BETTINA SPOERRI

MERZLUFT (HEINZ BÜTLER)

SELECTION CINEMA

Zu Klaus Merz’ Auszeichnung mit dem Gottfried-Keller-Preis 2004 prägte der Literaturwissenschaftler Peter von Matt in seiner Laudatio das Wort «Merzluft»: Der Schriftsteller werfe «seine Leser vom Allernächsten ins Weite und vom Weitesten zum Allernächsten. Immer ist diese Bewegung da, dieser Sprung, der etwas aufreisst und Luft hereinströmen lässt: Merzluft.» Heinz Bütlers Dokumentarfilm referiert mit seinem Titel auf diese Charakteristik von Merz’ Schreiben und hat offenkundig in der filmischen Konzeption auf sie Bezug genommen. Anders als in Biopics mit absehbarem Verlauf findet in Bütlers Film immer wieder der Sprung vom Nahen, Greifbaren, Sichtbaren ins Verborgene, Erinnerte, Imaginierte oder auch umgekehrt statt. Er setzt sich aus zwei Ebenen zusammen: zum einen Autofahrten, oft im Nebel, durch die Aargauer Landschaft, in der Merz aufgewachsen ist und heute lebt, Waldrändern, Feldern und Wiesen entlang oder durch Ortschaften, zu Häusern, die Ankerpunkte bilden, mit und ohne den Schriftsteller am Steuer. Damit kombiniert sind ein Fachgespräch unter den Herausgebern einer Hörbuch-Anthologie mit Merz-Texten, Interviews mit Klaus Merz, während derer er auch anhand von Fotografien aus seinem Leben erzählt, und Aufnahmen aus dem Tonstudio.

So verdichtet sich allmählich das Bild eines Kosmos, der in der Enge die Weite findet und die Weite in einer sprachlichen Präzision reflektiert, in Luzidität und Stringenz seinesgleichen sucht. Momente aus Merz’ Biografie – seine Beziehung zur Kindheits-Topografie, zu seiner Familie, zu seinem behinderten Bruder – existieren in dem Film konsequenterweise nur in Bezug auf sein literarisches Schaffen. Es sei das Wesen der Dinge, nicht die Dinge, die es im Schreiben hervorzutreiben gelte, sagt Klaus Merz einmal im Gespräch, und es ist diese Art von Paradox – eine hellwache Traumversunkenheit – in seinen Texten, die sich auch in der Diskussion der Hörbuch-Editoren widerspiegelt.

Die Inszenierung dieser Gesprächsrunde ist zwar visuell eine eher spröde Angelegenheit, und die Reproduktionen der besprochenen Textbeispiele quer durch Merz’ Schaffen sind oft zu kurz sichtbar, als dass man gleich mitdenken könnte. Und doch vermögen die Mitglieder der Experten-Runde – Manfred Papst (Feuilletonchef NZZ am Sonntag), die Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji, Peter von Matt, der Aargauer Autor Markus Bundi und der Schauspieler Robert Hunger-Bühler – in ihrer Faszination für die Texte und mit ihren sorgfältig-liebevollen Lektüren in we­nigen Zeilen komplexe Bilder kunstvoll verdichteter Erfahrungen und Erinnerungen aufblitzen zu lassen. Die Antenne des Radio Be­romünster war für Klaus Merz und seinen Bruder der Trichter, durch den die Welt zu ihnen kam – Merzluft ist seine Antwort.

Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]