ROWENA RATHS

«PRIX DE SOLEURE» – DIE 52. SOLOTHURNER FILMTAGE

FESTIVALBERICHTE


Drei Tage hatte ich mir dieses Jahr für die Solothurner Filmtage Zeit genommen. Nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Programm habe ich den Entschluss gefasst, mich dem 2009 ins Leben gerufene ‹Prix de Soleure› zu widmen. Ein gewagtes Vorhaben, wie sich herausstellte, zeitlich wie auch psychisch. Drei intensive Tage voller Emotionen und Zeitdruck. Drei Tage zwischen Zürich und Solothurn hin und her pendelnd.

Für den ‹Prix de Soleure› werden jährlich zwischen fünf und zehn Filme nominiert – dieses Jahr
zehn! –, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen und sich gesellschaftlichen Fragen widmen. Diese ausgewählten Filme sollen mit ihrem ausgeprägten Humanismus überzeugen. Zehn Filme in drei Tagen sind ziemlich zeitintensiv. Trotzdem habe ich mich von meinem Vorhaben - nach einer kürzeren Krise am zweiten Tag - nicht abbringen lassen.

Unter den diesjährigen zehn nominierten Filmen handelt es sich bei acht um Dokumentarfilme. Ebenfalls acht von zehn Filmen behandeln sehr schwere Kost. Alle zehn Filme stellen den Menschen und gesellschaftliche Fragen in den Mittelpunkt. Bei den Dokumentarfilmen ist die gesellschaftliche Relevanz offensichtlicher, doch auch die beiden Spielfilme rücken die Aufmerksamkeit auf gesellschaftliche ‹Problemzonen›. Im Mittelpunkt steht das Zusammenleben und die damit aufkommenden Probleme. Die nominierten Filme beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Minderheiten: Christen in Ägypten, Prostituierte, Kinder inhaftierter Eltern oder Schweizer Frauen, die bis 1971 immer noch nicht wählen durften, als eines der letzten europäischen Länder.

Ein Stück Schweizer Geschichte und Prostitution

Mit Die göttliche Ordnung von der in Suhr aufgewachsenen Regisseurin Petra Volpe beginnt meine Reise in die Welt der Solothurner Filmtage. Volpe ist seit 2001 freischaffende Drehbuchautorin und sorgte vor allem 2013 mit ihrem Film Traumland für Aufsehen. Ihr neuer Film Die göttliche Ordnung hat die Solothurner Filmtage in der Reithalle eröffnet – mit Liveübertragung im Landhaus, an der ich dann auch teilgenommen habe. Ein Stück Schweizer Geschichte wird erzählt: der Kampf um das Frauenstimmrecht. Die göttliche Ordnung entpuppt sich als erfrischende und berührende Komödie. Marie Leuenberger (Die Standesbeamtin), zu Beginn eine biedere Hausfrau, macht sich als Nora gegen den Willen ihres Ehemannes im konservativen und von den Umwälzungen der 70er Jahren unberührten Schweizer Dorf für das Frauenrecht stark.

Der zweite Spielfilm unter den zehn nominierten Filmen ist I am truly a drop of sun on earth von der georgischen Regisseurin Elene Naveriani, die in der Schweiz studiert hat und nach wie vor hier lebt. Die Geschichte spielt in Georgien und erzählt von der Liebe zwischen einer georgischen Prostituierten und einem jungen Nigerianer. Naveriani erzählt ihre Geschichte in schwarzweiss und mit wenig Dialog. Im Mittelpunkt stehen zwei Menschen am Rande der Gesellschaft, die gemeinsam versuchen zu überleben. Sie wurde soeben wegen illegaler Prostitution aus dem Gefängnis entlassen und er wollte eigentlich nach Georgia in den USA auswandern und muss nun in einem Land zurechtkommen, das ihm keine Perspektiven bietet. Der Film wird zum Schutz der Protagonisten, die im Film sich selber spielen, nicht in Georgien gezeigt, wie die Regisseurin nach der Filmvorführung berichtet. Der Film enthält erschütternde Szenen. Im Gedächtnis bleibt vor allem die Szene, in der eine ermordete Prostituierte von einem Kran aus dem Schwarzen Meer gezogen wird. Die Szene ist ganz ohne Dialog. Die Figuren bleiben bis zum Schluss flach und schwer zugänglich. Vielleicht ist das auch von der Regisseurin so beabsichtigt, da diese von ihr gezeichneten Menschen für die georgische Gesellschaft unsichtbar sind, im Untergrund der Gesellschaft leben.

Auch die Dokumentation Impasse widmet sich der Prostitution. Der Film ermöglicht einen intimen und persönlichen Blick hinter die Fassade der Prostitution in der Schweiz, ohne dabei ein Gesicht zu zeigen. Mehrere Prostituierte erzählen von ihrer Arbeit auf der Strasse oder in Bordellen. Weil kein Gesicht gezeigt wird, fällt es leider auch schwer, sich mit den unsichtbaren Protagonistinnen zu identifizieren und einen emotional zu berühren.

Von der Landesenteignung in Kambodscha

Mirr erzählt die berührende und wahre Geschichte von Binchey und seiner Familie in Kambodscha, die von den Plantagenbesitzern von ihrem letzten Feld vertrieben werden. Künftig soll Kautschuk auf diesem Feld gewonnen werden. Der Regisseur Mehdi Sahebi, der seit 1983 in der Schweiz lebt, ist studierter Ethnologe, was in seinem Dokumentarfilm gut spürbar ist. Denn er erzählt mit grosser Sorgfalt. Jahrelange Forschungsarbeit macht sich erkennbar. Spannend macht den Film vor allem der Einsatz verschiedener Ebenen. So inszeniert Sahebi mit Binchey und anderen Dorfbewohnern die Geschichte der Landenteignung durch Plantagenbesitzer vor der Kamera. Szenen werden also nachgespielt. Sahebi mischt gekonnt Fiktion mit Dokumentarischem. Da ihre Sprache nicht schriftlich existiert, spielt bei ihnen die mündliche Überlieferung eine wichtige Rolle. Daher überlässt der Regisseur den eindrücklichen Klängen und Liedern mehrere Szenen, die Einblick gewähren in ihre Sorgen und ihren Schmerz über die Landesenteignung, eine weitere Ebene des Films. Berührend ist, was die Landesenteignung bei Binchey und seiner Familie auslöst. Binchey plagen existentielle Sorgen. Er ist verzweifelt und weiss nicht, wie er seine Familie fortan ernähren soll. Er greift immer häufiger zum Alkohol. Verzweifelt macht er sich, begleitet von der Kamera, auf den Weg nach einem neuen Feld. Enttäuscht und mit leeren Händen kehrt er von dieser Reise zurück zu seiner Familie.

Doppelter Schmerz

Mein persönlicher Favorit des ‹Prix de Soleure›: Double Peine von der schweizerisch-kanadischen Regisseurin Léa Pool. Doppelter Schmerz – Pool erzählt am Beispiel von vier Ländern (USA; Kanada, Nepal, Bolivien) von Kindern inhaftierter Eltern. Entweder leiden die Kinder, weil sie ihre Eltern nicht sehen dürfen oder wie im Fall von Nepal und Bolivien, da sie mit ihrer Mutter bis zum Schulalter im Gefängnis leben müssen. Die Kinder sind unschuldig, werden jedoch durch die Straftat ihrer Eltern mitbestraft. Der Einsatz einzelner Menschen ermöglicht es den Kindern, ihre Eltern regelmässig zu sehen, sei das in New York über eine Videokonferenzschaltung oder in Kanada dank eines organisierten Besuchstags. Dank dem unermüdlichen Einsatz einer Frau in Nepal können viele Kinder dem Gefängnis entfliehen und in einem Heim weit entfernt von ihren Müttern mit Gleichgesinnten aufwachsen. Immer wieder lässt Pool von betroffenen Kindern im Jahre 2005 aufgestellte Gesetze einblenden: «Ich habe das Recht mit meinen Eltern zu reden, sie zu sehen und sie zu berühren.» Oder: «Ich habe ein Recht auf Unterstützung – während der Haftzeit meiner Eltern». Pool gelingt es, trotz tief traurigen und erschütternden Fakten, den/die ZuschauerIn voller Hoffnung und Mut zurückzulassen. Dieser Film gibt den unsichtbaren Opfern eine Stimme und macht auf eine filmisch bisher kaum beachtete Thematik aufmerksam – wichtig und erschütternd!

Intim und mutig

Einen intimen und mutigen Einblick gewährt der junge Regisseur Christophe M. Saber mit seiner Dokumentation La vallée du sel. 2012 kehrt er in seinen Semesterferien von der Schweiz zu seinen Eltern nach Kairo zurück. Er befindet sich zum ersten Mal seit Ausbrechen der Revolution in Ägypten. Seine Eltern – die Mutter Schweizerin und der Vater Ägypter – sehen sich mit Todesdrohungen konfrontiert, da sie ein christliches Zentrum aufgebaut haben. Saber gibt Einblick in das Leben seiner Familie, die sich plötzlich in ihrem eigenen Zuhause nicht mehr sicher fühlt und sich mit bisher unbekannten Gefahren konfrontiert sieht. Müssen sie ihre Heimat verlassen und zurück in die Schweiz? Saber filmt viel mit Handkamera. Die Bilder wirken spontan und persönlich. Der Film berührt und lässt einen nachdenklich zurück. Die Zuschauer sind sichtlich berührt und spenden einen tosenden Applaus.

Im starken Gegensatz dazu steht der Dokumentarfilm Almost there. Jacqueline Zünd erzählt vom Leben nach der Pensionierung. Drei Männer begleitet sie auf drei sehr unterschiedliche Reisen mit doch derselben Frage: Worin finden sie Hoffnung und Sinn in ihrem letzten Lebensabschnitt? Visuell sitzt jede Einstellung. Imposante Bilder bietet Zünd dem Zuschauer. Der Film wirkt jedoch auch stark inszeniert. Die Dialoge wirken einstudiert und künstlich. Tatsächlich merkt Zünd am Filmfestival auf die Frage eines Zuschauers an, dass sie jeweils nach langen Gesprächen mit ihren Darstellern die Quintessenz herausarbeitet, welche dann vor der Kamera rezitiert wird. Die Regisseurin legt ihren Protagonisten ihre eigenen Worte sozusagen in den Mund. In Erinnerung bleibt vor allem Dragqueen und Stand-up Comedian Steve, der England hinter sich lässt und in Spanien versucht Fuss zu fassen. In der Nacht unterhält er mit englischem Humor als Dragqueen betrunkene Gäste in einer Bar und geht dann alleine nach Hause zu seinem Hund.

Es wird gelacht

Bei Rue de blamage konnte endlich wieder einmal gelacht werden! Vor allem der Strassenmusiker Daniele sorgt für Heiterkeit. Doch der Reihe nach: Der Film erzählt von einer Strasse am Rande Luzerns – der Baselstrasse. Das Quartier um die Baselstrasse ist heute ein Einwandererquartier. Mehrere Menschen werden porträtiert: Ein älterer Mann, der schon immer an dieser Strasse gewohnt hat, fühlt sich daher heute nicht mehr wohl hier. Ein Künstler beobachtet mit einem Fernglas das Geschehen vor seiner Wohnung auf der «Rue de Blamage» – wie sie von Luzerner genannt wird - und holt sich auf diesem Weg Inspiration für sein nächstes Kunstwerk. Und eben der obdachlose und drogenabhängige Strassenmusiker Daniele, der mit seiner Rolle als Vater ringt und mit seiner sympathischen Art und seinen humorvollen und ehrlichen Liedern die Herzen des Publikums erobert.

Beim nächsten Film, den ich im Presseraum visionieren konnte, ist mir dann wieder nicht zum Lachen zu Mute. Weg vom Fenster – Leben nach dem Burnout beschäftigt sich mit einem ehemaligen Manager, der nach mehrjährigen Wiedereingliederungsmassnahmen immer noch nicht voll arbeitsfähig ist. Matthias N. führt den Zuschauer mit einer Nacherzählung durch sein durchlebtes Burnout und die Zeit danach. Die Dokumentation von Sören Senn zeigt anhand eines Fallbeispiels, wie es zu einem Burnout kommen kann und was für Massnahmen danach ergriffen werden können.

Am Anfang steht ein Schulheft

Cahier Africain von Heidi Specogna schliesst meine Reise ab. Ein schweres und erschütterndes Ende, das unter die Haut geht und mich auf meiner Zugfahrt zurück nach Zürich sehr beschäftigt. Am Anfang der Dokumentation steht ein gewöhnliches Schulheft – ein Cahier. Dieses Schulheft enthält 300 Aussagen von zentralafrikanischen Frauen, Mädchen und Männern. Sie bezeugen, was ihnen 2002 von kongolesischen Söldnern im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen widerfahren ist. Specogna kehrt vier Mal im Abstand von mehreren Jahren nach Zentralafrika zurück, eine Langzeitdokumentation, die sieben Jahre in Anspruch genommen hat. Die Regisseurin besucht immer wieder dieselben Menschen. So zum Beispiel Amzine, eine junge Frau, die als Folge einer Vergewaltigung im Jahre 2002 ihre Tochter Fane auf die Welt gebracht hatte. Die Tochter Fane erinnert ihre Mutter jedoch tagtäglich an die schrecklichsten Stunden ihres Lebens. Der Film berührt mit intimen Portaits und erschüttert zutiefst. Specogna jongliert gekonnt zwischen imposanten Bildern, spannenden Fakten und emotionalen Lebensgeschichten.

Die Gewinnerin

Die Jury, bestehend aus dem Schauspieler Anatole Taubman, dem Diplomaten Cornelio Sommaruga und der freien Filmschaffenden Sabine Gisiger, hat sich für Petra Volpes Film entschieden. Mit Die göttliche Ordnung hat eine erfrischende Komödie gewonnen, die ab März bestimmt viele Besucher im Kino begeistern wird. Volpe gelingt es, mit viel Humor und einem grossartigen Ensemble ein bedeutendes Stück Schweizer Geschichte ins Bewusstsein zu rufen. Obwohl mir der Vergleich verschiedener Genres schwer fällt, ist mein persönlicher Gewinner Léa Pools Double peine, da dieser Film für mich einerseits bedeutende gesellschaftliche Fragen aufwirft und damit ein bisher wenig beachtetes gesellschaftliches Thema ins Bewusstsein rückt. Andererseits bietet der Film dem Zuschauer vier unterschiedliche rechtliche Lagen und deckt somit ein breites Feld ab. Für mich war dieser Film die grösste Überraschung und die grösste persönliche Bereicherung.
Rowena Raths
*1988, Studium der Populären Kulturen und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. War als Filmkritikerin bei semestra.ch tätig. Masterarbeit zum Thema Charity Events, Zwi­schen Standortpolitik und Management der Emo­­tionen im Rahmen eines Nationalfonds­projekts über Eventkultur und Stadtentwicklung. Seit 2016 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2019)
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