STEFAN STAUB

SPARTIATES (NICOLAS WADIMOFF)

SELECTION CINEMA

Der Kampfsport als Lebensschule ist ein beliebtes Thema im Spielfilm. Der Lehrer wird dabei oft nicht nur als Meister der Kampfkunst dargestellt, sondern als einer, dem die Ausbildung des Geistes seines Schülers genauso am Herzen liegt. Yvan Sorel hat sich diese Idee wohl zum Vorbild genommen, als er sich dazu entschloss, in Marseilles Quartiers Nord eine eigene Kampfschule zu gründen. In der Ausbildung seiner «Spartiaten» ist ihm Respekt und Toleranz ebenso wichtig wie Wille und Disziplin. Zwar muten seine Erziehungsmethoden mitunter martialisch an – einem seiner Schüler droht er, den Kopf «abzureissen», wenn er seine Hausaufgabe nicht pflichtgemäss erledige –, doch gibt er den unterprivilegierten Jugendlichen auch eine Perspektive, die ihnensonst keiner bieten kann.

Regisseur Nicolas Wadimoff ist mit seiner Kamera immer nah dran am Geschehen. In der Tradition des Direct Cinema zeichnet er das intime Porträt eines Mannes, dessen unbändige Willenskraft und Courage ansteckend wirken. Wadimoff bedient sich dabei einer Dramaturgie, die stark an den Spielfilm erinnert. Der Verzicht auf Interviews und Off-Kommentar tragen zusätzlich dazu bei, dass der Zuschauer die Gefühle und Handlungen des Protagonisten ähnlich unmittelbar wie in einem Spielfilm erlebt und dass dessen innere und äussere Kämpfe emotional erfahrbar werden.

Ob beim Training unter Freunden oder in Sitzungen mit lokalen Politikern, unermüdlich wirbt Yvan Sorel für die Anerkennung seines Sports und seiner Arbeit als Ausbildner. Dafür stellt er auch mal seine eigene Kampfsportkarriere zurück. Dass er dabei hin und wieder auch mit sich selbst hadert, macht ihn umso menschlicher. Seinen emotionalsten Moment findet der Film denn auch nicht etwa im Ring, sondern als Sorel seinen Freunden unter Tränen erzählt, wie sehr er es bereut, seine verstorbene Mutter wegen eines Wettkampfes vor ihrem Tod nicht mehr besucht zu haben. Auf diese Weise entsteht nach und nach das Bild einer vielschichtigen Persönlichkeit.

Spartiates reiht sich nahtlos in Wadimoffs filmisches Schaffen ein, das sich durch einen humanistischen Blick auf gesellschaftlich und politisch relevante Themen auszeichnet. Geradezu bezeichnend dafür ist auch die Schlussszene des Filmes, in der Sorel seinen Schülern eine bemerkenswerte Lektion in Toleranz und Sportlichkeit erteilt: Alle Menschen sind gleich, unabhängig von Religion oder Hautfarbe, alle Menschen haben den gleichen Respekt verdient und auch wenn man seinem Gegner im Kampf beinahe den Kopf ‹abreisst›, geht man danach trotzdem gemeinsam eine Cola trinken.

Stefan Staub
*1980 in Bern, studierte Publizistik, Film­wissenschaft und Sozialpsychologie an der Universität Zürich. Zweieinhalb Jahre Promotion und Pressearbeit für Frenetic Films. Fortbildung an der Drehbuchwerkstatt München (2010/11), war in verschiedenen Funktionen für die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur und die Solothurner Filmtage tätig, arbeitet seit 2014 als freischaffender Drehbuchautor und ist seit 2016 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2019)
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