THOMAS HUNZIKER

WANDELZEIT – EINE GLETSCHERPERFORMANCE (JAN-ERIC MACK)

SELECTION CINEMA

Weiss ist das erste Bild. Weiss ist auch die Hauptfigur: die Schneemasse des Brunnfirns. Tief hängende Wolken sorgen zu Beginn für eine mysteriöse Eintönigkeit auf der Leinwand. In den nächsten Aufnahmen lösen sich die Wolken langsam auf. Beeindruckende, tief verschneite Felshänge erfreuen den Blick. Ein Helikopter transportiert eine Ladung mit grossen weissen Rollen. Doch das geheimnisvolle Projekt verzögert sich vorerst. Zwei Gestalten führen ein Gespräch und einigen sich auf einen nächsten Termin. Über den Felsgipfeln ziehen düstere Wolken vorbei, es donnert. Bei einer Berghütte zerreissen beinahe die im Wind wehenden Fahnen.

In den nächsten Szenen ändert sich das Bild. Zwei Personen führen eine Messung auf dem Schneefeld durch. Der strahlend blaue Himmel wird nur noch durch die Kondensstreifen eines Düsenjets durchtrennt. Eine Gruppe von Menschen beginnt mit der Arbeit, schlägt Holzpflöcke in den Schnee und rollt ein weisses Vlies ab. Sinn und Zweck der Aktion verschliesst sich dem Publikum weiterhin.

Regisseur Jan-Eric Mack zeigt in seinem Dokumentarfilm Wandelzeit – eine Gletscherperformance kommentarlos zuerst die arbeitenden Menschen, die auf dem Gletscher eine ungewöhnliche Installation anbringen. Danach folgt die noch eindrücklichere Inszenierung derer Folgen. Die Energie der Sonne entfaltet langsam ihre Wirkung, bringt den Gletscher ins Schwitzen. Wenige Tropfen sammeln sich zu einem Rinnsal, das zunächst sanft vor sich hin plätschert. Schliesslich stürzt sich das Wasser in Bächen wuchtig die Felshänge hinunter. Dann folgt die Kamera dem umgekehrten Weg: Das Bachbett ist jetzt von grünen Wiesen und Kiesfeldern gesäumt. Zuletzt die Enthüllung: Auf dem Gletscher lässt ein etwa zwei Meter hoher Tisch aus Schnee erahnen, wie viel Wasser in den letzten sechs Wochen abgeschmolzen ist. Wanderer bestaunen die Skulptur und vergnügen sich am temporären Mahnmal, das rund 3 Millionen Liter Wasser gespeichert hat.

Die Voraussetzung für den bildgewaltigen Film bildet die prächtige Kulisse: In einer aus majestätischen Bergriesen gebildeten Arena beobachteten Regisseur Mack und sein Kameramann Aurelio Buchwalder die emsigen kleinen Menschen auf einer reinen Leinwand aus weissem Schnee. Die Filmemacher transformierten diese Komponenten in reizvolle Bilder und komponierten aus exakten Nahaufnahmen und schwebenden Weitwinkelpanoramen eine gefühlvolle Sinfonie der Vergänglichkeit. Folgerichtig wurde das visuell betörende Werk an den Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur mit dem Schweizer Kamerapreis ausgezeichnet. Ausserdem erhielt Mack den Kurzfilmpreis der Stadt Winterthur.

Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)
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