschlechtlichen Eindeutigkeit und dem Erwachsenwerden widersetzte, wird auch er am Ende der Saga abrupt in eine heteronormative Erfüllung überführt (Abb. 5), indem er die Schwester seines besten Freundes Ron heiratet und mit ihr eine Familie gründet – eine Entscheidung, die in weiten Teilen der Fancommunity mit Missfallen aufgenommen wurde. Dramaturgisch wirkt sie ungelenk und inkonsistent; der zeitlich viel später angesiedelte Epilog von Harry Potter and the Deathly Hallows: Part II (David Yates, GB/US 2010) kommt hölzern daher und schliesst wie ein künstlich angeklebtes Anhängsel an die sonst so fliessend ineinandergreifenden Episoden an.

Wo Hetero-Harry ein fades und wenig überzeugendes Happy End beschieden ist, ist dies eigentlich widersprüchlich zur eben skizzierten Essenz seines Sieges über Voldemort. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht nur Voldemort, sondern auch die Mehrzahl der anderen ihn umgebenden Figuren, deren Identitäten nicht unterdeterminiert waren, sondern die sich in einem Prozess andauernder Verwandlung befanden, zum Scheitern verurteilt werden. Denn am Ende müssen sie sterben und können, wie etwa Lupin und Tonks oder gar Albus Dumbledore,13 kein Teil der neuen gesellschaftlichen Ordnung nach Voldemort werden, die doch eigentlich gerade Platz für eben jene radikale Offenheit geboten hätte. So scheint die Kritik von Pugh und Wallace, das queere Potenzial von Harry Potter bliebe oberflächlich und im Endeffekt würde jegliche Subversionskraft durch das Heilsversprechen der Heteronormativität ausgelöscht, durchaus berechtigt.14 Nach Voldemorts Fall bleibt kein «room for diversity, for single or same-sex parents: traditional family values are permanent»15. Und plötzlich sind magische Welt und Muggelwelt nicht mehr zu unterscheiden. Um zu ermitteln, inwiefern sich Voldemorts Weltordnung von den tatsächlichen Strukturen und Hierarchien unterschieden hätte, die sich nach seinem Fall etablierten, lässt sich leider anhand der wenigen Informationen aus dem Epilog kaum ausmachen. Fest steht nur: Es herrscht nach wie vor das gleiche Lagerdenken, queere Figuren fehlen und Harry – nun seinem produktiven Zwitterwesenstatus entrissen – verkörpert plötzlich den idealtypischen Repräsentanten von Voldemorts reinblütiger Herrenrasse.

Der daraus resultierende Effekt ist eine kaum quantifizierbare Fülle an Anschlusskommunikation im Internet, die der dominanten Lesart entgegenschreibt und entweder Harry oder den queeren Gescheiterten der Saga andere Perspektiven offeriert. In Gestalt von sogenannter Fanfiction und Fanart – nicht selten explizit mit dem Kürzel EWE, das für Epilogue? What Epilogue? steht, gekennzeichnet – wird die Harry Potter-Saga ihrerseits wieder zum Ausgangspunkt weiterer Transformationsprozesse durch Fans, wenn diese Harry Potter nutzen, um ihren Wünschen, Vorstellungen und ihrem Begehren (auch nach queerer Erfüllung) durch eine Verwandlung des vorliegenden Materials Ausdruck zu verleihen. Ausgehend von der Hypothese, dass Verwandlung das zentrale Thema von Harry Potter sei, erscheint die Existenz dieser Fülle an Fantexten nicht nur folgerichtig, sondern unausweichlich. Der Harry Potter-Stoff will verwandelt werden, er ist für ein rhizomatisches Weiterwachsen gemacht. Und wenn wir Körper, die sichtbare Zeichen der Transformation tragen, als queere Körper begreifen, müssen wir dann nicht auch Texte wie Harry Potter-Fanfiction, die unverhohlen Bücher wie Filme transformieren und zu einem neuen Werk zusammenfügen, als queere Texte begreifen? Daran anschliessend muss ausserdem gefragt werden, ob dann nicht eben genau diese queeren Texte den Maximen der Vorlage viel enger verbunden sind als der eigentliche Epilog.

Vgl. Michael K. Johnson, «Doubling, Transfiguration, and Haunting: The Art of Adapting Harry Potter for Film», in: Giselle Liza Anatol (Hg.), Reading Harry Potter Again: New Critical Essays, Santa Barbara/Denver/Oxford 2009, S. 207–221, hier S. 213.

Kerstin Brandes, «Queer/ing Kunst und Visuelle Kultur», in: Martin Schneider/Marc Diehl (Hg.), Gender, Queer und Fetisch: Konstruktion von Identität und Begehren, Hamburg 2011, S. 68–90, hier S. 77.

Shelley Bess Chappell, Werewolves, Wings, and Other Weird Transformations: Fantastic Metamorphosis in Children’s and Young Adult Fantasy Literature, Sydney 2007, S. 237.

Karen Barad, «Die queere Performativität der Natur», in: dies., Verschränkungen, Berlin 2015, S. 115–171, hier S. 124.

Vgl. David M. Halperin, Saint Foucault: Towards a Gay Hagiography, Cambridge 1995, S. 62.

Vgl. Annamarie Jagose, «Queer Theory», in: Australian Humanities Review 4, 1996.

Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick, Between Men: English Literature and Male Homosocial Desire, New York 1985; Alexander Doty, Flaming Classics: Queering the Film Canon, London/New York 2000.

Vgl. Judith Butler, Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, New York 1990; Judith Butler, «Critically Queer», in: GLQ 1 (1), 1993, S. 17–32.

Siamak Tundra Naficy, «The Werewolf in the Wardrobe», in: Neil Mulholland (Hg.), The Psycho­logy of Harry Potter, Dallas 2006, S. 207–219, hier S. 211.

Vgl. Naficy (wie Anm. 12); Tison Pugh/David L. Wallace, «Heteronormative Heroism and Queering the School Story in J. K. Rowling’s Harry Potter Series», in: Children’s Literature Association Quarterly 31 (3), 2006, S. 260–281, hier S. 267f.; Vera Cuntz-Leng, «Six Times Trouble: Queering the DADA Teachers», in: Luigina Ciolfi/Gráinne O’Brien (Hg.), Magic Is Might 2012: Proceedings of the International Conference, Sheffield 2013, S. 172–180, hier S. 175/176.

Vgl. bspw. Lisa Damour, «Harry Potter and the Magical Looking Glass: Reading the Secret Life of the Preadolescent», in: Giselle Liza Anatol (Hg.), Reading Harry Potter: Critical Essays, Westport 2003, S. 15–24, hier S. 21; Maria Nikolajeva, «Harry Potter and the Secrets of Children’s Literature», in: Elisabeth E. Heilman (Hg.), Critical Perspectives on Harry Potter: Second Edition, London/New York 2009, S. 225–241, hier S. 236f..

Kathryn Bond Stockton, The Queer Child, or Growing Sideways in the Twentieth Century, Durham 2009, S. 7.

Vgl. zu Albus Dumbledore, den die Autorin Joanne K. Rowling in einer Pressekonferenz nach Abschluss der Saga als homosexuelle Figur geoutet hatte, im Kontext queerer Sexualität bspw. Catherine Tosenberger, «‹Oh my God, the Fanfiction!› Dumbledore’s Outing and the Online Harry Potter Fandom», in: Children’s Literature Association Quarterly 33 (2), 2008, S. 200–206.

Vgl. Pugh/Wallace (wie Anm. 10), S. 276.

Nikolajeva (wie Anm. 11), S. 238.

Vera Cuntz-Leng
*1979, Dr. des., Studium der Film- und Thea­terwissenschaft in Mainz, Wien und Marburg, Promotion am Institut für Medienwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen, seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philipps Universität Marburg und leitende Redakteurin der Zeitschrift MEDIENwissenschaft: Rezensionen | Reviews. Zu­letzt erschien von ihr Creative Crowds: Perspektiven der Fanforschung im deutschsprachigen Raum im Darmstädter Büchner-Verlag.
(Stand: 2017)
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