DORIS SENN

NUVEM NEGRA (BASIL DA CUNHA)

SELECTION CINEMA

Und wieder kehrt Basil Da Cunha, der junge Wilde unter den Westschweizer Filmemachern, in die Favela Reboleira zurück – in dieses kreolisch geprägte Viertel im Herzen Lissabons, das von mittellosen Familien, Rand­ständigen, Kiffern, Musikern bewohnt wird. Schon früher stand Reboleira im Zentrum der Filme Da Cunhas, so etwa in seinem Kurzfilm Nuvem (2011) oder in Até ver a luz (2013), seinem Langfilmdebüt, das in Cannes Premiere feierte. Mit Nuvem negra widmet der portugiesischstämmige Da Cunha der Siedlung, die nun dem Untergang geweiht ist, und ihren Bewohnern mit kräftigen Pinselstrichen ein dokumentarisches Kurzporträt.

Zu dessen Protagonisten gehören etwa Toni mit seinem caramelbraunen Teddybären, seinem Gefährten und Glücksbringer. Der Realität entrückt, beschwört Toni die titelgebende «schwarze Wolke», seine Geliebte, seine Göttin, und prophezeit den Weltuntergang. Währenddessen müssen die Bewohner, gross und klein, zusehen, wie ihre Häuser eins nach dem andern für ein Autobahnprojekt Platz machen müssen: Häusliche Einrichtungen werden zertrümmert, Mauern herausgebrochen, Bagger reissen Dächer und Wände ein. Die dort zu Hause waren, fühlen sich ohnmächtig: Hier diskutiert eine Runde resigniert und folgenlos über das «Was wird?», das «Was wäre, wenn …» und «Wer sollte was» – da werden die noch feinen Bande einer Freundschaft zwischen einem Mädchen und einem Jungen zerrissen durch den Umzug der Familie. Dort fand Da Cunha auch das Setting für die beiden kapverdischen Musiker Lula’s und Bilan, deren wunderbar psychedelischer Sound den Film passagenweise untermalt.

Nuvem negra gibt einen skizzenhaften, atmosphärischen Einblick in das Leben des Viertels und lässt kleine Geschichten ihren Anfang nehmen. Basil da Cunha, der wie immer das Drehbuch schrieb, zeichnet hier auch für Schnitt und Kamera verantwortlich. In seinen Aufnahmen spielt er mit Licht und Dunkel, er taucht seine Bildkader in tiefstes Schwarz, aus dem sich unmerklich Figuren herausschälen, blendet uns durch kleine Lichtquellen im Stockfinsteren – um unvermittelt ins gleissende Sonnenlicht zu wechseln. Mal umkreist die Kamera schwebend seine Hauptfiguren, mal mischt sie sich bewegt unter die Kartenspieler, die zwischen Alkohol und Marihuana über Zukunft und Apokalypse, über Politik und Evolution disputieren. Der Film, der für das Centre d’Art Contemporain in Genf produziert wurde, endet in einer Reihe fixer Einstellungen und hält die zahlreichen Menschen der Favela fest – die letzten Bewohner und Bewohnerinnen einer gegen ihren Willen in Auflösung begriffenen Welt. «Das Leben hat ein Ende gefunden», meint Toni und beschliesst mit einem verkniffenen Schmunzeln den Film.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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