THOMAS HUNZIKER

SCHELLEN-URSLI (XAVIER KOLLER)

SELECTION CINEMA

Zumindest am Chalandamarz zählt nur die Grösse. Den Umzug des traditionellen Unterengadiner Frühlingsfests führt nämlich derjenige Knabe an, der die grösste Kuhglocke trägt. Weltberühmt wurde der Brauch durch die Geschichte «Schellen-Ursli» von Autorin Selina Chönz und Illustrator Alois Carigiet. Sie erzählen vom kleinen Ursli, der für den Chalandamarz nur noch eine kleine Kälberschelle erhält und deshalb von den anderen Buben im Dorf als «Schellen-Ursli» ausgelacht wird. Doch das lässt der wagemutige Junge nicht auf sich sitzen. Er erinnert sich an eine riesige Glocke, die hoch über dem Bergdorf in einem Maiensäss hängt. Kurzentschlossen macht er sich auf den Weg, lässt sich vom feuchten Schnee nicht aufhalten und führt am nächsten Tag triumphierend den Umzug der Kinder an.

So erzählt es das Bilderbuch, das mittlerweile neben «Heidi» zu den populärsten Kindergeschichten der Schweiz zählt. Doch während der Roman von Johanna Spyri bereits unzählige Male für Kino und Fernsehen bearbeitet wurde, gab es vom Bilderbuch über Schellen-Ursli bisher nur einen Kurzfilm von Ulrich Kündig (CH 1964). Der einfache Grund dafür: Die Handlung reicht im Grunde nicht für einen abendfüllenden Film aus. Trotzdem wurde nun «nach dem gleichnamigen Buch-Klassiker» ein 100-minütiger Kinofilm realisiert. Regisseur Xavier Koller, der zusammen mit Stefan Jäger für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, hat die Reise zum Maiensäss und zurück mit einer ausführlichen Rahmenhandlung ausgestattet. Darin geht es unter anderem um den Käse, der beim Alp­abzug in eine Schlucht stürzt. Der diebische Gemeindepräsident fischt ihn aus dem Bach und versteckt ihn heimlich bei sich im Keller. In der Folge bemüht sich Uorsin (im Film wird die Engadiner Variante des Namens verwendet), das Geheimnis aufzudecken.

Die Handlung des Kinofilms Schellen-Ursli entfernt sich ziemlich weit von der Vorlage. Vom Charme und der reizenden Naivität ist nicht mehr viel vorhanden. Stattdessen pendelt die Erzählung zwischen finsterem Sozialdrama mit hungernden Bauern und kitschiger Bergromantik hin und her. Da wähnt man sich manchmal fast in einer weiteren Verfilmung von «Heidi». Zumindest haben die Filmemacher viel Wert auf eine möglichst stimmungsvolle Ausstattung gelegt, die stark an die Illustrationen von Carigiet angelehnt ist. Auch die Sprache mit den vielen Einsprengseln rätoromanischer Sprache trägt zu einer authentisch wirkenden Lokalisierung bei. Doch all diese Vorzüge täuschen nicht darüber hinweg, dass die gradlinige Geschichte aus der Vorlage von der Rahmenhandlung regelrecht erdrückt wird. Fast wie von der Lawine, die gegen Ende des Films auf das Dorf herunterdonnert.

Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)
www.schueren-verlag.de
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